"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done."
No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:
Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:
"Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?"
Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer "portal" heißt, als wären sie quasi unter Freunden. Aber wir bohren uns ja auch in der Nase, wenn wir im Auto an der roten Ampel stehen und vergessen, dass wir von allen Seiten sichtbar sind. Ich nehme an, es handelt sich um den gleichen Mechanismus, der aber in Bezug auf das Internet eine derartige Intensität entwickelt hat, dass unser Aufenthalt dort, unser beständiger Aufenthalt dort, uns komplett verändert: unsere Art zu denken, zu fühlen, uns zu beziehen, zu leben. Ja, unsere Art, Mensch zu sein.
Wir bohren in der Nase, wir machen uns im Netz nackig, und irgendeine Instanz in uns geht davon aus, dass alle wegschauen, die es nichts angeht. Dass es einen Grad an Anstand gibt, der allen verbietet, mich dabei anzustarren, wie mein Zeigefinger in meinem Nasenloch verschwindet. Aber diesen Anstand gibt es nicht mehr. Möglicherweise war er immer eine Illusion. Das Internet wirkt wie ein Brandbeschleuniger bei der Vernichtung von diesem Anstand. Der, wie gesagt, vielleicht ja auch nie existiert hat. Ohne Internet wusste man es nur nicht so laut und schrill, wie und dass er nicht existierte. Jetzt muss man ja nur das "portal" öffnen und schon liest man sich die Ohren ab und bekommt ganz schnell Augenkrebs bei all den Dingen, die man dort finden kann. Wohlgemerkt, dort, in diesem endlosen Raum, in dem sich unsere Kinder Fulltime herumtreiben.
Ich habe mir die Frage schon oft gestellt, wie diese Zweiteilung passiert, dieser Mensch, der man online ist und die andere, die nachher in der Küche den Abwasch macht oder bei Rewe Lebensmittel kauft. Beide Existenzformen fühlen sich so verschieden an und ihre Verbindung bin ich. Dass ich beide bin und das Brückenglied zwischen beiden. Wenn ich meine jüngere Tochter sehe, die noch viel mehr online ist, als wir alle, weil sie zu einer Zeit groß wird, wo alle überall ein Smartphone haben und man auch mit den echten Freunden ständig online im Kontakt ist, dann unterscheidet sich das so frappant von meiner Jugend und sogar von der ihrer älteren Schwester, die ja nur sieben Jahre älter ist. Aber schon dazwischen liegen Onlinewelten!
Für mich handelt das Buch primär von der Frage: Wie kann ich ein kreativer, liebender Mensch bleiben, obwohl ich ständig im Internet bin und es langsam meine Persönlichkeit verändert?
Wie kann diese Welt ein liebender, kreativer Ort sein (ein Bedürfnis, das in den letzten zwei Jahren, wenn irgendetwas, eine fast nicht zu ertragende Brisanz erhalten hat) wenn alle ständig im Internet sind und sich dort, wie an einer riesigen Universität, nur mit nicht so viel Wissenschaft, ihre selbst verliehenen Doktorgrade in Weltverständnis abholen?
"The future of intelligence must be about search, while the future of ignorance must be about the inability to evaluate information."
Auch: Inwiefern eigentlich verändert es meine Persönlichkeit? Kann ich das überhaupt noch stoppen? Was geschieht mit den ganz kleinen Kindern, die ich immer häufiger in Kinderwagen sitzen und ein Smartphone halten sehe? Was geschieht mit deren Gehirnen und als Konsequenz mit ihren Persönlichkeiten? Werden sie klüger sein? Empathischer? Informierter? Wehrhafter? Demokratischer? Emotional intelligenter?
Auf der Shortlist für den Booker Prize 2021, war das Buch, das mir so zufällig in die Hände fiel, qualitativ
offensichtlich adelig. Es wird auch unter den Top Ten Büchern der New York Times für 2021 genannt.
Nach der Lektüre kann ich diese Bewertungen nur vorbehaltlos bestätigen. Dieses Buch ist so gut, wie es zu vermuten war.
In kurzen Abschnitten berichtet die Ich-Erzählerin im ersten
Teil von ihrem Leben als Online Star, die um die Welt reist, Vorträge hält,
verheiratet ist, und sich eigentlich ständig im Netz bewegt, immer auf der
Suche nach einem Kick. Den gibt es auch oft.
Ein Buch, das von der Gegenwart handelt, in dem Trump noch
gerade so Präsident ist, aber namentlich nie genannt wird. Er heißt einfach:
Der Diktator. Ich gebe zu, das hat mir gefallen. Weil Lockwood dort nicht, und auch sonst nicht in diesem Buch, um den heißen Brei herum redet. Sie nennt die Dinge kurz und schmerzlos beim Namen. Ich liebe das!
Ein Buch darüber, wie es ist, ständig online zu sein. Also
ein Buch über einen großen Teil der Menschen, die ich kenne.
Dann kommt der zweite Teil. Die Schwester der Ich-Erzählerin
ist schwanger. Irgendwann stellt sich heraus, dass das Kind nicht gesund ist.
Aufgrund der Gesetzeslage in Ohio, wo die Schwester lebt, kann sie das Kind auf
gar keinen Fall abtreiben. Die Ärzte dürfen diese Möglichkeit noch nicht einmal
erwähnen, denn man könnte sie dafür anzeigen. Es muss so getan werden, als wäre
es vollkommen unabänderlich, dass der Kopf des Kindes im Bauch der Schwester
immer weiter wächst, der Rest des Körpers nicht, und dass die Schwester dieses
Kind, das aller Voraussicht nach nicht lange leben wird, zur Welt bringen wird. Es gibt keine andere Lösung.
Es ist in diesem zweiten Teil immer noch ein Buch über die
Gegenwart. Diesmal allerdings dringen die Beziehungen und Gefühle zur
Ich-Erzählerin in einer Heftigkeit durch, die keinen Vergleich zu den Kicks der
online gemachten Erlebnisse zulässt.
Es ist für mich ein Buch über Liebe, über Sinn, darüber wie wir eigentlich leben wollen und was wirklich wichtig ist.
"It was a mistake to believe that other people were not living as deeply as you were. Besides, you were not even living that deeply."
Wirklich wunderschön. Unglaublich intelligent, auch emotional intelligent, an vielen Stellen sehr witzig und extrem gut
geschrieben. Das Buch hat meinen Herz geöffnet, das lag am zweiten Teil. Ich habe selten so schön über Liebe gelesen! Lest es! Ist eine Empfehlung. Ich habe das Buch übrigens meiner großen Tochter zu Weihnachten geschenkt. Bin gespannt, wie sie es findet.
(c) Susanne Becker
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