"Lesen heißt, die Worte als Lichter zu sehen, sie leuchten in der Dunkelheit, eines nach dem anderen, und Lesen bedeutet, den Lichtern ins Innere zu folgen." Karl Ove Knausgård
Für mich sind oft Bücher wie Lichter. Mein Lebensweg in die Zukunft gerichtet noch ein großes Fragezeichen, taste ich mich oft an den Büchern entlang, von Woche zu Woche, so dass das Lesen eine Spur wird, der ich folge. Ein Buch führt mich zum nächsten, gemeinsam ist ihnen, dass ich mit ihrer Hilfe versuche, das Leben im Allgemeinen, aber auch mein individuelles Leben zu begreifen. So war es auch ein bisschen in diesem Sommer. Ich las die neue Biografie über Simone de Beauvoir von Kate Kirkpatrick. Sie ist im April im Piper Verlag erschienen. Das Buch führte mich auch in meine Teenagerzeit zurück, als ich Beauvoir zum ersten Mal begegnete.
Ich habe früher alles über und von Simone de Beauvoir gelesen. Dabei war ich nie ein Fan ihres Schreibens, sondern immer eher begeistert von ihrer Person und ihrem Denken. Ihr gesamtes Leben faszinierte mich. Nachdem ich im Philosophieunterricht zunächst Sartre begegnet war, entdeckte ich natürlich sehr schnell auch sie und ihre ungewöhnliche Beziehung zueinander. Ich kam aus einem Zuhause, in welchem Frauen gar nicht arbeiteten, geschweige denn Abitur machten oder studierten. Auch Männer machten in meiner Familie nicht Abitur oder studierten. Dass ich aufs Gymnasium kam, im Philosophieunterricht Jean Paul Sartre und daraufhin auch Simone de Beauvoir begegnet bin, das ist eine Art Quantensprung gewesen. Die Frauen in meiner Familie machten die Hausarbeit, sie kochten, sie wuschen Wäsche, sie arbeiteten im Stall, im Garten und auf dem Feld und sie trugen dabei Kittelschürzen, die bunt gemustert waren und die Kleidung vor dem Dreck der Arbeit schützen sollten. Ich sah niemals eine der Frauen meiner Familie irgendwo sitzen und ein Buch lesen oder etwas anderes als einen Einkaufszettel schreiben. Wie ich überhaupt auf die Idee kam, dass es für Frauen ein anderes Leben geben könnte, ist mir nicht ganz klar, aber Simone de Beauvoir bewies mir als Teenagerin, dass mein kindischer Verdacht richtig gewesen war. Es gab solche Frauen. Vielleicht momentan nur in Paris, aber das war okay. Ich konnte dorthin ziehen, es war nur circa vier Stunden von meinem Zuhause entfernt.
Ich las alles über sie, was ich in die Finger bekommen konnte, und das war zu diesem Zeitpunkt nicht sehr viel, und es stand immer in direktem Zusammenhang zu Sartre. Warum ich dennoch als Teenagerin nicht eine Sekunde davon ausging, dass sie sein Anhängsel oder weniger wert sein könnte, weiß ich nicht. Ich wusste einfach, dass sie die Art Frau war, die ich sein wollte, und dass sie die Art Beziehungen führte, die ich führen wollte, und das meinte für mich damals Sartre und Nelson Algren und die Clique von Intellektuellen in Paris. Im Café schreiben, debattieren, lesen, reisen, das sollte meine Zukunft werden. Ich wusste nichts von all den anderen Beziehungen, die sie hatte. Wie man der neuen Biografie entnehmen kann, steckt dahinter eine gewisse Absicht. Sie hat vieles verborgen und auch gelogen. Man erfährt durch die Lektüre nun einiges über diese anderen Beziehungen, über die Frauen und Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielten. Ich wusste zum Beispiel nicht, oder hatte es wieder vergessen, dass Simone de Beauvoir jahrelang mit Claude Lanzmann zusammen gelebt hat. Er war der einzige Mann, mit dem sie je eine Wohnung geteilt hat. Er war siebzehn Jahre jünger als sie und die beiden verliebten sich schlagartig ineinander. Sie unterstützten und inspirierten sich bis zu ihrem Tod, auch als sie längst getrennt waren. Simone de Beauvoir half ihm, unter anderem auch finanziell, bei der Realisierung seines Films Shoah.
