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Eine Frau steigt mit ein paar wenigen Dingen, darunter eine Isomatte und ein Vogelbestimmbuch, auf einen Hochsitz mitten im Wald. Am Anfang der Geschichte denke ich noch, sie macht einen kleinen Ausflug in die Wildnis, so wie eine Eremitin, um sich selbst zu finden oder so. Sie schreibt jeden Tag etwas in ihr Tagebuch, das sie für B. führt.Beobachtungen der Natur und ihrer selbst. Erst allmählich wird einem klar, dass sie dort hoch gestiegen ist, um zu sterben, bewusst. Sie isst nicht mehr und trinkt nur wenige Schlucke täglich, bis ihr das Wasser ausgeht und sie versuchen muss, Regenwasser zu sammeln. Die Geschichte ist wunderschön. Es ist eine meiner liebsten aus dem Buch. Denn Karen Köhler lotet in ihr einen Bereich aus, in den man ungern als Mensch kommen möchte. Er ist aber im menschlichen Spektrum der Möglichkeiten vorhanden. Es kann den Punkt geben, an dem eine Verzweiflung größer wird als ein Leben wollen. Es kann ein Punkt kommen, an dem man diese Tatsache akzeptiert und den Widerstand aufgibt. Diesen Punkt lernen wir kennen in der Geschichte.
Im tibetischen Buddhismus gibt es den Begriff des Spiritual Warrior, besonders bekannt geworden durch Chögyam Trungpa. Ich habe lange gar nicht verstanden, was damit gemeint sein könnte und aufgrund des Wortes Krieger immer etwas aggressives damit assoziiert. Aber der Spiritual Warrior ist kein aggressiver Soldat, sondern jemand, der dem Leben offen und mutig entgegentritt und nicht versucht, ihm auszuweichen.Jemand der weiß, dass das Leben weh tut und das dies dazu gehört, unvermeidlich. Jemand, der sein Herz brechen lässt, weil er es immer offen hält. In diesem Sinne sind für mich die Charaktere Karen Köhlers Spiritual Warriors.
Bei der Lektüre des Buches schoss mir (Achtung: unpassend!) immer wieder der Satz "Das Leben ist kein Ponyhof" durch den Kopf. Ich las es zum größten Teil an dem Tag, an dem ich sechs Termine bei meiner Augenärztin hatte, weil der Verdacht bestand, ich könnte Grüner Star haben. Der Tag war verrückt. Ich saß, bei grauem Himmel und 4 Grad Plus auf einer Mauer auf dem Tempelhofer Feld und las Geschichten über Menschen, die in krasse Situationen kommen. Dann trabte ich wieder in die Praxis.Das ging den ganzen Tag so hin und her. Manchmal ging ich auch in ein Café oder eine Buchhandlung. Aber meistens las und fürchtete ich mich. Vielleicht ist es also gar nicht verwunderlich, dass ich mich ihnen allen auf so eine allgemein menschliche Weise im tiefsten Inneren verbunden fühlte? Denn ich hatte ja auch das Gefühl, mich auf eine krasse Extremsituation unaufhaltsam zuzubewegen.
"Obwohl wir Namen haben, sogar ganz normale, also keine ultradoofen wie Babsi und Horst oder so, benutzen wir sie miteinander nicht. Wir haben Kosedinger. Du sagst Krassiwaja. Ich Libero. Libero, weil ich dich frei denke. Und nicht an Fußball und irgendwelche Verteidigungen, wie du immer behauptest. "(aus der Titelgeschichte Wir haben Raketen geangelt). Die mochte ich auch sehr. In 31 kleinen Abschnitten wird von einer Freundschaft erzählt, die über den Tod hinaus geht. Ein bißchen kitschig aber sehr schön!
Äußerlich geschieht in den Geschichten gar nicht so viel. Es sind keine von abenteuerlichen Handlungen voran getriebenen Plots. Vielmehr finden die Protagonisten sich bereits wieder in Situationen, die in jedem Fall abenteuerlich zu nennen sind und die Handlung entsteht durch ihre Reaktion auf das Zugestoßene. Ein Verlassen werden, ein Krebs, ein Alkoholikervater, der Unfalltod eines geliebten Menschen - diese Dinge haben bereits stattgefunden. Die Geschichten erzählen davon, wie die Menschen sich demgegenüber dann positionieren.
