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Corona Tagebuch (59)

 Jeder normale Tag ist unglaublich fragil und kann im Grunde jeden Moment aus dem Gleis laufen. Das ist etwas, das mir durch Corona klar geworden ist.

Gut, das war auch vor Corona schon so. Aber seit Corona ist es deutlicher, zumindest für mich. 

Ich muss jetzt mal was sagen: Seit Corona habe ich auch ein verändertes Verhältnis zu Alufolie.  Jedesmal, wenn ich das Schulbrot meiner Tochter in Alufolie einwickele, wird mir komisch. Weil ich dann an die  denken muss, die gegen die Coronamaßnahmen demonstrieren. Und weil ich welche kenne, die da mit rennen. Und ich fühle mich mal wieder wie vor ein paar Jahren, als ich verstand, dass jemand, den ich sehr gut kenne, zur AfD abrutscht.

Ich habe einen Bekannten, der ernsthaft solche Sachen sagt wie: "Ich habe mir die wissenschaftlichen Daten genau angeschaut und ich habe erkannt, dass es gar nicht mehr Coronafälle gibt, das ist eine Lüge, es gibt nur mehr Tests. Die Presse will lediglich Angst schüren."

Ich so: "Ist ja toll, wenn man plötzlich mit der AfD und Dumpf-Trump einer Meinung ist, oder? Ich meine, spätestens, wenn das so ist, meinst Du nicht, du solltest deine Forschungen dann in Frage stellen? Die Wissenschaftlichen Daten quasi nochmal neu prüfen?" (Und ich frage ihn nicht, weil ich ihn nicht komplett schrotten möchte, wie er als ausgebildeter Künstler überhaupt die Expertise hat, um wissenschaftliche Daten auszuwerten? Ob er noch nebenbei Virologie oder sowas studiert hat und wir haben es alle nicht bemerkt? Nein, das frage ich nicht, weil ich weiß, durch den AfD Freund, dass Menschen, die so derart abdriften, durch knallharte Argumente, die in sich stimmig sind, lediglich noch weiter weg gejagt werden, in eine Radikalität der Unlogik und der Opfermentalität getrieben werden, dass sie sich gedemütigt fühlen durch Intelligenz und Logik, dass es also nichts bringt, oder das Gegenteil bewirkt. Man muss bei ihnen auch noch freundlich bleiben, weil man ja immer die Hoffnung hat, so jemand, mit dem man sich jahrelang supergut verstanden hat, der kann nicht wirklich so abdriften, der kommt wieder zurück, wenn man ihn nicht allzu sehr verletzt. Der wird sich wieder fangen.

Der Bekannte antwortete mir, dass er es auch krass fände, dass plötzlich die falschen Leute die richtigen Meinungen vertreten würden.

Soviel zu Logik.

Soviel zu Freundlichkeit, die man sich abringt, obwohl man eigentlich zusammen brechen möchte.

Er war einer meiner Lieblingsbeannten, haarscharf an der Grenze, ein Freund zu sein und ich befinde mich genau genommen in Trauer. Weil mir das zum zweiten Mal passiert, dass jemand, den ich im Grunde schätze, so derart abdriftet.

Gestern traf ich auf der Straße einen Bekannten, wir redeten ein bisschen, wagten uns erst kaum ans Thema heran und dann sagte er plötzlich und lächelte dabei peinlich berührt: "Du gehst aber nicht demonstrieren, oder?" 

Ich so: "NEIN!! DU ETWA?""

Er so: "NEIN NEIN NEIN!!"

Ich meine, solche Dialoge hat man plötzlich, weil es sein kann, dass einer, den du lange nicht getroffen hast, plötzlich Aluhut trägt. Und weil Du bei manchen das Thema lieber gar nicht anschneidest, weil du auf das Gespräch sehr gerne verzichten möchtest. Aber ich denke immer mehr, man kann auf diese Gespräche nicht verzichten. Man muss ran an den Abgrund und in die Konfrontation.

Vor ein paar Monaten hatte ich ein solches Gespräch mit einer Bekannten. Das war noch am Anfang der Hygiene Demos am Rosa-Luxemburg-Platz und sie erzählte mir stolz, dass sie hin ginge und ich so: "Ach, interessant, da kann ich ja mal jemanden direkt fragen, wie es sich anfühlt, plötzlich Seite an Seite mit Nazis zu latschen."

Sie so: "Also, das schreibt vielleicht die Presse, die sie lesen. Aber ich habe keine Nazis gesehen. Was lesen Sie denn so?"

Ich so, und ich muss sagen, ich fühlte mich wie eine Angeberin, but in a good way: "Spiegel, Tagesschau, taz, Zeit, Guardian, New York Times ... die sagen alle, da waren Nazis. Aber ich vermute, dass sind all die Organe, die bei Ihnen unter "Lügenpresse" (Achtung: Naziausdruck!!) gehandelt  werden, oder? Ich nehme an, Sie holen sich ihre Infos bei Ken FM?"

