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Terézia Mora, Der einzige Mann auf dem Kontinent

Ich nehme es schonmal gleich vorweg, damit niemand glaubt, er würde hier einen Verriss zu lesen bekommen: "Der einzige Mann auf dem Kontinent" ist ein großartiges Buch.
Protagonist Darius Kopp arbeitet, ja, was arbeitet der Mann eigentlich? Er hat ein eigenes Büro in so einem Bürohaus irgendwo in Berlin, nahe Potsdamer Platz, wo alle Büros von Menschen gemietet werden, die wie Darius Kopp einziger Vertreter irgendeiner internationalen Firma in Berlin sind. Firmen mit Namen wie Opaco, Fidelis oder Medconsult Inc., die ihren Hauptsitz in Kalifornien oder Utah oder Nevada oder Australien haben und für all ihre Geschäfte in Süd-Ost-Mittel-Zentral-Nord-oder was auch immer Europa nur einen einzigen Mann benötigen. So ein einziger Mann ist Darius Kopp. Einzig und vereinzelt und verloren wirkt er von Anfang an. Selbst, wenn er mit seiner Frau Flora ("1999 lernte er Flora kennen. - Neben all dem anderen ist das hier nicht zuletzt eine Liebesgeschichte...Seit drei Jahren versuchen sie ein Kind zu bekommen.") Sex hat, wirkt er allein, sie auch. Er bewohnt mit Flora eine Maisonettewohnung mit Dachterrasse, auf der er frühstückt, ausgiebig, manchmal bis zum frühen Nachmittag und es genießt, dass er dabei "Geschäftstelefonate" per Handy führen kann, ohne dass sein Gegenüber weiß, dass er halbnackt auf seiner Dachterrasse sitzt und gerade Sex mit Flora hatte. Es ist Sommer. Er hat auch einen Freund, Juri, mit dem er fast jeden Abend um die Häuser zieht, essen geht (überhaupt ist Essen für Darius Kopp unglaublich wichtig, wir erleben ihn sehr oft beim Essen oder beim sich sehnen nach Essen, er ist 1,78 m groß und wiegt 106 kg) und zum Schluss in der Strandbar, in der Flora kellnert, sich von dieser die letzten Getränke bringen lässt, bis er dann mit ihr gegen 3 Uhr morgens nachhause geht, betrunken, ohne dass er selbst es wohl so nennen würde. Der Führerschein wurde ihm für eine begrenzte Zeit abgenommen, weil er zu schnell gefahren ist. Sein Büro ist voll gepackt mit Kartons, die sich an den Wänden entlang stapeln. Sein Zimmer in der Wohnung ist ebenfalls vollgepackt mit alten Computerteilen, (die Sammlung reicht bis ins Jahr 1990 zurück) und was sonst noch so von Männern gesammelt, aufgehoben werden könnte. Flora, die sehr sensibel (vielleicht auch depressiv? ist) hat das Gefühl, das Chaos seines Zimmers könne eines Tages durch die Wände, durch die Tür, in die gesamte Wohnung (in der sie allein für Ordnung sorgt, in der Darius grundsätzlich sein Chaos herum liegen lässt) dringen und sie verschlingen. Er denkt täglich darüber nach, endlich Ordnung zu schaffen. Er kommt nicht dazu. Zuviel Stress. Essen gehen, Telefonate führen, saufen gehen, Geschäftstermine gerade so schaffen (o.k. über eine Stunde zu spät, aber das lag am Verkehr, an der schlechten Wegbeschreibung), Sex haben, über andere Leute nachdenken, im Internet surfen....
Ach ja, als was arbeitet Darius Kopp nochmal? Er verkauft irgendwelche Internet-Access-Security-Solutions oder so für eine Firma, die ihren Hauptsitz in Sunnydale/CA hat. Dort war er auch einmal. Ist mit Bill, dem CEO (nennt man das so?) essen gewesen, am Strand, in dessen Haus.
Lesen im Bett, während Katze Yoga macht