Man erfährt aus der Biografie sehr viel darüber, was Simone de Beauvoir als Philosophin geleistet hat, und dass das Werk Sartres ohne sie absolut undenkbar wäre. Er war nicht der originäre Denker der menschlichen Freiheit, für den man ihn hielt. Möglicherweise war sie es. Oder aber ihr gemeinsames Denken produzierte beider Werke. Sie konnten nicht arbeiten, ohne sich ständig miteinander auszutauschen. Mich faszinierten beide. Ich liebte die Bücher von Sartre. Die von de Beauvoir langweilten mich, ehrlich gesagt, manchmal. Aber der Gedanke, dass man als Mensch frei, ja, zur Freiheit geradezu gezwungen ist, gefiel mir auf der Stelle. Ich weiß nicht, warum. Ich sah die beiden nie als Einheit, aber doch als Paar, das mich inspirierte, jeder auf seine Art und für meine Entwicklung, und für meinen Blick auf die Welt gab es kaum wichtigere Menschen in meinen Teenagerjahren. Ich sah sie als Individuen, die ein Paar bildeten. Genau das war das Faszinosum, dass sie sich nicht aufgeben mussten, um ein Paar sein zu können. Dass man als Frau man selbst und klug sein und dennoch eine Beziehung haben konnte, und dass eventuell unsere Gesellschaft, unsere Familien, nicht so begeistert davon sind, wenn Frauen ihre Kittelschürzen ablegen und den Haushalt Haushalt sein lassen.
"Seit Platon haben sich Philosoph*innen mit der Bedeutung der Selbsterkenntnis auseinandergesetzt, die zu einem guten Leben führt. Sokrates forderte "Erkenne dich selbst!", um Weisheit zu erlangen; "Werde, der du bist!" sei die Aufgabe eines jeden Menschen, schrieb Nietzsche. Doch Beauvoirs philosophische Erwiderung lautete: Was, wenn "der du bist" für eine Frau verboten ist? Was, wenn du selbst zu werden so angesehen wird, als scheiterst du, das zu werden, was du sein solltest - ein Scheitern als Frau, als Liebende, als Mutter? Was, wenn du selbst zu werden dich zur Zielscheibe von Gespött, Bosheit und Scham macht?"
An vielen Stellen klang das Buch wie eine Verteidigung Simone de Beauvoirs, endlich soll sie so gesehen werden, in all ihrer Größe und Originalität, wie sie bislang nicht gesehen wurde. Für meine persönliche Wahrnehmung von ihr war das nicht nötig. Für mich war sie immer groß (und die klein, die das nicht sahen). Aber es ist natürlich absolut verständlich vor dem Hintergrund all der Diffamierungen und Anfeindungen, der Diskriminierungen und misogynen Bemerkungen und Attacken, denen sie immer wieder ausgesetzt war. Wieder und wieder wird sie als nichts anderes bezeichnet, als die Freundin Sartres. Ihre Gedanken werden Sartre zugeschrieben. Es wird ihr unterstellt, dass ihre Bücher von Sartre quasi geschrieben oder abgeschrieben seien. Dabei ist die Wahrheit, dass es in vielen Fällen umgekehrt war.
Nachdem es vor kurzem in der Zeit einen Artikel über die
Hannah Arendt Ausstellung hier in Berlin gab (sie ist nur noch bis zum 18. Oktober zu sehen, falls es jemanden interessiert) , in der sie in der Schlagzeile ("Wie ich begriff, warum die Deutschen die Ex-Geliebte von Martin Heidegger lieben") als
frühere Geliebte Heideggers charakterisiert wurde, kam ich zu dem Schluss, dass sich seit Beauvoirs Tod nicht so viel verändert hat.
De Beauvoir ist eine Feministin gewesen. Sie hat der Welt vermittelt, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Umstände zu einer gemacht wird. Sie hat viele Anliegen unterstützt, die nie selbstverständlich waren, wie z.B. legale Abtreibung, aber jetzt wieder so bedroht werden, dass die Befreiung der Frauen in der westlichen Welt eine Rolle rückwärts machen könnte, und zwar sehr bald. Dass sie meine
persönliche Feministin war, also meine Wegbereiterin in eine Art von Freiheit für mich als junges Mädchen, das in meiner Familie bislang keine andere Frau gekannt hatte, das
hätte ich damals nicht so formulieren können. Erst in der Rückschau erkenne ich, wie wichtig sie für mich war. Nach dem Abitur habe ich sogar Philosophie studiert, wegen ihr und Sartre, weil
ich wie sie sein wollte und weil mich nichts anderes interessierte, als die Welt
zu begreifen und in Cafés zu sitzen, um darüber zu sprechen. Aber ich war dabei unreflektiert. Ich habe meine
Magisterarbeit über Sartre, Nietzsche und Camus geschrieben, auch Beauvoir einzubinden, der Gedanke kam mir gar nicht. An meiner Universität handelten alle Philosophiekurse von Männern und deren Gedanken. Das fiel mir damals nicht weiter auf. Es war die Norm.
Ich möchte diese Biografie sehr empfehlen. Sie schließt viele Lücken des Wissens über sie und sie bringt sie noch einmal in ihrer vollen Größe ins Bewusstsein. Das hat mich gefreut, weil sie mit Sicherheit eine der wichtigsten Philosophinnen des letzten Jahrhunderts gewesen ist. Es hat mich allerdings auch desillusioniert. Ich hielt sie für ziemlich perfekt. Das Buch zeigt: sie war es nicht. 😇
Ich lese mich also quasi durch mein Leben. Daher möchte ich weiter machen mit meiner aktuellen Lektüre, wobei ich einen ganzen Stapel Bücher
überspringe, die ich seit de Beauvoir gelesen habe.
Trauerhalle Jüdischer Friedhof Berlin Weißensee |
Ich lese zur Zeit ein Buch von Karl Ove Knausgård, Kämpfen, und ich weiß, der Übergang ist harsch, und dennoch sah ich gestern Abend den Zusammenhang zwischen beiden Lektüren, weshalb ich diesen Text schreibe. Und ich hoffe, ich kann mich euch verständlich machen.
Ich ging lange nicht davon aus, dass dieses Buch mich interessieren würde.
Aber da ich selbst sehr viel autofiktional schreibe und gerade wieder mit einem
neuen Projekt begonnen habe, kam es mir in den Sinn. Ich hatte einige der anderen Teile von Mein Kampf bereits gelesen und teilweise gemocht und dachte zu wissen, worauf ich mich einlasse. Schon nach
wenigen Zeilen konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Es ist der letzte Band
seiner sechsteiligen Reihe Mein Kampf und ich hätte es nicht erwartet, da ich nie genauer recherchiert habe, wovon dieses Buch handelt, aber es
handelt tatsächlich von Hitler und dem Holocaust. Ich hatte wirklich bis zum Beginn der
Lektüre dieses Bandes gedacht, dass der Titel Mein Kampf, nichts, aber auch gar
nichts, mit der deutschen Geschichte zu tun hätte. Da ich niemals eine Rezension oder ähnliches über diesen letzten Band gelesen habe, habe ich innerlich den
Autor jahrelang sogar dafür gescholten, dass er ausgerechnet diesen Titel gewählt hat. Ich habe Knausgård unterschätzt. Denn mit
diesem letzten Band legt er meiner Ansicht nach eine Art Superwerk vor, das ich so von ihm nicht
erwartet hatte. Ich habe viele seiner Bücher gelesen, auch einige davon geliebt, manchmal, aber mit einem solchen
Abschluss hätte ich nicht gerechnet. Er ist in so vieler Hinsicht so ungewöhnlich, auch mutig.
Ausgangspunkt ist die Situation kurz vor Veröffentlichung seines
ersten Bandes von Mein Kampf, Sterben, als sein Onkel mit allen Mitteln versucht, die
Veröffentlichung zu verhindern. Diese offene Feindschaft des Onkels belastet
Knausgård sehr und als dieser verlangt, dass er bestimmte Namen weg lässt oder
verändert, beginnt er mit einer Meditation darüber, was Namen sind und
bedeuten.
Vom Namen seines Vaters ausgehend wandert er bis zu einem Namen für das Grauen,
den es im Grunde nicht geben kann.
In diesem Text wird auch wieder Claude Lanzmann erwähnt. Denn Knausgård hat seine neunstündige Dokumentation
Shoah angeschaut. "Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll." Jesaja 56,5
Der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist ein Gedicht von Paul Celan, Engführung, das Knausgård auf vielen Seiten Wort für Wort analysiert, ohne je Worte wie Auschwitz oder Gaskammer zu erwähnen. Kein Name.
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen - er hat
keinen Namen. Sie lagen nicht dort
So wie das Gedicht diese Worte ja auch nicht
verwendet, denn den Worten kann nicht mehr vertraut werden. Sie wollten leuchten, aber sie wurden missbraucht. Für das, was geschehen ist, kann es keine Worte geben. Es ist aus der Sprache gefallen. Erst am Ende der Analyse benennt er es und kommt er zu dem Film Shoah und
dann auch bald zu Mein Kampf von Adolf Hitler, das er liest, und das er an vielen Stellen zitiert und an dem entlang er sich durch das Leben Hitlers tastet. Dies tut er nicht aus der Distanz, sondern er fühlt sich geradezu ein in den jungen Menschen Adolf Hitler, bei dem er sogar Parallelen zu sich selbst entdeckt. Das liest sich manchmal wie ein Tabubruch. Hitler wird als Mensch gesehen, nicht als Monster. Er wird als jemand geschildert, der auch Qualitäten hatte, der sich um seine sterbende Mutter liebevoll kümmerte. Es liest sich dennoch hunderte von Seiten lang wie eine Tortur. Ich konnte das Buch manchmal tagelang nicht in die Hand nehmen, weil ich diesen Menschen Adolf Hitler einfach nicht treffen wollte, auch nicht, gerade nicht an dem Punkt, an welchem er noch eine Wahl gehabt hätte. Jemand zu werden, der nicht Millionen Menschenleben vernichtet.
Dies ist auch meine erste Begegnung mit dem Originaltext Mein Kampf, einem Text, dem
ich mich immer entzogen habe, ich habe mich davor geekelt, denn allein der
Gedanke, dieses Buch zu lesen, brachte mir etwas nahe, das ich mir vom Leib
halten wollte und aus der Seele. Die Möglichkeit des Menschen, sich abgrundtief
unmenschlich zu verhalten und noch viel schlimmer, anderen ihre Menschlichkeit
durch komplette Entwürdigung und Vernichtung zu nehmen. Das ist so schrecklich,
und obwohl ich viele Bücher über den Holocaust gelesen, obwohl ich mich immer
wieder mit dem Thema beschäftigt habe, hat mir doch erst die jüngere Zeit
gezeigt, wie es geschehen konnte. Denn das war immer meine motivierende Frage: Wie konnte so etwas geschehen? Hinter dieser Frage stand die Überzeugung: Es würde nie wieder geschehen. Nichts dergleichen würde noch einmal geschehen, weil die Menschen lernten und sich entwickelten, weil sie in ihrer Freiheit das Gute wählen würden. Das war natürlich naiv. Es geschah die ganze Zeit. Nur nicht in meinem direkten Umfeld. Das ist die Veränderung, die es noch unerträglicher macht. Jetzt geschieht es in meiner Welt.
Denn seit einigen Jahren geschieht ja wieder etwas. Die Entmenschlichung wird vorangetrieben, und sie beginnt, wie auch schon bei den Nationalsozialisten, in der Sprache. Wie Politiker in unserem Umfeld durch ihre Sprache Tabus brechen und langsam das Terrain dessen erweitern, was möglich ist (vieles was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien), was sagbar ist und was man in der Konsequenz (an)tun kann, anderen, dem Land, der Menschheit, dem Planeten, Was geht? Das wird mit Sprache ausprobiert und man kann an manchen Stellen auch schon die Taten erkennen, die aus dieser Sprache hervor steigen.
Knausgårds Worte zu lesen, die poetisch sind, glasklar und sehr klug, schmerzt, weil sie mir viel näher kommen, als ich es will. Es wäre eine Sache, diese Analyse Zuständen der weit zurückliegenden Vergangenheit zuzuordnen. Es ist etwas ganz anderes, dass alles, was er schreibt, im Heute zu lesen und zu spüren, wie sehr es unter Umständen in unsere Zukunft weist und nicht einfach die Vergangenheit betrifft.
Die geistige Welt, die sich mir damals durch Simone de Beauvoir eröffnete, war getragen von Vernunft, Freiheit, der realistisch erscheinenden Möglichkeit von Gleichheit aller Menschen, soziale Werte standen nicht in Frage, sondern wurden gerade immer konsequenter implementiert und wurden während meiner Lebenszeit kaum hinterfragter Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung. Es ging eher darum, ihren Einfluss zu vergrößern. Als ich begann, Simone de Beauvoir zu lesen, hatte ich keinen Zweifel daran, dass wir alle aus der Vergangenheit das gleiche gelernt haben. Simone de Beauvoir war für mich eine der Vertreterinnen einer Welt, die anders sein würde, klug, sozial, mitmenschlich, gleiche Rechte für alle. Jedes ihrer Worte war für mich ein Licht. Ich war voller Hoffnung.
Auch Knausgårds Worte sind Lichter, die zeigen, wo die Dunkelheit ist. Bewundernswert seine Kraft und sein Mut, mit denen er in Kämpfen bis an den Rand dessen geht, was Menschen sein und tun können. Aber die Wahrheit ist auch, dass da wenig Hoffnung ist, und eher Sorge.
Lesen heißt, die Worte als Lichter zu sehen, und doch ist es die Sprache, die uns als erste in die Dunkelheit führt. Diese beiden Bücher markieren für mich so ein wenig den Beginn und das Ende meiner Naivität in Bezug auf den Zustand der Welt.
Also auch Kämpfen möchte ich euch empfehlen. Es hat über 1200 Seiten. Man liest es nicht im Vorübergehen. Aber es ist die Mühe wert.
P.S. Ich habe den Film Shoah von Claude Lanzmann nie gesehen. Heute habe ich ihn mir besorgt.
(c) Susanne Becker
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