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Buch der Woche - Das Museum der Unschuld von Orhan Pamuk


„It was the happiest moment of my life, though I didn’t know it.“

Kemal wird sich bald mit Sibel verloben. Das ist abgemacht und die beiden mögen sich sehr, sind ein, nach den Maßstäben der reichen Istanbuler Gesellschaft, perfektes Paar. Sie haben einen großen Freundeskreis, gehen fast jeden Abend im Istanbuler Nachtleben ihrem Vergnügen nach, und haben heimlich in Kemals Büro vorehelichen Sex nach Dienstschluss. 

Bei einem gemeinsam Spaziergang entdeckt Sibel in einem Schaufenster eine Tasche, die ihr unglaublich gefällt. Kemal möchte sie überraschen und betritt am Nachmittag den Laden, um die Tasche für Sibel zu kaufen.
Im Laden arbeitet Füsun, eine junge Verwandte dritten oder vierten Grades. Eine wunderschöne junge Frau von 18 Jahre, deren Eltern nicht so reich wie Kemals sind. Die Mutter hat für Kemals Mutter Näharbeiten verrichtet, als Füsun noch ein Kind, Kemal bereits ein Teenager war. Sie kennen sich also. Eine Verkäuferin, die einmal, Skandal in der reichen Istanbuler Gesellschaft, an einem Schönheitswettbewerb teilgenommen hat. Ein undenkbares Vergehen für jedes Mädchen aus gutem Hause, das etwas auf sich hält.

Was als leidenschaftliche, scheinbar harmlose Affäre beginnt, wird Kemals Existenz vom ersten Moment an ganz bestimmen. Er verliebt sich unsterblich in Füsun und sein Leben verändert sich. Vormals sichere Konzepte wie Liebe, Familie, Ehe werden vollkommen in Frage gestellt, nicht nur für Kemal, sondern im Verlauf der Lektüre natürlich auch für den Leser. Immer wieder fragt man sich: Was ist Liebe? Ist das, was Kemal tut, Liebe? Habe ich jemals geliebt? Möchte ich so lieben? Möchte ich so geliebt werden? Man schwankt zwischen Bewunderung und Verachtung. Hat man doch das Ideal verinnerlicht, dass nichts und niemand einen derart aus der Fassung bringen sollten. Das ist nicht Liebe, sondern Verblendung, eine Projektion, irgendwie auch Blödheit.
Oder nein: es ist wirklich Liebe?
Die Frage: Was ist Liebe? beschäftigt mich schon seit geraumer Zeit. Ich muss oft an ein Zitat von Rumi denken, in dem es dem Sinn nach heißt: Suche nicht nach der Liebe, sondern nach dem, was in dir der Liebe im Weg steht.

Dieses Buch, Das Museum der Unschuld, des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, mein erstes Buch von ihm, ist ein Meisterwerk.
In dieser scheinbar so harmlosen Liebesgeschichte erzählt uns der Autor so viel mehr als die Geschichte von Kemal und Füsun. Vielschichtig, in einem Tempo, das an Langsamkeit kaum zu überbieten ist, es geschieht im Grunde kaum etwas in diesem Buch, das immerhin, ich lese die englische Version, über 500 Seiten lang ist, entfaltet er ein Sittengemälde der türkischen Großstadtgesellschaft in den siebziger Jahren. Das Porträt einer Nation, die beinahe modern geworden wäre, beinahe wie ein europäisches Land. Einer Vision, der gerade die Reichen in Istanbul nachstrebten. Das sich aber dann doch dem religiösen Eiferertum, dem populistischen Fanatismus, immer mehr genähert, schlussendlich unterworfen hat. Deutlich lese ich in diesem Buch Orhans Kritik an der türkischen Politik, die bereits zur Zeit seiner Entstehung in die Richtung strebte, die heute so eine erschreckend diktatorisch anmutende Form angenommen hat. Aber wer weiß, vielleicht ist das auch nur meine Projektion. Denn seit einigen Jahren sehe ich überall Politik. 
Er beendete das Buch 2008, nachdem er fünf Jahre, mit einer kurzen Unterbrechung 2002/03, daran gearbeitet hatte.
Es ist eine literarische Studie auch über das Schicksal von Frauen in einer sie unterdrückenden Gesellschaft, folglich über das Schicksal von Männern, welches niemals ohne die Frauen gedacht werden kann. Kein Mann kann frei sein, wenn es die Frauen nicht sind. Es ist eine Studie über die Liebe. Was ist Liebe? Eine Projektion? Eine Illusion? Ein Gefühl? Ist es Liebe, wenn ich meine Geliebte wie einen Kanarienvogel (ja, auch Lemon, ein Kanarienvogel, spielt in dem Roman eine Rolle) in einen Käfig sperre, damit niemand anderes ihn jemals umarmen oder auch nur anshcauen kann?
Auch ist es eine Untersuchung der Geschlechter und ihres Verhältnisses zueinander. Es ist zart und wehmütig. Es bringt einen in wütende Wallung und ins Schwelgen über Istanbul. Es weckt in einem den Wunsch nach Liebe und die Hoffnung, niemals die Kontrolle so derart zu verlieren, oder aber doch. Ja, es ist ein Meisterwerk, weil es eine Geschichte erzählt, die voller verschiedener Schichten vom persönlichsten ins allgemeinste geht und damit die Leserin so tief berührt, dass etwas in ihr beginnt, sich zu bewegen. 

Als Kemal erkennt, wie sehr er Füsun liebt, ist es zu spät. Sie hat bereits einen anderen Mann geheiratet. Jahrelang besucht er sie dennoch, gibt nicht auf, ermutigt durch Füsuns Mutter, ein Freund der Familie, sitzt er vier bis fünfmal in der Woche am Abendbrottisch der Keskins, schaut mit ihnen Fernsehen, feiert mit ihnen Sylvester und entwendet immer wieder kleine Gegenstände. Er sammelt alles, was für ihn eine Bedeutung in Bezug auf diese große Liebe zu Füsun hat. Memorarbilia seines Herzens. Daraus wird später das Museum der Unschuld, das es im Übrigen in Istanbul wirklich gibt. Orhan Pamuk hat es in einem alten Gebäude im Stadtteil Çukurcuma, in welchem auch Füsun mit ihrer Familie lebt, eingerichtet.
Am Ende der Lektüre steht für mich eine Frage, die durch etwas das Kemals Mutter ihm sagt, ausgelöst wird. Sie sagt: "In a country where men and women can't be together socially, where they can't see each other or even have a conversation, there's no such thing as love;..."
Ich frage mich, ob es überhaupt Liebe geben kann, die keine Projektion ist, keine Überstülpung der eigenen Sehnsucht auf einen anderen. Wenn es gut läuft, passen die Projektionen so zueinander, dass man daraus eine Beziehung basteln kann. Aber ist das Liebe? 

Auf Deutsch ist das Buch bei Fischer erschienen.

Für mich ist die Lektüre der Beginn einer Begeisterung für diesen Autor, den ich schon so lange entdecken wollte und ich werde sicherlich noch einiges mehr von ihm lesen. Ein ganz großer Schriftsteller unserer Zeit. 



(c) Susanne Becker

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