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Miroloi von Karen Köhler


MiroloiHeute habe ich Miroloi von Karen Köhler beendet. Ein von der Autorin selbst gestaltetes, wunderschönes Buch.

Eine Parabel auf die Wirklichkeit, unter deren Wucht man sich unangenehm windet. Man möchte nicht daran denken, wie real all das, was Köhler erzählt, für viele Frauen auf dieser Welt ist. Und leider nicht nur auf einsamen Inseln, sondern z.B. mitten in Brooklyn, in der chassidischen Gemeinde (siehe dazu Unorthodox von Deborah Feldman), um nur ein Beispiel zu nennen. Seltsamerweise ging es mir tatsächlich so, dass ich während der Lektüre von Miroloi sehr oft an die Geschichte Deborah Feldmans denken musste. Die ja darin ebenfalls eine archaische, weltabgewandte Gesellschaft schildert, der sie selbst gegen alle Wahrscheinlichkeit zu entfliehen versucht.

Das Buch handelt von einer namenlosen Außenseiterin, die in einer abgelegenen Inselgemeinde aufwächst, wo Frauen keinerlei Rechte haben. Sie dürfen weder lesen, schreiben noch schwimmen. Sie haben keinerlei Möglichkeiten, irgendeinen Aspekt ihres Lebens mit oder selbst zu bestimmen. Sie erledigen alle anfallenden Hausarbeiten, versorgen die Tiere, arbeiten auf den Feldern und  bekommen Kinder, vorzugsweise Söhne. Sobald sie beginnen zu menstruieren, tragen die jungen Mädchen einen roten Gürtel, der der Gemeinschaft signalisiert, dass sie ab jetzt für den Ehemarkt zur Verfügung stehen.
Die Außenseiterin wird niemals heiraten dürfen. Sie wurde als Findelkind vom Bethaus-Vater in einem Bananenkarton gefunden und gegen den Willen der anderen Inselbewohner zog er sie auf. Sie hat noch weniger Rechte als die anderen Frauen und Mädchen. Das Dorf hält sie für einen Fluch und macht sie für jedes Unglück verantwortlich.

Eine Gruppe alter weißer Männer bestimmt über jeden Lebensumstand, bis in die Körperöffnungen der Frauen hinein, was erlaubt ist und was nicht. Interessanterweise gibt es Rezensenten, die dies konstruiert und unwahrscheinlich finden. Rechercheempfehlung zum Reinschnuppern in die Materie: die Aussagen republikanischer PolitikerInnen in den USA, die in nicht wenigen Bundesstaaten längst in die Gesetzgebung eingeflossen sind.

Es gelten harte Gesetze auf der Insel. Wer sie bricht, kommt an den Pfahl. Die Große Strafe ist die Steinigung.
Sexuelle Gewalt ist an der Tagesordnung.

Der Alltag auf der Insel, das Schicksal des Findelkindes, das Leben in der Gemeinde, die Beziehungen unter einander, alles wird uns vom Findelkind selbst erzählt, mit seiner einfachen, verspielten Sprache, die Worte erfindet und Dinge zu verstehen sucht, die uns lächerlich selbstverständlich erscheinen. Der Bethaus Vater bricht das Gesetz und bringt dem Mädchen Lesen und Schreiben bei. Mit den Worten erobert sie sich Stück für Stück seine Welt und einen immer umfassenderen Blick über deren Grenzen hinweg. Ihre Sehnsucht nach Freiheit wächst.

Für die Geschichte hat Karen Köhler selbst eine Religion und Rituale, ich will nicht sagen, erfunden. Wohl eher hat sie aus vorhandenen Zutaten etwas neues, typisches, gemischt. Genauso hat sie viele Worte erfunden, eine neue Sprache. 

Inhaltlich fand ich das Buch extrem faszinierend. Denn was hat die Autorin mit dieser Geschichte gemacht? Sie hat eine Parabel geschrieben über die Lebensumstände der meisten Frauen auf diesem Planeten. In dieser Hinsicht fand ich es ein sehr mutiges Buch. Denn sie ist nicht davor zurück geschreckt, die ganzen Klischees eines Frauenlebens aufzulisten und sie hat dies getan, ohne sich oder uns dabei etwas zu schenken. Sie hat uns das Elend von Frauen nicht durch eine poetische Trickkiste von Leibe gehalten, vielmehr hat sie es uns geradezu auf den Leib gerückt. Es gibt Momente, da krümmt man sich unter der Lektüre. Das ist so unangenehm, man hält es manchmal kaum aus. Dann wieder ist es so schön, dass man seitenlang in der Geschichte versinkt. 

