Eine Familie betreibt 28 Jahre lang einen Laden, der Existenzgrundlage für mehrere Generationen ist. Diese Familie ist in ihrer Nachbarschaft unglaublich beliebt. Ich bin mir der Kitschigkeit der Wortwahl bewusst, aber in diesem Fall trifft sie die Wahrheit. Diese Familie ist ein Teil des Seelenlebens dieser Nachbarschaft, die wir ja in Berlin Kiez nennen In diesem Fall #Wrangelkiez.
Bannerherstellung, bringt Bettücher, holt Euch Banner in dem Lotto Toto schräg gegenüber von Bizim Bakkal |
Das Haus, in dem sich der Laden der Familie befindet, wird
verkauft. Der Käufer möchte das Haus, in dem es auch Wohnungen gibt, vollkommen
leer haben, Achtung, ich werde wieder kitschig: entseelt, um es dann sanieren und jede einzelne Einheit für einen
guten Preis verkaufen zu können. Die Mieter in den Wohnungen bekommen Geld
geboten, damit sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausziehen. Bei
der Familie, die den Laden gemietet hat, muss er sich nicht derart aus dem Fenster hängen. Denn die rechtliche Lage
für Gewerbemietverträge sieht kaum Schutz vor. Die Familie muss ihren Laden
fristgerecht und in renoviertem und besenreinem Zustand übergeben. Angebote der
Familie, mehr Miete zu zahlen oder das Ladenlokal selbst zu kaufen, werden
abgelehnt. Logischerweise möchte man keine Spuren von Vergangenheit in diesem
Projekt verankern. Man möchte ein ganz neues Haus in den Kiez stellen, leer und rein.
Besenrein. Es sollen dort dann auch ganz neue Menschen und Geschäfte sein.
Ein Mensch kann ein Haus kaufen, und die
Existenzgrundlage einer ganzen Familie zerstören durch eine, Achtung:
Unterstellung, egoistische Entscheidung, der die Motivation zugrunde liegt, mit
dem gekauften Haus soviel Geld wie möglich zu verdienen.
Was macht man mit soviel Geld? Gut, man könnte einwenden,
dass mich das nichts angeht. Und doch argumentiere ich, dass wir alle zusammen
eine Gesellschaft bilden, und wenn jemand viel Geld hat und es lediglich für
egoistische, gewinnmaximierende Zwecke einsetzt, wenn er nicht das
gesellschaftliche Wohl dabei zumindest ein Stückchen im Auge hat, es noch nicht einmal in Erwägung
zieht, dann drängt sich mir die Frage auf: Sollte Wohn- und Existenzraum überhaupt
Privatbesitz sein dürfen? Natürlich eine Frage, die zu Millionen Missverständnissen führen würde, weshalb ich sie auch nur rhetorisch stelle. Aber: sollte es nicht zumindest Regeln geben, die
Besitzer von Wohn- und Existenzraum dazu zwingen, sich zum gesellschaftlichen
Wohle zu verhalten? Diese Regeln gibt es, klar. Aber wieso gestatten sie, dass
Bizim Bakkal ganz legal seine Existenzgrundlage verlieren darf? Meine Meinung
ist: Dann stimmt was mit den Regeln nicht und ich wünsche mir, dass sie sehr schnell geändert werden!
nächstes Mal soll es auch was zu essen geben, bringt Essen Tische, Stühle mit, ist doch schön, im Sommer draußen zu essen |
Ebenfalls eine rhetorische Frage, auf die ich eine Antwort fand: Ich bin vor etwa 18 Jahren das erste Mal in den Wrangelkiez gekommen. Ich bog von der Skalitzer auf die Wrangelstraße ein und konnte nicht fassen, was ich sah. Die schönste Straße, in der ich je gewesen war. Sie war grün und bunt und lebendig, voller Hundescheisse und irgendwie auch schmutzig, und ich sah nur interessante Leute. Man hörte alle möglichen Sprachen, man fühlte sich wie in einem anderen Land. Es pulsierte und ich passte sofort meinen Schritt dieser Straße an, damit ja keiner glaubte, ich sei nur zu Besuch da. Ich wollte auf der Stelle dazu gehören, von der ersten Minute an. Gut war in diesem Zusammenhang, dass ich diese Straße tatsächlich betrat, um mir eine Wohnung anzuschauen, hinten, kurz vor der Taborkirche, Hinterhaus 4. Stock. Besser war, dass ich die Wohnung bekam. Das war damals noch möglich. Man konnte eine Wohnung in der Wrangelstraße mieten und es blieb einem noch Geld zum Leben übrig. Deshalb war die Straße ja so toll: weil dort so viele unterschiedliche Menschen wohnten, die es sich leisten konnten. In meinem Haus wohnten damals Artisten und Zirkusleute und ein paar sehr alte Leute, die schon in Kreuzberg, in diesem Kiez, ihre Kindheit verbracht hatten.