Es war dann kurz so, dass wir nicht weiter wussten. Dann sagte sie: "Tja, wir haben ja krass unterschiedliche Standpunkte. Aber ich mag sie so und ich denke, man muss versuchen, einander zu verstehen"

Und da hakte es dann bei mir und ich sagte: "Sorry, aber ich will das nicht verstehen. Ich will niemanden verstehen, der mit Nazis kuschelt, die Wahrheit verdreht, Fakten als Lügen hinstellt, die Demokratie untergräbt, Antisemitismus stillschweigend gestattet und sich generell auf einer Seite befindet, die ich einfach nur Scheiße finde. Und ich denke, nein, wir müssen gar nicht versuchen, einander zu verstehen, sondern es ist an der Zeit, den Abgrund einfach mal auszuhalten, der da zwischen uns ist und der ist unüberbrückbar, und der ist wirklich tief, da kann man abstürzen darin auf fucking Nimmerwiedersehen, und ich habe auch keine Lust, mich ranzukuscheln, damit er überbrückbarer scheint. Sie sind eine nette Person, ich weiß, dass sie ein gutes Herz haben, aber ihre Ansichten sind unterirdisch und ganz ehrlich, ich möchte damit nichts zu tun haben."

Und wisst ihr was: Diese glasklare Konfrontation, sie fühlte sich super an. Wir haben uns dann sehr freundlich voneinander verabschiedet. Unser Kontakt, wenn wir uns begegnen, ist seitdem zurückhaltender, aber freundlich. 

Diese Konfrontation gab mir die Richtung vor, wie ich ab jetzt solche Begegnungen händele. Aber klar, man ist nicht immer für diese krasse Konfrontation in Form. Deshalb fragt man manchmal lieber gar nicht: Und? Auf welcher Seite stehst Du? Weil man einfach nicht den Nerv hat, in eine solche Diskussion zu gehen, wo das Gegenüber im Grunde auf einer anderen Realitätsebene denkt und eine Verständigung vom Beginn an ausgeschlossen ist. 

Das, auch das ist Corona. Diese Auseinandersetzungen vor unsere Nase postiert zu bekommen, dass man nicht mehr wegschauen kann, egal, wie sehr man die Augen schließt, dass wir es hier mit Irren und gefährlicher Dummheit zu tun haben, die perspektivisch unser System zersetzen und schon ganz schön weit dabei vorgedrungen sind, das ist ein Ergebnis der Coronazeit, dass man das sehen kann, weil die Angst vor dem Virus den Irrsinn gesteigert und ans Tageslicht befördert hat. So wie alle Angst Befindlichkeiten steigert und Balancen aus dem Gleichgewicht bringt. Und natürlich haben die Leute Angst. Um ihre Existenz, um ihre Gesundheit, um ihre Zukunft. Dank Corona ist es schwieriger geworden, sich zu betäuben und von der Angst abzulenken.

Aber für mich, das merke ich immer deutlicher, ist der Virus eigentlich ein Nebenschauplatz. Ich las es so wunderbar in einigen Texten heute: Unsere Demokratie wurde nicht ins Herz getroffen durch diese Reichskriegsflaggen auf den Treppen vorm Reichstag und dass da, im Gegensatz zu allen Demos, auf denen ich in meinem Leben war und die vermutlich eher links als rechts waren, keine Wasserwerfer auf die Demonstranten gerichtet waren, sondern drei Polizisten dem Mob gegenüberstanden. Das zeigt, wie sehr die Staatsorgane sich immer schon dazu entschieden haben, auf dem rechten Auge blind und auf dem rechten Ohr taub zu sein. Bei einem normalen 1. Mai Aufmarsch in Kreuzberg sind mehr Wasserwerfer. Unsere Demokratie wurde viel früher getroffen und für mich war diese Verletzung deutlich zu sehen an der Tatsache, dass die Angehörigen der Opfer von Hanau nicht öffentlich trauern durften, aber die Rechten und Dummen dürfen marschieren, wie es ihnen gefällt. Das trifft für mich mitten ins Herz unserer Gesellschaft und die ist angeschlagen. Massiv.  Über solche Sachen denke ich schon morgens nach, wenn ich das Schulbrot meiner Tochter in Alufolie einschlage, damit es sich in der Papiertüte nicht auflöst. Freie Assoziation vom Feinsten. 

Aber es gibt auch eine wirklich gute Nachricht: Prof. Drosten ist aus der Sommerpause zurück! Er hat gestern nochmal erklärt, warum Masken super sind. Zum Beispiel, ich verdrehe hier ein klitzekleines bisschen seine Aussage: Weil man den Mundgeruch der anderen nicht mehr riecht. Und weil Mundgeruch Aerosole sind, heißt das übersetzt: die kommen auch nicht zu einem.

Gut, man riecht jetzt deutlich sich selbst unter der Maske, aber das bewegt einen auch dazu, sich öfter mal um die eigene Mundhygiene zu kümmern, oder?

Ich war heute übrigens im Jüdischen Museum Berlin und möchte Euch die neue Dauerausstellung, die seit Mai geöffnet ist, sehr empfehlen. Darin kann man auch dieses Werk von Anselm Kiefer sehen. Ich sitze sicher zehn Minuten davor und bin vollkommen geflasht von der Schönheit des Bleis und der Glasscherben  als meine Tochter kommt und sich zu mir setzt. Ich sage: Mein Gott, es sieht aus wie die Sachen von Anselm Kiefer. Meine Tochter so: Es ist ein Werk von Anselm Kiefer, Mama. Ich saß tatsächlich davor und dachte, jemand hat Anselm Kiefer quasi kopiert. Haha. 

Jedenfalls heißt es : Breaking the Vessels und ist Resultat von Kiefers intensiver Auseinandersetzung mit der Kabbala. Seine Bedeutung würde ich vielleicht wie folgt zusammen fassen: Die Welt wurde nie geschaffen, damit sie perfekt ist. Die Fehler, alles was zu Bruch geht, es ist immer schon Teil des Ganzen. Dein Scheitern ist dein Weg und somit möglicherweise dein Sieg.

(c) Susanne Becker





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