Weil die Sechzehnjährige ungebildet und in der äußeren Welt bar jeglicher Erfahrung ist, ist die Sprache, in welcher sie als Ich-Erzählerin diese Geschichte in 128 Strophen singt, sehr simpel. Ein Miroloi ist ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied für einen Verstorbenen. Ein archaisches Ritual aus einer archaischen Welt, weit entfernt von den Komplexitäten, die wir heute geneigt sind, als Normalität zu sehen.

Da die Außenseiterin keinen Namen hat und in der Gemeinschaft ein Nichts ist, singt sie sich ihr eigenes Totenlied. Welches zu einem Totenlied für so viele Frauen wird, deren Leben verrinnt, ohne dass sie jemals zeigen durften, was in ihnen steckt.

Eigentlich also ein ganz normales Buch. Abgesehen von seiner Rezeption, die offensichtlich von starken Gefühlen durchtränkt ist und in seiner Heftigkeit seinesgleichen sucht. Die Männer des Feuilletons flippten geradezu aus in ihren Texten, sahen das Buch gar als Auslöser für Fragen nach dem Sinn und Zweck von Literatur und Literaturkritik. Ich bin vermutlich naiv, aber wenn es so schlecht ist, wenn es so unter aller Kanone ist, warum dann überhaupt darüber schreiben?
Warum so emotional darüber schreiben? Man stelle sich vor, eine Gruppe von Frauen hätte auf derart emotionalem Niveau geschlossen ein Buch von einem Mann rezensiert. Man hätte ihnen vermutlich kollektives PMS unterstellt. 
Das interessanteste an diesen Rezensionen war für mich, was diese Männer darin über sich selbst preisgeben. Es wäre für die Literaturkritik wünschenswert, wenn sie sich emanzipierten und tatsächlich unvoreingenommen rezensieren könnten. Denn so wie es ist, sind sie unreflektiert Teil des Patriarchats und merken es noch nicht einmal. Sie nutzen das Mittel der Literaturkritik, um scheinbar rational eine Frau unter der Gürtellinie zu treffen, die Dinge aufzeigt, welche ihre Gefühle in Wallung bringt.

Das  Buch ist an sich schon gut, aber noch wichtiger wird es durch die Reaktionen, die es auszulösen vermag. Genau deshalb musste dieses Buch geschrieben werden. Weil es Gefühle und Statements auslöst, die nur durch diesen naiven, fast dümmlich daher kommenden Duktus ausgelöst werden können, kombiniert mit der kompromisslosen Brutalität der Geschichte. Es lockt die hässliche Fratze unserer Zeit, leider auch sehr deutlich im Reich der Literaturkritik, ans Licht.

Noch etwas tut Karen Köhler mit diesem Buch und davor ziehe ich meinen Hut: sie stellt sich nackt und schutzlos, ohne jeden Zynismus, ohne jede Selbstgerechtigkeit (die ihr lustigerweise dennoch von einem Kritiker vorgeworfen wird) vor den Leser. Sie hat uns den Blick auf das Entsetzen der weiblichen Existenz in einer patriarchalen Welt nicht durch eine poetische Sprache verwässert. Das kann man ihr als Leser und auch als Leserin verübeln. Was ich jedoch wirklich als schade empfand, war, dass die Offenheit, die Ungeschütztheit des Textes auf Zynismus und Selbstgerechtigkeit stoßen.
Damit ist diesem Buch im Grunde widerfahren, was der Außenseiterin in der Geschichte geschehen ist. Das Buch wird zur Metapher für seine eigene Situation in einem Teil der Welt, der wie eine einsame Insel auf mich wirkt.
Oben erwähnte ich, dass mich Miroloi oft an Unorthodox erinnerte. Die Heldin, die im Verlauf der Geschichte einen Namen bekommt, Alina, sie erinnert mich auch an manche Frauencharaktere bei Handke, als wäre sie eine Vorfahrin der Obstdiebin.

Wenn ich rückblickend die Lektüre dieses Buches für mich bewerte, dann ist die größte Wirkung, die es auf mich hatte eine Öffnung gewesen, sowie eine tiefe Berührung. Dies mag kein literarischer Maßstab in bestimmten Kreisen sein. Aber für mich ist er das, was zählt. Ich erkenne ein gutes Buch daran, dass es mich und viele andere zu bewegen vermag.
Dass dies dem Köhlerschen Werk auf ganzer Linie gelungen ist, erkennt man unschwer an der Fülle der Verrisse und Liebeserklärungen und daran, dass es auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. 
Konsequenterweise müsste sie den Preis auch gewinnen. Denn es ist nicht nur ein gutes Buch, sondern es hat eine Diskussion entfacht, die wichtig ist und wurde somit unversehens zum Buch des Jahres 2019.

(c) Susanne Becker

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