Direkt zum Hauptbereich

Peter Handke, Der Bildverlust


„Vielmehr Schritt für Schritt sich selber den Weg spuren.“

In die Tiefe dringen, ohne Ablenkung. Es geht nicht darum, sich im Raum auszubreiten. Dabei ein Glas Wein trinken, wie Handke. Allerdings bevorzuge ich weißen Wein. Handke trinkt sicher lieber roten, vermute ich. Handke, der mich immer wieder so sehr inspiriert, dass ich davon glücklich werde. Obwohl ich sein Buch Der Bildverlust vermutlich nicht verstehe. Dennoch ist es für mich wie eine Meditation. Ich lese es seit Monaten. Die Lektüre nähert sich dem Ende. Der Abschied fällt mir schon jetzt schwer. Wird aber erleichtert durch die Tatsache, dass auf meinem SuB noch drei weitere Handke-Bücher meiner harren. Kali, Vor der Baumschattenwand nachts und Die Obstdiebin. Glück hat einen Namen. Für mich: Handke lesen. Also, es gibt noch eine Reihe andere Dinge, die mich glücklich machen. Aber Handke lesen ist eine zuverlässige Glücksquelle und ich weiß gar nicht, ob ich seine Bücher hier empfehlen kann. Denn manchmal fürchte ich, den meisten geht es mit Handke wie meiner Kollegin. Sie sagte letztens: „Handke??? Ist der nicht unheimlich kompliziert?“
„Ja“, erwiderte ich. „Genau!“ Oder auch nicht. Überhaupt nicht.

Gott sei Dank habe ich mehrere Kollegen und, ich weiß, das ist ein Privileg: drei von ihnen lieben Handke. Drei von 10 Kollegen lieben Handke! Vermutlich ist das überdurchschnittlich. Wir tauschen seine Bücher aus. Einer hat mir vor kurzem Kali geliehen. Ich habe einem anderen Die Obstdiebin geschenkt, weil ich sie zum Geburtstag zweimal bekommen habe. Er liest seit Monaten darin, steht in meinem Büro und zitiert oder berichtet. Es ist, als würden wir gemeinsam meditieren. Ich weiß, ich habe eine wirklich privilegierte Arbeitsstelle. Und es ist noch nicht einmal ein Buchladen oder eine Bibliothek.

Während ich Der Bildverlust lese, öffnen sich innere Räume in mir, die eine Weite haben. Ich finde dafür keine Worte. Selbst, wenn ich lange suche, finde ich keine Worte dafür.
Eine Reise in eine vollkommen neue Welt, für mich. Die Protagonistin kehrt zurück. Eine Reisebeschreibung einer Reise in die Sierra de Gredos, Hondareda, Pedrada. Eine Frau verlässt ihr Haus in der Flußhafenstadt und reist in diese Gegend, in der sie schon einmal gewesen ist. Damals schwanger mit ihrer Tochter, verlor sie dort den Geliebten.
Sie war einmal Schauspielerin.
Sie war einmal Bankfrau.
Sie hat ihre Tochter verloren. Zweimal. Auch ihren Liebhaber. Ihr Bruder ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.
Eine Reise in eine fremde Landschaft, die doch vollkommen vertraut ist und dazu anregt, sich zu entspannen, selbst da, wo die Gefahr lauert. Und die Gefahr lauert. Nichts, was so ganz es selbst ist, kann unbehelligt unter Menschen existieren. Es wird in seiner Besonderheit unvermeidlich irritieren und also angegriffen werden.
Das Buch ist voller Poesie.
Ein Reisebuch, das eine innere und eine äußere Reise beschreibt.
Die Protagonistin wird unter anderem auch Die Obstdiebin genannt. Was mich mit großer Vorfreude auf dieses gleichnamige Buch erfüllt, das schon seit meinem Geburtstag auf meinem SuB auf mich wartet, und welches mein Kollege bereits meditiert. Denn eigentlich liest man Handke nicht. Man meditiert Handke.
Vielleicht ist dieses Buch ein Koan? Es enthält Sätze, die mich aufleuchten lassen, weil ich sie mit meinem ganzen Sein sofort begreife. Ähnlich geht es einem doch mit Koans, oder nicht?

„Ich kann nichts Besseres für dich tun, als bei dem zu bleiben, was ich tue. Indem ich das, was ich tue, rhythmisch tue, gewissenhaft rhythmisch, ohne Nachlässigkeit, immer weiter den mir entsprechenden Rhythmus erfüllend und ihn zum Vibrieren, Oszillieren und Vorspuren bringend, tue ich für mich und für dich das Beste, was ich für mich wie für dich tun kann.“

Niemand, kein anderer Autor schreibt wie Handke über Frauen. Für Frauen. In einer Weise, dass die Gegensätze der Geschlechter zu einer Einigkeit verschmelzen, als gäbe es nur die Liebe als Möglichkeit, oder aber die vollkommene Getrenntheit, wobei eines nicht schlechter ist als das andere. Was gar nicht geht, ist das Mittelmaß, der unlautere Kompromiss. Wenn die Liebe nicht möglich ist, dann bleibt man allein. Dann geht man kompromisslos auf den Berg, in die Wüste, und wirft sich auf sich selbst zurück.
Ich liebe Handkes Bücher. Sie sind  für mich wie Handbücher zur Erforschung meines eigenen Seelenraums. Allerdings weiß ich nicht, ob ich sie empfehlen kann. Ich fürchte, nicht jeder wird sie mögen.

„Was ist für dich Rhythmus?“ ---- „Bestärkung des Vorhandenen.“

Niemand schreibt sich selbst, wie Handke, so konsequent in seine Bücher hinein. Alle lese ich sie auch als Autobiographie seiner Innenwelt. Denn natürlich gibt es in dem Buch nicht nur eine Obstdiebin, eine Abenteurerin, eine Bankerin. Es gibt auch einen Autor. Er schreibt, im Auftrag der Frau, die Geschichte ihrer Reise und ihres Bildverlusts, somit das vorliegende Buch. Eine Liebesgeschichte.

"Und schließlich hielt der Autor noch eine Rede über die heutigen Bleistifte, die kaum mehr etwas taugten; vor allem brächen die Minen, oft von ungleich beschaffenen Holzhälften eingefasst, beim Spitzen immer wieder ab;...."

© Susanne Becker


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso