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Gedanken zu dem Film Corsage von Marie Kreutzer mit Vicky Krieps

 

When she was home, she was a swan

When she was out, she was a tiger.

aus dem Song: She was von Camille   (s.u.)


Ich kenne so viele Frauen, die sich ein Leben lang nicht finden, die gar nicht dazu kommen, nach sich zu suchen, die sich verlieren in den Rollen, die die Welt ihnen abverlangt. 

Es gibt so viele Orte, an denen Frauen nicht den Schimmer einer Wahl haben, zu entscheiden, wie sie leben, wer sie sein möchten. Diese Orte werden mehr. Orte, an denen Frauen einmal ein wenig freier waren, gehen uns wieder verloren. Die meisten Frauen leben gefährlich. Gefährlicher als Soldaten in Kriegen. 



Aber dennoch hatte ich kein Mitleid mit der Kaiserin, den ganzen Film über nicht ein einziges Mal, weil sie eigentlich nicht als sympathische Person gezeigt wurde. Was ich gut fand. Denn welche Frau kann sich etwas davon kaufen, dass sie bemitleidet wird? Elisabeth ist in diesem Film selbstzentriert, rücksichtslos, narzisstisch. Besessen von ihrem Körper, seinem Gewicht ist sie, von ihrer Schönheit, die schwindet, denn sie ist vierzig, ein hohes Alter zu ihrer Zeit für eine Frau. Sie ist herrisch den Menschen in ihrer Umgebung gegenüber. Sie liebt ihre Kinder. Sehr. Kann aber zu ihnen kaum eine wirklich authentische Beziehung haben im strengen Reglement des Palastalltags. Sie handelt erratisch, impulsiv und häufig rücksichtslos. Aber verstanden habe ich sie und in manchen Momenten mochte ich sie sehr. Sisi. Ich habe alles an ihr verstanden, vornehmlich die Unfreiheit und wie schwer es ist, ihr zu entkommen, und dass man in dieser Unfreiheit zu jemandem wird, die man möglicherweise überhaupt nicht wäre in einem selbstbestimmten Leben. Ich sah die Frauen in der psychiatrischen Anstalt, zu denen Elisabeth sich auf unheimliche Weise hingezogen fühlte, die schreiende Frau im Käfig und ich dachte an Isabelle Adjani in dem Film Camille Claudel. Wieviele Frauen sind in Irrenanstalten gelandet, weil sie einem Mann unbequem waren, ihre Rolle nicht erfüllt haben?



Der Film Corsage von Marie Kreutzer zeigt die Unfreiheit einer Frau auf eine Weise, die eine große und die Jahrhunderte übergreifende Gültigkeit hat. Dabei wird diese Unfreiheit nur insofern plakativ gezeigt, als es sich zufällig um eine Kaiserin handelt und nicht etwa um Emma Müller aus der Bäckerei gegenüber. Die Unfreiheit zeigt sich in der Atmosphäre all der kleinen Momente, den Stimmungen, den Farben, der Musik, von Camille, von Soap & Skin, wird sie fühlbar, schmeckbar, die Unfreiheit eines einzelnen Frauenlebens, das doch so ist, wie viele Frauenleben: fremdbestimmt. 

Natürlich wird all das vor allem auch sichtbar im Rollenspiel der den Film tragenden Ausnahmeschauspielerin Vicky Krieps, die bislang schon in Cannes und in Sarajevo hierfür mit dem Preis für die Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Ich habe mit ihr vor kurzem den Film Bergman Island gesehen, den ich wie eine lange Meditation genossen habe. Obwohl ihr Filmpartner darin Tim Roth war, trug sie doch auch diesen Film zu einem entscheidenden Teil. Momentan dreht sie mit Margarethe von Trotta Frisch & Bachmann und spielt darin die Ingeborg Bachmann. Einen Film, auf den ich schon jetzt unglaublich gespannt bin. Was Ingeborg Bachmann mir bedeutet, habe ich vor ein paar Jahren versucht,hier zum Ausdruck zu bringen.

