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Blaue Wunder

I want to live in the realm of possibility

not in a place, where everything has already happened.



Diese Woche ist in vieler Hinsicht sehr aufregend. Ich ahnte es schon vorher, und habe sie deshalb letzten Sonntag Abend mit zwei Gin Tonics und zwei Freunden im Südblock eingeläutet. Der Südblock ist eine der tollsten Kneipen in Berlin und muss natürlich seit Montag geschlossen bleiben. Ich wollte mich an diesem Abend also selbst trösten, dabei ist mir wieder aufgefallen, wie unglaublich gut ich Gin Tonic vertrage und dass es einfach der leckerste Drink ist. Meine Meinung! Ich wollte aber auch noch einmal in die Kneipe, in eine Kneipe, die ich so richtig mag. Keine Panik: Wir waren draußen, wir haben Abstand gehalten, das ganze Hygienekonzept ist sicher tausendmal besser als in jeder orthodoxen Kirche, wo, ich hörte es kürzlich von einem Mitglied, immer noch aus einem Kelch getrunken wird. 

Wir sind wieder in einer Art Lockdown. Aber ehrlich gesagt fällt es hier in Berlin, abgesehen von den geschlossenen Kneipen, kaum auf, und sowieso: anstatt jeden Morgen auf die Zahlen vom Robert Koch Institut zu starren, starren wir alle seit Mittwoch auf die Zahlen von CNN. Ich kenne im Grunde niemanden, der nicht darauf hofft, dass dieses orangene Riesenbaby mit falschen Haaren endlich nicht mehr ständig in den Nachrichten ist. Allerdings hat besagtes Riesenbaby bereits am Mittwoch in einer Pressekonferenz erklärt, dass er die Wahl gewonnen habe und seine kriminelle Familie sowie seine Anhänger wollen die Lüge glauben, so wie die gesamte Präsidentschaft hindurch Lüge und Unwahrheiten, Unanständigkeit und Gemeinheit regiert haben. Der Sohn des orangen Monsters rief gar zum „totalen Krieg um das Wahlergebnis auf“, und keiner kann mir erklären, dass die verbale Anlehnung an Joseph Goebbels ein dummer Zufall gewesen ist. Es war ein weiteres Austesten, wieweit man die Menschen in einen Krieg pushen kann, um den eigenen Hunger nach Macht und Geld zu stillen. Die Anhänger Trumps gegen die Anhänger der Demokratie. Für mich ist dieser Kampf auch noch nicht ausgestanden. Ich traue Trump und seinem Clan jede kriminelle Handlung zu, auch das gewaltsame Stehlen des Wahlsiegs. Ihm wird jeder schmutzige Trick recht sein. Bis Januar ist noch sehr lange hin. 74 Tage bis zur Vereidigung Bidens. 

Um etwas von dem Phänomen zu verstehen, sah ich mir auf Arte eine Dokumentation über Melania Trump an, seine 3.? Ehefrau, oder ist sie schon die 4.? Wen interessiert es auch. Sie wäre, nach Aussage meines Kollegen und ich stimme ihm zu, eine fabelhafte KGB Agentin. Ein gefühlloser Roboter mit makellosem Äußeren, die davon profitiert, dass man sie ständig unterschätzt.

Nach dieser Doku, vor allem dem Auftritt der Trumpettes, war ich mir sicher, dass Bidens Wahlsieg nicht sicher ist. Der Film lässt tief blicken in die amerikanische Seele und kann noch bis zum 31. März 2021 angeschaut werden. 

Daraufhin sah ich mir noch eine  weitere Doku an, über Toni Morrison, Amerikas Gewissen, (noch zu sehen bis zum 1. Februar 2021) und sie erinnerte mich daran, wie wichtig Joe Bidens und Kamala Harris` Wahlsieg sein würde. Sie erinnerte mich auch daran, wie sehr Trumps Präsidentschaft mich vier Jahre lang emotional und seelisch belastet hat. Jeden Tag kam irgendeine Nachricht, über die ich mich ärgerte, die mich zutiefst verunsicherte, die mir Angst machte und mich an einen Fortbestand dieser Welt teilweise kaum noch glauben ließ. Wenn das unverfroren charakterlose so offen die Macht hat und tut, was es will, das verletzt uns alle, es erschüttert uns alle in unserem tiefen Hoffen und dem Wunsch, an das Gute, an die Menschen zu glauben. Ich dachte oft an meine Töchter und ob sie wohl, unter anderem auch dank Trump, einen 3. Weltkrieg erleben würden. Das schien mir nicht abwegig. Trump gehört zur dunklen Seite. Ich nannte ihn immer, "der, dessen Namen wir nicht nennen", weil ich 1. wusste, dass Menschen wie er die Aufmerksamkeit aufsaugen wie Vampire das Blut und davon leben, 2. wegen Voldemort und 3. weil er ein Lord der Dunkelheit ist, so wie bei uns die AfD. Ist ja kein Zufall, dass diese Partei mal wieder die einzige war, die auf einen Sieg dessen, dessen Namen wir nicht nennen, hoffte. Hätte er gewonnen, dann wäre das eine weitere Energiespritze für die Dunkelheit gewesen. Dass er verloren hat, füttert das Licht. 

Ich las ein Buch von James Baldwin, Nach der Flut das Feuer, das er 1963 geschrieben hat und ich war erneut schockiert, wie wenig sich letztlich geändert hat. Seine Bücher wurden neu übersetzt und sind alle bei dtv erschienen. Lohnt sich! Wie sehr dieses hässliche Amerika, das Baldwin in einer Sprache schildert, die einen zum Weinen bringt mit ihrer klirrenden Präzision und ihrer waghalsigen Schönheit, in den vier Jahren unter Trump sein Gesicht offen zur Schau stellte, stolz und sich kaum unterschied von jenem von Baldwin gezeigten Fratzengesicht. Aber ich musste auch an die Worte einer neuen Kollegin denken, die sagte, dass das ja gerade das Gute sei: Es war immer da, vor allem auch in den Jahren unter Obama, als man in dem Wahn lebte, es sei nicht da, aber jetzt sieht man es offen und das macht es viel leichter, etwas dagegen zu tun und es hat die Gegenseite enorm erstarken lassen. 

In dem Buch von Baldwin las ich unter anderem dies:".... dass eine Zivilisation nicht von Bösewichtern zerstört wird; der Mensch muss nicht böse sein, nur rückgratlos." 

Ich lese ein Buch von Teju Cole, mal wieder, diesmal ist es Known and strange things (Auf Deutsch ist es bei Hanser unter dem Titel Vertraute Dinge, fremde Dinge, erschienen). Ich liebe Teju Cole. Ich liebe alle seine Bücher. Er ist so unglaublich klug und weiß so viel. Einer meiner schönsten Abende in 2019 war der Abend auf der Dachterrasse der Schwangeren Auster hier in Berlin, als er die Rede hielt zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises. Hier ist der Link zu dieser Rede. Sie war wunderbar!



In einem kurzen Text über den Film Rot von Krzysztof Kieslowski, den Cole als seinen Lieblingsfilm bezeichnet und den ich jetzt, zusammen mit seinen Partnerfilmen Weiß und Blau unbedingt noch einmal sehen möchte, schreibt Cole: „I learned from Kieslowski, how unforeseen encounters can subtly pile up and determine the course of a person’s life.“

Es gibt Sätze, die mich wie ein Blitz treffen, während ich sie lese. Dieser Satz gehört dazu. Mir war sofort klar, dass er mich dazu anregen wird, lange und intensiv über all die unvorhergesehenen Begegnungen in meinem Leben nachzudenken, die mein Leben tief beeinflusst, geformt und bestimmt haben. Es gibt so unglaublich viele Begegnungen, aber die wenigsten sind von Bedeutung. Jene, die das Leben wirklich bestimmen, sind am Ende vielleicht an höchstens zwei Händen abzuzählen, wenn überhaupt. Je älter man wird, desto klarer sieht man ja auch Kausalitäten im Lebensweg und dazu gehört es für mich, an jene Menschen zu denken, die mein Leben bestimmt haben. Sei es im Rahmen langer Beziehungen oder im Rahmen kurzer Begegnungen.

Die unvorhergesehenen Begegnungen, die sich ansammelten und den Kurs meines Lebens bestimmt haben, indem sie mich über alle Maßen öffneten oder mich an Orte führten, zu anderen Menschen und es weiterhin tun, gerade in den letzten Wochen und Monaten, in dieser Coronawüste ohne Abenteuer, wurden sie wieder bedeutungsvoller.

Manchmal kommt es mir vor wie Magie, ein Wunder, Schicksal, Karma, kleine Momente und größere, und an sie alle zu denken, machte mir klar, dass ich immer jemand gewesen bin, die an Wunder geglaubt hat. Ich könnte beinahe sagen, dass ich mein Leben lang geradezu hysterisch an Wunder geglaubt habe. In einem Ausmaß habe ich daran geglaubt, dass mir nicht nur einmal vorgeworfen wurde, ich trüge eine rosarote Brille, ich sei nicht erwachsen, unvernünftig, unreif. Im Laufe der Jahre bemühte ich mich deshalb, so wenig wundergläubig wie wenig zu sein, also einfach mal ein bisschen vernünftiger zu werden. Aber es gelingt mir nur schwer und die Wahrheit ist, dass ich immer noch denke, dass die unwahrscheinlichsten, die magischsten Dinge praktisch jederzeit geschehen können. Man muss nur daran glauben.

Meine Tochter war als kleines Mädchen zwischen 2 und 5 Jahre in einem ziemlich wilden Kinderladen in Neukölln. Keines der anderen Kinder glaubte beispielsweise an das Christkind. Ich fürchtete um ihren Seelenfrieden. Sie glaubte an Elfen, Feen, das Christkind, Wunder, Magie, den üblichen Kram. Ich hatte Angst, dass ihr diese magische Welt zerstört würde. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, denn sie war vollkommen unbeeindruckt von den Meinungen der anderen und erklärte ihnen eines schönen Advents, dass sie großes Mitleid für sie alle empfinde, denn leider sei es beim Christkind nunmal so, dass es nur zu den Leuten käme, die auch an es glaubten. Mit anderen Worten: Sie rechnete fest mit seinem Besuch, während die anderen leider und sehr offensichtlich darauf verzichten müssten!

Tja. Genauso ist es! Und genauso ist es auch mit Wundern, Magie, Glück, Liebe. Solche Dinge widerfahren nur jenen, die daran glauben, dass es sie überhaupt geben kann. Sie widerfahren natürlich auch nur jenen Menschen, die wollen, dass sie ihnen widerfahren. Denn sobald Magie, Glück, Wunder ins Spiel kommen, bleibt kein Stein auf dem anderen. Das ganze Leben bewegt sich und wird ein wenig unvorhersehbar. 

Ich muss an ein weiteres Zitat denken, das ich in einem Artikel über die Künstlerin Louise Bourgeois gelesen habe. „Memories are like architecture. You pile up memories like you pile up bricks.“

Die Erinnerungen sind die Steine, mit denen wir das Haus unseres Leben bauen. Das ist so ein schönes Bild, finde ich.

Nun steht es also fest, dass Joe Biden und Kamala Harris der 46. Präsident und die 46. Vizepräsidentin der USA sein werden und natürlich twittert das orange Wesen, dass er deren Wahlsieg nicht anerkennt.

Das ist keine Überraschung ich fürchte, bis zum 20. Januar werden wir noch ein ziemliches Affentheater erleben und ein Teil von mir hat immer noch Angst, dass das Böse gewinnen könnte, allem Wunderglauben zum Trotz.

Aber wenn ich die Menschen feiern und tanzen sehe in den Straßen der USA, dann werde ich sehr zuversichtlich und sehr froh. 💙💙💙

P.S. Plan für die nächsten 10 Tage: alle Filme von Wim Wenders (nochmal) schauen! Denn dass Teju Cole seinen Lieblingsfilm erwähnte, ließ mich an meine Lieblingsfilme denken und an Wim Wenders





(c) Susanne Becker

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