Aussicht auf den Breitenberg in Pfronten/Allgäu |
2021, ein sehr intensives Jahr geht zuende, das sich manchmal anfühlt, als hätte es am 16.3.2020 begonnen, dem ersten Tag unseres ersten Lockdowns. Ich würde ihm, rückblickend, gerne dieses Zitat von einer meiner Lieblingsdichterinnen voran stellen:
Dieses Jahr war so intensiv, dass ich irgendwann nichts mehr geschrieben habe, außer lange Texte in meine Tagebücher, die man niemandem zumuten kann. Es war so viel los, es hat sich so viel verändert, dass ich hier an dieser Stelle, nicht weiter schreiben konnte.
Vor einigen Wochen, als ich mal wieder eine Nacht nicht schlafen konnte, und meine Gedanken mit mir davon rasten, hörte ich mir diesen Podcast an mit Pico Iyer und Elizabeth Gilbert und darin kommt irgendwann eine Stelle, an der Gilbert sagt, sie habe sich vorgenommen, zu diesem Wirbel, der gerade unsere Gesellschaft erschüttert, nicht beizutragen. Das tut sie, indem sie sich still verhält. Es gibt diese buddhistische Geschichte, keine Ahnung, wo ich sie gehört oder gelesen habe: Sit still, until the mud is settled, then everything will be clear. Wenn das Wasser aufgewühlt ist, warte bis der Schlamm sich gesetzt hat, dann ist das Wasser wieder klar. Wenn du selbst auch noch im Wasser herum rührst, wird es nur noch trüber.
2021 war das erste Jahr, in dem ich ganz in meiner eigenen Wohnung gewohnt habe. Nach fast zwanzig Jahren habe ich die Wohnung endgültig verlassen, in der ich meine Töchter bekommen und groß gezogen habe. Das war ein gradueller Prozess, aber er war dennoch am Ende noch einmal nicht so einfach, wie ich es mir vorher ausgemalt hatte. Vieles konnte ich nicht mitnehmen, da meine neue Wohnung viel kleiner ist. Loslassen also. In so vieler Hinsicht. Days of less happiness, but still happy. Never forget!
Ich habe nach siebzehn Jahren meine Arbeitsstelle gewechselt und bin von einem Job, den ich mochte, wo ich tolle KollegInnen hatte, an eine Stelle gegangen, wo ich weniger verdiene, wo ich nur einen befristeten Vertrag habe und wo die Arbeit derart heraus fordernd ist, dass ich monatelang das Gefühl hatte, diesem Job und der Branche und den KollegInnen eventuell nicht gewachsen zu sein. Ich spüre täglich, wie ich mich verändere, wie ich vielleicht sogar wachse (Achtung: Hoffnung!), auf jeden Fall lerne lerne lerne, und es tut weh, wenn man die alte Form ablegt. Es fühlt sich manchmal an, als würde man aus der eigenen Haut heraus platzen und nackt dort stehen.
Meine Tochter drückte es sehr gut aus: Erst wenn du deine Komfortzone verlässt, wird es interessant. Erst dann passiert etwas.
Ich hatte das Gefühl, in 2021 gar nicht mehr zu wissen, was eine Komfortzone ist. Im Grunde habe ich fast das gesamte Jahr außerhalb dieser Zone zugebracht.
2021 war das zweite Jahr der Pandemie, und das Jahr, in dem ich einen wichtigen Teil meines Jahresurlaubs im Hochwassergebiet zugebracht habe, was mein Gefühl von Sicherheit noch weiter unterminierte. Ich wusste bis 2021 nicht, dass ich Existenzangst, ja, Panik, haben kann. Ich hatte dieses Gefühl noch nie in meinem Leben. Aber in 2021 lag ich ungezählte Nächte wach, weil ich vor lauter Angst nicht schlafen konnte. Mein Herz raste, meine Gedanken rasten. Es war die blanke Panik, dass ich meinen Kindern keine Sicherheit geben kann, dass ich selbst krank werden und völlig einsam sein könnte, dass ich meinen Job wieder verlieren und auf Hartz IV angewiesen sein würde. Meine Wohnung könnte abbrennen oder einen Wasserschaden erleiden, ich könnte Krebs bekommen wie meine Freundin, ich könnte einen Fahrradunfall haben und und und. All diese Katastrophen, in die sich früher meine Mutter sehr zeitaufwändig hineinsteigern konnte, was ich belustigend und auch stressig fand, machten sich plötzlich in meinem eigenen Kopf breit.