Während ich im Wolf saß gestern Abend und mir also den Film mit dieser überragenden Vicky Krieps in der Hauptrolle ansah, rannten die Assoziationen durch mein Hirn: Ich dachte an The Crown, die Netflixserie, die ich mir seit Januar in immer nur kleinen Portionen anschaue, weil mich die Willfährigkeit der Queen angesichts ihrer Rolle und deren Zwängen in den Wahnsinn treibt, ihre Kontrolliertheit, ihre Emotionslosigkeit. Nicht einmal versucht sie ernsthaft, ihr Korsett zu sprengen, sondern von Anfang an stellt sie diese Rolle, die über sie herein brach, über alles, über ihre persönliche Freiheit, ihre Sehnsüchte, ihre persönliche Wahrheit. Das ist ihr Ideal. Die persönliche Wahrheit ist nichts angesichts der Rolle, die es auszufüllen gilt. Das macht mich beim Anschauen so aggressiv, dass ich Claire Foy zuerst, jetzt Olivia Colman, manchmal anschreien möchte. Ihre Akzeptanz der Unfreiheit, die sie in der Folge auch allen Mitgliedern ihrer Familie aufzwingt, ohne dass sich mir beim Zusehen unbedingt ein Sinn hierfür ergibt, führt oft genug dazu, dass ich es noch nicht einmal schaffe, eine Folge ganz zu schauen, weil es mich so wütend macht. Dennoch fasziniert mich die Serie. Denn sie stellt die Frage in den Raum, was wirklich wichtig ist: die persönliche Entfaltung, die Freiheit, das Folgen der eigenen Intuition, oder die absolute Pflichterfüllung?

Ich kann diese Frage nicht neutral beantworten, weil zu viele Frauen selbst in freien Ländern immer wieder in die Falle tappen, dass die Pflichterfüllung das non plus ultra ist. Als Ehefrau. Als Mutter. Vielleicht gibt es auf diese Frage auch keine absolut gültige Antwort. Aber die Freiheit, für sich zu entscheiden, welche Antwort sie findet, die wünsche ich jeder einzelnen Frau auf dieser Welt. 

Ich musste an The Favourite denken, ebenfalls mit Olivia Colman, wo der Schmerz einer unfreien Frau, einer Königin von England, die ein Kind nach dem anderen empfängt, manchmal gebiert, immer verliert, auch so etwas überpersönliches bekommt, eine Metapher wird für das Leben so vieler Frauen, das in den Wahnsinn treibt. Ich hatte über den Film und anderes hier einmal geschrieben. Das Unglück, die Unfreiheit des eigenen Körpers, der wie ein Gefäß ist, ein Instrument, ein Ding, das benutzt wird und über das sie nicht selbst bestimmen können. Wenn sie aber über ihren Körper nicht selbst bestimmen können, dann ist ihr ganzes Leben fremd bestimmt. 

Ich musste an die Richter des US-amerikanischen Supreme Courts denken und fragte mich: Was würden die misogynen RichterInnen unter ihnen wohl von dieser Elisabeth halten?

Vielleicht gehe ich zu weit in meiner Interpretation. Aber all diese Assoziationen kamen mir.

Ich sah den Film mit Freunden, denen ein Stückweit die Geschichte fehlte, und die von ihm nicht so überzeugt waren wie ich.

Die Seelenatmosphäre der Elisabeth aber war mir persönlich Geschichte genug. Dabei zuzuschauen, wie jemand hinein wächst in sich selbst. Zeuge einer Art Evolution des Selbst zu werden, das befriedigt mich, mag der Weg auch noch so mühsam, kleinteilig und ereignislos sein. Wer braucht eine Geschichte, wo das Seelenleben jedes einzelnen Menschen ein Universum ist? 

Meiner Meinung nach ist dies ein unglaublich aktueller, radikaler und feministischer Film, weil es eine Tendenz gibt, die wenigen Frauen auf diesem Planeten, die sich einigermaßen frei entscheiden können, auch wieder an die Kandarre zu legen, ihr Seelenleben und ihren Körper einzusperren, damit sie ihre Pflicht im Patriarchat erfüllen. 

Natürlich stimmt historisch nicht alles in diesem Film. Marie Kreutzer hat ganz absichtlich moderne Dinge einfließen lassen wie ein Schiff oder einen Traktor. Für mich zeigte es, dass es ihr nicht um eine historische Erforschung der Person ging, sondern eben genau um das Erfühlen und Ausloten eines eingesperrten Seelenlebens bei dem Versuch, in die Freiheit zu gelangen. Aus der Geschichte der Kaiserin Sisi eine Geschichte destillieren, die etwas universelles erzählt. Es ist ihr, in Kollaboration mit Vicky Krieps, extrem gut gelungen, finde ich. 

Schaut den Film doch einfach selbst an und macht Euch ein Bild, lasst Eure Gedanken und Assoziationen füttern und frei sein. Bin gespannt, was Ihr dabei findet. Denn jeder Film ist natürlich auch immer eine Projektionsfläche für die, die ihn sieht.


(c) Susanne Becker

 

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