Als ich begann, mich bei Bizim Kiez zu engagieren, was in dem Moment geschah, als meine Lieblingsbuchhändlerin mir erzählte, dass der Laden Bizim Bakkal die Kündigung erhalten habe, ging ich zu den Treffen und sammelte Unterschriften und immer wieder fragte ich mich, was ich sonst tun könne. Denn es geht ja nicht um den Laden, sondern um etwas Größeres. Es geht um Selbstbestimmung im Bereich unseres Zuhauses, das wir nicht besitzen, sondern nur mieten, das uns also, so lehrt uns der Fall Bizim Bakkal und viele viele andere vor ihm, jederzeit und willkürlich unterm Hintern weg gerissen werden kann, aus purer Freude an der Geldvermehrung, weil es manchen Menschen Spaß macht, aus Geld mehr Geld und immer mehr Geld zu machen, egal, was der Kollateralschaden davon ist. Da die Politik den Kapitalismus auf diesem Gebiet von der Leine gelassen hat, anstatt die Lebensräume der Bürger zu beschützen, toben sich die Investoren schon seit langem in unseren Innenstädten aus. Das Resultat ist, dass schon in vielen Städten nur noch Besserverdienende es sich leisten können, in den Innenstädten zu leben. Auch in Berlin geht nun der Trend endgültig dahin. Ich erinnere mich oft an meine Zeit in den USA, als ich in Richmond lebte, der Hauptstadt von Virginia. Wenn man abends durch Downtown ging, war es eine Geisterstadt aus Wolkenkratzern. Sie war nur tagsüber belebt, denn es wohnte dort niemand mehr. In allen Häusern befanden sich nur noch Geschäfte und Büroräume.
Das Publikum |
Jeder stellt sich unter einem perfekten Abend etwas anderes vor. Für mich ist es das Größte, Schriftstellerinnen und Schriftstellern zuzuhören. Ich gehe unglaublich gerne zu Lesungen und halte SchriftstellerInnen für so etwas wie HeldInnen. Denn sie ringen in oftmals großer Abgeschiedenheit ihrem Leben unser aller allzumenschliche Wahrheiten ab. Das ist für mich ein Traumberuf.
Eines Tages fragte ich, mehr so im Spaß auf Facebook, nicht wirklich eine Antwort erwartend: David Wagner, Jan Brandt, Annika Reich Svenja Leiber wollt Ihr nicht irgendwann mal an einem Mittwoch in den Wrangelkiez kommen und für uns lesen. Dann ging ich zum Friseur. Als ich eine Stunde später wieder kam, mein Haar frisch onduliert von Fatima, hatten die vier sich auf meiner Wand schon auf den 1. Juli geeinigt und noch Ulla Lenze, Nina Bußmann und Annett Gröschner mit ins Boot geholt. Die frisch ondulierten Haare standen mir begeistert zu Berge.
Jan Brandt |
Annett Gröschner |
Am 1. Juli kamen sie dann tatsächlich alle zu uns in die Wrangelstraße und lasen auf einer kleinen Bühne vor dem Laden Bizim Bakkal.
Schon in der Woche vorher begann ich, Jan Brandts Tod in Turin zu lesen, erstens hatte meine Lieblingsbuchhändlerin dieses Buch an dieser Stelle hier so warm empfohlen und mir in unserer Lieblingskneipe Gipfeltreffen einen Abend lang darüber vorgeschwärmt), zweitens starb ich täglich vor der Lesung, im Rahmen der Vorbereitungen sehr viele verschiedene Tode, die meisten hatten mit meiner regen Phantasie zu tun und all den Möglichkeiten, wie diese Lesung auf offener Straße ein Desaster werden könnte (Regen, gelangweilte laut dazwischen gröhlende Zuhörer, 3 Zuhörer, die Schriftsteller kommen gar nicht, weil wir alles nur auf Facebook vereinbart hatten und das nicht zählt, ich falle bei dem einen Satz, den ich sagen muss, von der Bühne etc. pp.). Da schien mir dieses Buch nicht verkehrt.