Ich mochte das Buch sehr, obwohl ich vorher gedacht hatte, es wahrscheinlich eher nicht zu mögen. Alle mochten es schließlich und so ein bisschen ging mir der Hype auch auf die Nerven. Es wäre allerdings blöd, Bücher nicht zu lesen, weil so viele sie toll finden. Dann hätte ich auch Nino Haratischwilis "Das achte Leben verpasst und eine Menge anderer wunderbarer Bücher.
Ich weiß ziemlich genau, was mich bei Büchern anspricht. Lange dachte ich, Kurzgeschichten kommen sowieso nicht in Frage, außer wenn von Alice Munro natürlich. Dann traf ich zufällig eine Buchhändlerin, die ich sehr schätze. Sie war ohne jede Einschränkung begeistert und empfahl mir das Buch. Sie sagte sogar etwas in der Art von: Das musst Du lesen! Du wirst es lieben! Die Betonung lag dabei eindeutig auf DU.
Karen Köhler hatte auch bei ihr im Laden gelesen und es muss eine sehr schöne Veranstaltung gewesen sein, die ich leider verpasst habe. Wie sie so davon erzählte, leuchtete sie vor Begeisterung und da wusste ich, dass ich eigentlich um dieses Buch und diese Autorin nicht herum kommen werde.Gott sei Dank hatte dann eine Freundin ein Einsehen und schenkte es mir.
Ich sehe Autoren gerne mal bei einer Lesung. Vor allem solche, die es lieben, auf der Bühne zu sein, dafür ein Talent haben (Sasa Stanisic zum Beispiel könnte man vermutlich fast als Rampensau bezeichnen. Ich würde zu jeder Lesung von ihm jederzeit gehen, und wenn er Einkaufszettel vorläse!).
Das heißt nicht notwendig, dass sie gut schreiben (Sasa Stanisic schreibt aber gut!). Das sind in manchen Fällen zwei verschiedene Schuhe.Heutzutage wird das oft vermischt und Bücher werden veröffentlicht, weil die Autorin oder der Autor als Person Marktwert besitzt, sich auf einer Bühne wie ein Fisch im Wasser benimmt und eine Crowd anzuziehen vermag. Die Bücher sind dann unter Umständen irrelevant. Sie werden trotzdem gekauft und alle lesen sie. Dadurch werden sie dann wieder relevant. Ich gebe zu, ich dachte, das Buch von Karen Köhler könnte in diese Kategorie gehören, irrelevant aber trendy sozusagen und dadurch relevant. Keine Ahnung, wie ich darauf kam. Gut, dass ich da noch die Kurve gekriegt habe, sonst wäre mir ein wirklich großartiges Buch entgangen.
Die Personen in den Geschichten erkannte ich zum größten Teil wieder, als wären es alte Bekannte. Den Rest der Leute würde ich durchaus gerne kennen lernen. Man kann Geschichten lesen, gerade weil einem alles darin fremd, exotisch, deshalb auch spannend vorkommt. In Köhlers Fall las ich weiter, weil ich das Gefühl hatte, in den Geschichten irgendwie sowieso schon zu wohnen. (Ort, an den ich nach der Lektüre ihres Buches auf keinen Fall möchte: Kreuzfahrtschiff. Orte, an die ich nach der Lektüre ihres Buches auf jeden Fall möchte: die Lofoten, das Death Valley, Sibirien)
Was jetzt missverständlich klingen könnte, denn viele ihrer Geschichten haben mit Selbstmord, Krebs, Tod zu tun. Das ist keine lockerleichte Lektüre. Aber trotz der Themen ist es auch keine deprimierende Lektüre. So wie alle und alles miteinander verwoben sind, gehören Tod und krasse Veränderungen zum Leben. Wie wir Menschen damit umgehen ist unter anderem das, was unser Leben ausmacht. Köhlers Charaktere haben alle, und das verbindet sie für mich, Frontalzusammenstöße mit den Unvermeidlichkeiten des Lebens. Sie stellen sich diesen auf ihre je eigene Art. Da sind keine Drückeberger dabei oder Leute, die sich wegducken, wenn das Leben sich von allen Seiten zeigt. Allerdings sind es auch keine coolen Heldinnen und Helden, die die Zusammenstöße mit dem Leben einfach so abwischen wie ein paar Schuppen vom Kragen. Sie reagieren heftig auf Tod, Krankheit, Verlassen werden. Unverstellt. Das ist ein Wort, das mir einfällt. Im Gegensatz zu auf Wirkung bedacht und also verstellt. Köhlers Figuren reagieren aus dem Bauch. Sie machen Dinge, die irgendwie angemessen sind, wenn man die Extremität der Situationen bedenkt. Sie versuchen, einigermaßen die Haltung mit Würde zu bewahren und bleiben immer 100% authentisch.