Die meisten, unterstelle ich, wohnen im Wrangelkiez, weil sie genau diese Atmosphäre wollen, in der jeder vollkommen er selbst sein darf. Das ninmt manchmal absurde Züge an, aber so ist das eben, wenn man die Menschen frei lässt.
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der ich an dem Ort wohnen kann, an dem ich mich wohl fühle und an dem man die Menschen frei lässt.
Ich vermute, dass ich damit nicht auf einer Wellenlänge mit Menschen bin, die Immobilien zu Zwecken der Gewinnmaximierung kaufen und verkaufen. Denen ist das alles ja egal. Das ist natürlich dumm
und kurzsichtig. Weil unser Kiez gerade der angesagteste in der ganzen Republik
ist (dieses „gerade“ hält sich mit kleineren Unterbrechungen seit Jahrzehnten), kann
man mit ihm so viel Geld verdienen. Da schnuppern "Investoren" natürlich Morgenluft, zu Recht. Wenn all die Leute, die den Kiez ausmachen,
weg sind, wird das anders sein. Dann ist auch der Wrangelkiez nur noch
langweilige Meterware. Aber für Immobilienkäufer und -verkäufer reicht kurzfristig, die
sind mit ihrem Gewinn aus unseren Leben dann längst woanders und investieren in eine
andere Nachbarschaft.
Wir befinden uns mitten in einer Entwicklung, wo Berlin
bedroht ist, die Freiheit, die man hier haben kann und weswegen so viele immer
noch hier sind, endgültig zu verlieren. Der Anfang ist ja längst gemacht, Unzählige haben diese Freiheit hier schon verloren. Es wird irgendwann gar nicht mehr darum gehen, wo ich mich
zuhause fühle, sondern nur noch darum, wo ich es mir leisten kann, zu wohnen.
Wenn ich nicht entscheiden kann, wo ich wohnen möchte, weil
es für mich zu teuer ist, dann ist meine Selbstbestimmung, meine Freiheit an
einem ganz entscheidenden Punkt nicht vorhanden. Ja, mir ist auch bewusst, dass das in anderen Städten längst so ist und wir deshalb auf hohem Niveau klagen und überhaupt, die Mieten in Berlin paradiesisch sind, noch. Deshalb bin ich ja nicht nach Köln zurück gegangen, weil ich nicht in Flittard wohnen wollte!
Wenn diese Freiheit
eingeschränkt wird, weil
immer mehr Häuser, in denen Wohnungen und Lebensräume von Menschen als Ware auf dem Freien Markt verkauft und hin – und hergeschoben,
entleert, saniert, weiter verkauft werden, als handelte es sich um etwas, wo
seelisch keinerlei Inhalt vorhanden ist. Als wären es tote Gegenstände: die
Räume, in denen die Familie Caliskan 28 Jahre lang den Kiez mit Lebensmitteln
und Respekt und Freundlichkeit versorgt hat und dabei nebenher ihr eigenes Leben gelebt hat, geliebt, gestritten, Kinder bekommen hat, (dazu gibt es einen sehr schönen Artikel in der TAZ), ist nicht mehr als eine Ware, mit der irgendwer Geld verdienen möchte, also
mehr Geld als bisher durch die Ladenmiete
möglich war. Also wird raus geworfen. Da wird nicht mit der Wimper gezuckt. Als
Bewohner wird man zu purer Manövriermasse und man fühlt sich ein bisschen wie
im falschen Film. Dein ganzes Leben kann von heute auf morgen komplett ins
Schwanken geraten, weil dein Haus verkauft wird und der neue Besitzer mit den
Fingern schnippt.
Bizim Bakkal ist einer der tollsten Läden, den es in unserer
Straße gibt. Ein Obst-, Gemüse und Lebensmittelladen, der einzige in der
Straße, der noch von einer Familie geführt wird und nicht von einer Kette.
Oben erwähnte ich schon einmal das Wort Seele. Wenn ich
sagen müsste, was die Seele des Wrangelkiezes ausmacht, dann sind es unter
anderem genau diese Läden wie Bizim Bakkal. Den Lieferwagen der Familie sehe
ich jeden Tag und ich weiß, dass Ahmet jeden Morgen lange bevor ich überhaupt
aufstehe, mit diesem Lieferwagen zum Großmarkt fährt und persönlich die besten
Waren aussucht und wenn ich dann meine Kinder zur Schule bringe, dann fahre ich
vorbei an diesem Wagen vor dem Laden und sehe, wie er ausgeladen wird. Meine
Töchter bekamen, als sie noch klein waren, dort immer irgendwas geschenkt: ein
Stück Melone, eine Erdbeere, sowieso immer offenes Interesse und unglaublichen
Respekt. Während im Kaisers ein paar Meter weiter kaum ein Einkauf möglich ist,
ohne einen Streit oder eine Pöbelei zu erleben, ist in Bizim Bakkal die
Umgehensweise respektvoll, man fühlt sich als Mensch absolut gewürdigt. Das
wird mir erst jetzt bewusst, wo ich genau darüber nachdenke. Die Familie ist
immer aufmerksam.