Das war nicht nur schlecht. Days of lesser happiness, but looking back: happy. Denn sie gaben mir monatelang die Möglichkeit, mir meine eigene Angst, meine Existenzangst, ganz genau anzuschauen. Ich habe sie, die mir absolut fremd war, so richtig kennengelernt in 2021. Damit auch noch einmal mich selbst auf neue Weise. Mut ist ja nicht, keine Angst zu haben, sondern was man tut, wenn man Angst hat. Man will es nicht, aber es ist so gut, sich seine eigenen überwältigenden Gefühle in aller Ruhe anzuschauen. Was man feststellt, ist: sie haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Auch wenn meine Panik monatelang anhielt, tröpfelte sie doch irgendwann aus und bevor sie ging, hatte sie mir viele Dinge über mich selbst und das Leben gelehrt. Ein Freund, dem ich von meiner Angst schrieb, schrieb zurück: Es ist normal, Angst zu haben, wenn die Dinge sich verändern. Du wirst irgendwann klar sehen, wenn alles sich wieder zurecht gesetzt hat. Im Moment musst du akzeptieren, dass du nichts weißt, dass alles neu und verwirrend ist. Du musst die Unsicherheit aushalten.
Days of lesser happiness.
Nicht nur die Unsicherheit aushalten, sondern akzeptieren, dass sie unser Leben ist. Es gibt keine Sicherheit. Sehr lange war mein Leben so derart privilegiert, dass ich denken konnte, es gäbe sie doch. Habe ich das zu schätzen gewusst? Natürlich nicht! Ich fand es normal. Aber das war eine Illusion. Normal ist die Unsicherheit. Alles kann sich jederzeit komplett verändern. Das ist für jeden Menschen wahr. Wahr ist auch: Alles verändert sich sowieso die ganze Zeit. Auch dann, wenn wir es so bequem haben, dass wir es nicht bemerken.
Rückblickend war dieses Jahr eines der anstrengendsten, an die ich mich in meinem Leben erinnern kann. Vielleicht, weil mir die Veränderung so krass bewusst war. Jeden Tag und jede Nacht. Sie kam von außen, und war ja auch von mir selbst zusätzlich in Gang gesetzt worden an jenen Punkten, die mir Sicherheit hätten geben können. Rückblickend war es auch ein sehr reiches Jahr. Es gab Liebe. Es gab Freundschaft. Es gab das Gefühl, auch eine schwierige Zeit bewältigen zu können. Das ist ein ziemlich tolles Gefühl.
Ich hoffe, Ihr hattet in all der Anstrengung, die dieses Jahr sicher für jede und jeden bereit gehalten hat, viele gute Momente. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr davon fallen mir ein. So many days of lesser happiness, but nonetheless happiness!
Wie an jedem Jahresende möchte ich Euch auch diesmal meine Favoriten des Jahres schenken, als Anregung vielleicht oder Unterhaltung, obwohl ich so lange nicht hier war, hoffe ich, dass die eine oder der andere diesen Eintrag liest.
Bücher
Ich habe zwar laut Goodreads zweiundfünfzig Bücher in 2021 gelesen, aber ich muss sagen, dass es monatelang nicht viele gab, die mich wirklich überzeugt haben. Die für mich besten waren dann häufig Bücher von Frauen, die entweder in Essays oder autofiktional von ihrem eigenen Leben schreiben. Die Welt aus der Sicht der Frauen heute, das ist für mich die spannendste und die beglückendste Lektüre. Diese Klugheit, diese Vielfältigkeit, so viel Inspiration. Ich habe Euch ein paar der Bücher aufgelistet.
Mieko Kawakami Breasts and Eggs
Olivia Laing, Funny Weather Art in an Emergency
Zeruya Shalev, Späte Familie
Anna Hope, Expectation
Patricia Lockwood, No One is talking about this
Anne Boyer, The Undying
Filme
Da ich nun selbst in der Filmbranche arbeite, habe ich auf das Ganze eine neue Perspektive. Ich weiß plötzlich, wieviel Mühe, wieviel Arbeit in jedem einzelnen Film steckt, und wie wenig die, die die Filme machen, in der Regel damit verdienen. Wenn sie überhaupt Geld damit machen.
Alle in der Filmbranche, die ich bis jetzt kennen gelernt habe, machen Filme, weil sie nicht anders können. Eine Leidenschaft. Eine Besessenheit. Das merkt man den Filmen, die ich dieses Jahr gesehen habe, durchaus an. Ich möchte hinzufügen, dass ich mir Filme nur in Programmkinos anschaue.
Il Kino, International, Wolf, Moviemento zum Beispiel. Ich war allerdings auch zweimal im Zoo Palast, ein tolles Kino, und beide Male durfte ich umsonst dorthin, weil ich im Rahmen meiner Arbeit eine Karte bekommen habe. Unter anderem sah ich dort House of Gucci. Ist jetzt nicht auf meiner Liste der Lieblingsfilme, aber dennoch so gut! Lady Gaga! Adam Driver! Jared Leto!
Meine Lieblingsfilme waren diese vier:
Musik
Die meiste Zeit über habe ich immer die gleichen Lieder gehört, im Grunde hatte ich sie auch schon 2020 und 2019 gehört. Aber eine Neuentdeckung für mich gab es:
Joan as Policewoman. 2022 geht sie auf Tour und kommt auch nach Berlin. Eventuell schaue ich sie mir an. Wenn Covid es erlaubt!
Mein Liebster Song: Magic von Joan as Policewoman
Orte
Gereist bin ich, dank Covid und neuem Job, wenig. So habe ich im Sommer die üblichen Trips in die Eifel und ins Burgenland gemacht. In der Eifel begann es dann nach drei Tagen ununterbrochen zu regnen und wir waren ruckzuck im Hochwassergebiet, auch wenn meine Familie zum größten Teil einigermaßen verschont blieb, sah man weggerissene Häuser, half dabei, Schlammmassen zu beseitigen und schippte in der Nacht Wasser. Letzteres trotz der Kälte und Nässe eine meiner liebsten Erinnerungen: Wasser schippen, nass bis auf die Knochen, irgendwann die Erkenntnis, wir haben es geschafft, der Keller wird diese Nacht nicht volllaufen, und dann an der Straße stehen, die ein reißender Fluss ist und gemeinsam Kölsch trinken mit allen Nachbarn. Man glaubt es nicht, wie viele Kölschkästen solche Leute in ihren Garagen und Kellern haben!! In dieser Nacht wussten wir noch nicht, dass um uns herum ganze Orte verschwunden waren, es war dunkel, wir sahen ja nur das Wasser auf unserer Straße, das langsam weniger wurde und feierten unseren Erfolg. Am nächsten Morgen kam ein böses Erwachen. Für mich der intensivste Moment war, als ich in Gmünd der Familie meiner Schwägerin half, aus ihrem zugeschlammten Keller Dinge wieder sauber zu machen, auf der Straße riesige Müllberge, schlammbedeckt, aus den Kellern und Häusern der ganzen Straße, Berge an Dingen, die einfach zerstört waren, kam eine Frau auf mich zu und erzählte mir in zwei Minuten, wie nebenbei, dass ihr Geschäft weggeschwemmt worden sei, das Haus ihrer Eltern, beide über 90, ebenfalls, mit ihm alle Erinnerungen, das ganze Leben dieser Eltern, und der beste Freund der Eltern war in seinem Haus ertrunken. "Aber das haben wir meinen Eltern noch nicht gesagt. Die müssen das erstmal mit dem Haus verdauen." Dann ging sie weiter. Wünschte mir einen schönen Tag. Lächelte mich, unter Schock, so freundlich an, als hätten wir an einem normalen Tag auf einer normalen Straße geplaudert. Was ja irgendwie auch so war.
Mit meinen Freunden und meiner Tochter einen Tag durch Wien laufen, in der Buchhandlung Shakespeare & Company stöbern und asiatisch essen, das war ein sehr schöner Tag.
Lilly bei Shakespeare & Company, Vienna |
Blick vom Falkenstein |
Der Himmel über dem Hof meiner Freunde |
Macht das Beste daraus!! Ich wünsche Euch viele schöne Erlebnisse. Kreiert wunderbare Erinnerungen, das macht Spaß! Umarmungen, Küsse, Sekt und Konfetti für alle! Prost Neujahr
(c) Susanne Becker
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