In Familienportraits, beklemmend, flanieren Blitzlichter aus verschiedenen Familien am Leser vorüber. Jede einzelne Episode hätte in der Straße meiner Kindheit ihren Ausgang nehmen können, manche auch im Wohnzimmer meiner Eltern. Natürlich kommen einem diese Geschichten nah, und das ist Teil ihres Charmes für mich.
Großartig fand ich die letzte Geschichte von der 70jährigen Frau, die ganz allein in der Einsamkeit Sibiriens irgendwo gestorben ist, Findling. Sie war am Rande vorher aufgetaucht, in einer anderen Geschichte. Dass es manchmal so kleine Verwebungen gibt, Dinge zweimal auftauchen, Verbindungen hergestellt werden - mir hat das sehr gefallen, weil es zeigt, das alles und alle sowieso miteinander verbunden sind Irgendwie kam es mir so vor, als wären letztlich alle diese Figuren eins, so unterschiedlich auch die Geschichten, die Settings und die Erzählstimmen sind.
Heute hatte ich mit einer meiner Lieblingsbuchhändlerinnen ein Gespräch über das Buch. Als ich erwähnte, dass ich es unter anderem so großartig finde, weil den Personen zwar eigentlich nicht viel Tolles geschieht, man aber trotzdem nie das Gefühl hat, es seien negative Geschichten, schüttelte Jessica den Kopf und meinte: "Wieso? Das war doch ein super positives Buch! Was ist denen denn schlimmes passiert?" Ich: "Krebs, Tod, Selbstmord...um nur ein paar Sachen zu nennen." Sie guckte mich irritiert an. Schüttelte wieder den Kopf und meinte: "Nein, das ist nicht wahr. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Indianer, da passiert doch nichts schreckliches."
Ich: "Doch, ihr wird der Rucksack mit allem geklaut und der Indianer wird krankenhausreif geschlagen!"
Sie guckt mich wieder an, als spräche ich von einem anderen Buch und nach einigem Hin und Her stimmen wir schließlich darin überein, dass das vielleicht die heraus ragende Qualität des Buches ist: Den Protagonisten widerfahren nicht so wirklich viele tolle Dinge, aber es ist nicht schrecklich. Es ist das Leben. Auch das ist das Leben. Eben kein Ponyhof!
Zum Schluss möchte ich noch sagen, auch wenn das manchem vielleicht nebensächlich erscheinen mag, dass ich Wir haben Raketen geangelt wirklich ein wunderschön und so passend gestaltetes Buch fand. Ich habe mit großem Vergnügen den Schutzumschlag entfernt und daraus eine Art Poster (Sternenkarte) gemacht. Aber ich habe es nicht aufgehängt sondern wieder zurück gefaltet und dem Buch seinen Mantel wieder umgelegt..
Gerade lese ich noch ein Buch aus dem Hanser Verlag: Die juristische Unschärfe einer Ehe und auch da fällt mir wieder auf, wie geschmackvoll es gestaltet ist. Wenn man den Mantel abnimmt, leuchtet das Buch in einem zarten Grün, so wie Köhlers in einem knalligen Hellrot leuchtet, (das aber perfekt zum Blau des Mantels passt). Ich mag die Farbwahl und muss das an dieser Stelle mal sagen, dass die Hanser Bücher auch wegen dieser tollen Farben zu den schönsten gehören, die es momentan gibt.
© Susanne Becker
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