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Meine Buch der Frauentag-Woche - Bettina Wilpert - Nichts, was uns passiert


Nichts was uns passiert von Bettina Wilpert ist ein normales Buch, das eine völlig normale Geschichte erzählt, die so jeder von uns und jedem hätte passieren können, passiert ist. Wenn man bedenkt, dass nur 5% aller Vergewaltigungen überhaupt angezeigt werden, und von diesen 5% wieder nur 5% strafrechtlich verfolgt werden, dann kann man davon ausgehen, dass ziemlich viel unbemerkt vergewaltigt wird in diesem Land.


Jonas und Anna lernen sich in Leipzig auf den Stufen der Albertina durch einen gemeinsamen Bekannten kennen. Sie schlafen einmal miteinander. Sie trinken sehr viel. So viel habe ich in meinem Leben noch nicht an einem Abend getrunken, wie die beiden ständig in sich hinein schütten. Sie treffen sich zufällig immer mal im Laufe weniger Wochen, wenn in Gruppen Fußball geschaut wird. Es ist der Sommer der Fußball-WM 2014. Eine Beziehung will keine von beiden. Sie sind nicht ineinander verliebt.

Am 4. Juli feiert der gemeinsame Bekannte Hannes in Jonas‘ Garten seinen dreißigsten Geburtstag. Es wird eine wilde, eine alkoholschwangere, eine ausschweifende Fußball-Garten-Geburtstagsparty, an deren Ende Anna so betrunken ist, dass sie nicht mehr stehen kann. Hannes und Jonas bringen sie nach oben in Jonas‘ Zimmer. Wach wird Anna davon, dass Jonas ihr die Hose auszieht und in sie eindringt. Sie sagt „nein“, aber ist zu betrunken, auch zu geschockt, um sich wehren zu können.
Die Geschichte einer ganz normalen Vergewaltigung, die so normal ist, dass sie strafgerichtlich nicht verfolgt werden kann. Denn der Einsatz von Gewalt war zu gering, das „nein“ der Frau gilt nicht als genügend Widerstand. Weil ja das „nein“ der Frauen von Männern generell als „ja“ interpretiert wird, so sehr, dass es zu einem kulturellen Erbe unserer patriarchalen Gesellschaft wurde, dem sogar Frauen erliegen und das natürlich auch im Strafgesetzbuch derart seine Niederschrift findet.
Vergewaltigt wird man, wenn man sich mit Händen und Füßen wehrt, der andere einen schlägt, einsperrt, bedroht, man danach grün und blau geschlagen, mit zerfetzten Klamotten irgendwo im Graben liegt. Vergewaltigt wird man in der Regel sowieso von Wildfremden, die einem nachts auflauern. Alles andere ist nicht messbar, nicht verfolgbar.
Das Buch schildert detailliert den Weg zu auf diese Nacht, die alles veränderte, sowohl für Anna als auch für Jonas und dann all die Wochen und Monate danach, als Anna nach zwei Monaten endlich die Courage findet, Jonas anzuzeigen, wie sich dessen Leben daraufhin zerlegt. So wie sich ihres, emotional, schon vorher, ab der Vergewaltigung, zerlegt hat.
Es zeigt die Wirkung auf Opfer, Täter und das Umfeld. Ich erkannte mich in so vielem wieder und war nicht immer glücklich über meine Gedanken während der Lektüre. Zum Beispiel blitzte tatsächlich mehrfach der Gedanke auf: „Ja, mein Gott, sie hat doch vorher mit ihm geschlafen. Muss sie sich so anstellen?“ Oder auch: „Selbst schuld, wenn sie soviel trinkt!“ Bis mir klar wurde, wie sehr ich in dieser patriarchalen Denke feststecke, dass ich von dort komme, mich auch selbst mit ihr immer gemessen habe und Männern gegenüber, wenn es um sexualisiertes Verhalten ging, egal in welcher Form, eine unerträgliche Toleranz an den Tag gelegt habe. Das hat auch mich selbst viel gekostet. Es war mir nicht bewusst. Es ist ein Verdienst dieses Buches, das im großartigsten aller Kreuzberger Verlage, dem Verbrecher Verlag, erschienen ist, mir dies Seite um Seite zu erschließen. Mir die Augen zu öffnen, auf einer persönlichen und auf einer gesellschaftlichen Ebene.
Es zeigt den Umgang unserer Gesellschaft mit den Opfern, mit dem Verbrechen Vergewaltigung, die Zurückhaltung und Unfähigkeit.
Danke Bettina Wilpert, für ein Buch, dem ich sooo viele Leser und Leserinnen wünsche, dass es vielleicht etwas im Großen verändern kann, wie sie es bei mir im Kleinen definitiv geschafft hat. Mein Blick auf die ganze Thematik hat sich enorm geweitet. Das liegt natürlich auch daran, dass es sehr gut geschrieben ist. Der Text zieht einen hindurch. Die Geschichte entrollt sich, ein Protokoll der Vorkommnisse, mit Perspektivewechseln,  unaufhaltsam und man möchte es nicht beiseite legen. 
Ich empfehle es hiermit sehr!

(c)Susanne Becker

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