Annika Reich |
Er las dann aus einem Ausstellungskatalog einen Text über unseren Kiez und wie dieser sich verändert hat und immer weiter verändert. Wie er clean wird, wie die interessanten Dinge und Orte glatt gemacht werden.
Annett Gröschner war ironischerweise gerade selber entmietet worden und erzählte davon. Außerdem las sie aus ihrem herrlichen Berlinbuch Walpurgisnacht. Das Publikum war begeistert.
Ulla Lenze las aus ihrem neuen Buch Die endlose Stadt, einen Abschnitt über eine Liebesgeschichte zwichen einer deutschen Künstlerin und einem Dönerbudenbesitzer in Istanbul, einer Stadt, die ebenfalls von der Gentrifizierung betroffen ist.
Annika Reich las aus Die Nächte auf ihrer Seite, einen Abschnitt über eine Demonstration auf dem Tahrir Platz. Ich habe mir das Buch gleich am nächsten Tag besorgt und innerhalb von zwei Tagen gelesen. Eine Rezension wird noch folgen.
Nina Bußmann brachte uns einen Text über einen Erdrutsch mit, wo ein Dorf verschwindet. Das fand ich der Situation der von Verdrängung betroffenen Straßen und Stadtteile nicht unähnlich. Der aktuelle Erdrutsch zieht sich natürlich eine Weile hin, ein paar Jahre, aber dann ist so gut wie alles verschwunden, was den Kiez einmal ausmachte.
Mitten in die Lesung platzte dann die Nachricht, dass die Medienanwälte der Besitzerin des Hauses Wrangelstraße 77, in dem sich der Laden Bizim Bakkal befindet, per Pressemitteilung die Kündigung zurück genommen hätten. Das löste natürlich großen Jubel aus und da es genau vor Nina Bußmanns Auftritt verkündet wurde, bewunderte ich sie für die Souveränität, mit der sie dann las.
David Wagner bekannte frank und frei zu, dass er nervös sei, denn normalerweise kämmen zu Lesungen nicht so viele Menschen. Die Straße war voll und zu meiner großen Freude ging auch kaum jemand weg, im Gegenteil, die Leute saßen und standen hoch konzentriert und lauschten den dargebrachten Texten. Ich spürte eine große Wertschätzung und meine Lieblingsbuchhändlerin rief mich am nächsten Tag an, um mir zu erzählen, wie viele Kunden in den Laden kämen und begeistert die Lesung erwähnten. David Wagner las aus seinem Buch Vier Äpfel, eine Szene über einen Apfelkauf im Supermarkt, intelligent und witzig, wie alles, was er schreibt. Ich bewundere ihn, seitdem ich sein herausragendes Buch Leben, für das er 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, gelesen habe. Ich habe hier auch darüber geschwärmt damals.
Katy Derbyshire |
Ich würde weiter gehen und sagen: "Wenn man irgendwo lebt, trägt man eine ziemliche Verantwortung für sein Viertel." Ich glaube, das ist auch im tiefsten Inneren, was Bizim Kiez nährt und jeden Mittwoch aufs Neue die Leute auf die Straße bringt: wir spüren die Verantwortung für diese Nachbarschaft, die unser Zuhause ist. Ich denke, das geht allen so, die dorthin kommen, auch denen, die gar nicht im Wrangelkiez wohnen.
Die Besitzer des Hauses Wrangelstraße 77 haben die Kündigung zurück genommen. Aber erstens haben sie der Familie Caliskan noch keinen neuen Mietvertrag angeboten, um ihnen für die Zukunft Planungssicherheit zu geben. Das heisst, wenn wir jetzt alle wieder gemütlich nachhause gehen, weil die Sache gelöst ist, könnte ihm übermorgen einfach wieder gekündigt werden. Zweitens ist dieser Laden ja nur ein Beispiel für so viele andere Verdrängungen. Wir können jetzt nicht aufhören. Wenn wir den Kiez behalten möchten, wenn wir die Investoren entmutigen möchten, dann denke ich, dass wir uns auf einen sehr langen und vermutlich auch noch harten Kampf einstellen müssen. Die Insel der Seligen ist das hier nich, auch wenn es an so manchem Mittwochabend so wirken könnte.
© Susanne Becker
Fotos von Ralf Holzem
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