Wir begleiten Darius eine Woche durch sein Leben, seine Gedanken, seine Abwege. Und schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, einer vollkommen verlorenen Seele auf ihren Abwegen beizuwohnen. Abgelenkt, vollkommen abgelenkt von allem, was möglicherweise zählen könnte in einem menschlichen Leben, durch den Irrglauben, in der besten aller möglichen Welten zu leben, welche sich alleine durch Technik, Geld, Erfolg, und ähnliche Äußerlichkeiten definiert. Er verliert sich Seite um Seite in einem Wirrwarr aus Handytelefonaten, Internetsurfereien, die zu nichts führen, ausser dazu, seine Zeit zu verschlucken, Fernsehzappereien, Einkaufsorgien, Gedanken, niemals zuende geführten, aber seitenlang beabsichtigten Handlungen. Ein Gestrandeter, dessen Frau in einer Strandbar arbeitet, in Berlin, wo Strandbars im Grunde eine Metapher sein könnten für die Welt all dieser Abgelenkten, die in einer Stadt, in der es gar keine Strände gibt, dennoch zuhauf in Strandbars herum sitzen. Alle irgendwie verwandt mit Darius Kopp.
"Alle Leute sind irgendwie merkwürdig. Im Grunde ist es bewundernswert, dass es uns gelingt, so eine komplexe Gesellschaft am Laufen zu halten." Ein Verlorener in der Komplexität unserer modernen Gesellschaft, globalisiert, entfokussiert, in erster Linie allein mit elektronischen Geräten kommunizierend, erst in zweiter Linie mit menschlichen Wesen, die er aber im Grunde nicht mehr versteht, verstehen kann, weil man als eine Art Autist auf allen zwischenmenschlichen Ebenen andere nur noch als Störung oder als Befriedigung für eigene Bedürfnisse wahrnehmen kann. In dem ganzen Buch, in dem wir Darius und seinem inneren Monolog folgen, erleben wir so gut wie keine wirkliche menschliche, zwischenmenschliche Berührung. Der einzige Mann auf dem Kontinent ist von allen, obwohl noch irgendwie in ihrer Mitte, vollkommen isoliert.
Lesen im Bett, während Katze versucht,
die Krähe (Yogapose) zu vervollkommnen
Terézia Mora hat für mich ein Zeitbild entworfen, ein Gesellschaftsbild, und einen derart typischen Charakter, das man auf jeder Seite glaubt, ihn zu kennen, ihm schon zig Mal leibhaftig begegnet zu sein. Ich habe dabei die Zielstrebigkeit, die absolute Fokussiertheit ihrer Erzählweise geliebt, sie hat mich fast süchtig gemacht. Ich habe in dem ganzen Buch nicht ein einziges Wort gefunden, das mich gestört hätte. Sie hat diese Geschichte eines Verlorenen für mich absolut perfekt erzählt, sowohl in Sprache als auch in dem Handlungsbogen, den sie schlägt.
 Ja, stimmt, das Buch hat mich euphorisch gestimmt, denn es hat großen Spaß gemacht, es zu lesen, nicht nur wegen der Sprache, der wohlgeführten Erzählung, sondern auch wegen der feinfühligen, mikroskopisch genauen Beobachtung der Menschen darin. Das hat oft auch etwas witziges, zum Beispiel, wenn Kopp seine Mutter Greta im Krankenhaus besucht, dort seine Schwester Marlene trifft, oder wenn er mit Flora ein Wochenende auf dem Land verbringt und ohne Handyempfang schier ausflippt. Dieses Buch wird in jedem Fall auf meine Liste der Lieblingsbücher 2013 (My List of different favourites 2012) kommen, eventuell sogar auf die Liste der Bücher, die man lesen sollte, bevor man stirbt.
Und jetzt werde ich versuchen, so schnell wie möglich an seinen Nachfolger Das Ungeheuer zu kommen. Ich möchte es unbedingt lesen! Obwohl ich schon weiß, dass Flora darin tot sein wird. Aber Darius, so unsympathisch er mir ist, möchte ich dennoch wieder treffen.
Euch einen schönen Sonntag noch!

© Susanne Becker

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