Ahmet Caliscan |
Wenn ein solcher Laden verdrängt wird, stirbt der Kiez ein
Stückweit. Wenn alle verdrängt werden, bekommen die Käufer eine
leere tote Hülle, denn das, was den Kiez ausmacht, sind die Menschen, und nicht der
Standort oder die Häuser. Das Problem ist nur, dass ihnen das vollkommen egal
ist. Je mehr Seele, desto mehr Potenzial für Ärger, könnte man sagen. Das sieht
man ja jetzt jeden Mittwochabend vor dem Laden. Denn wer in Kontakt mit seiner
Seele ist, der spürt sofort, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Der ganze Kiez
spürt es und immer mehr hängen ihre Banner an die Fenster und Balkone Bizim
Bakkal bleibt steht darauf und im Grunde heißt es, ich bleibe. Im Grunde heißt
es: ich hoffe, dass ich bleiben kann. Jedes Banner ist ein Ausdruck von Angst
und Hoffnung gleichermaßen. Weil wir, die Kiezbewohner wissen, wenn Bizim
Bakkal geht, kann jeder von uns die nächste sein. Und die nächsten stehen ja
schon Schlange: Die Kioskbesitzerin auf der Schlesischen, Kubi’s Bike Shop auf
der Falckensteinstraße… Unser aller Leben steht auf der Kippe. Je nachdem, wie
viel Geld wir haben, kann ein Rauswurf hier das Ende unserer glücklichen Zeit
mitten in Berlin bedeuten. Wenn wir Pech haben, finden wir uns im Märkischen
Viertel wieder, oder sonst irgendwo im Plattenbaugebiet am Rande der Stadt.
Wer im Wrangelkiez lebt, für den ist das immer eine bewusste
Entscheidung. Denn natürlich gibt es die dunklen Tage, an denen man schon an
der Haustür in den ersten Kackehaufen tritt und noch beim Kampf mit dem Schuh
von einem schlecht gelaunten Betrunkenen angepöbelt, von einem Drogendealer
angemacht, von einem Fahrrad auf dem Gehsteig überfahren, von einem Kampfhund abgeschleckt wird ("er will nur spielen!"). Wir kennen diese Tage
vermutlich alle. Da waren Sternstunden darunter, in denen
ich sofort nach Zehlendorf oder Braunschweig umziehen wollte.
Aber die sind egal, weil schon eine Stunde später die Kacke wieder getrocknet ist und man Freunde zufällig trifft oder neue kennen lernt. Weil man
sich bei Bizim Bakkal eine Schale Erdbeeren holt und sie auf der Eichenwiese an
der Lohmühle verspeist oder einen Kaffee bei Inci trinkt, einen Köfteburger gegenüber isst (dort ist meine jüngere Tochter übringens Prinzessinnenlieblingskundin!), lässt sein Fahrrad bei Kubi's Bikeshop reparieren (der, nur zur Info, ebenfalls zum Ende des Jahres raus muss, so wie es derzeit aussieht!) und weil einem die Buntheit des Kiezes, dass hier alle
Menschen gemischt leben, alle Farben, alle Arten, alle Sprachen, so unglaublich
viel bedeutet. Und ich fürchte, man kann nie wieder in Zehlendorf oder in Braunschweig wohnen, wenn man einmal verdorben ist durch den Wrangelkiez.
spontanes Treffen mit Presse und Nachbarn, jeden Mittwoch |
An jedem Mittwoch treffen wir uns um 19 Uhr spontan vor dem
Laden, um als Nachbarn miteinander ins Gespräch zu kommen, Aktionen zu planen,
Erfolge und Informationen auszutauschen und unsere Solidarität mit Bizim Bakkal
zu zeigen. Das sind wir ihm schuldig. So empfinde ich es wenigstens. Es gibt auch eine Website, auf der Ihr Euch für den Newsletter anmelden könnt und alle Neuigkeiten regelmäßig erfahrt. Diese Sache betrifft alle Kieze! Das wird mir immer dann bewusst, wenn ich in Mitte Unterschriften sammle (ja, wir sammeln auch Unterschriften für den Erhalt des Ladens!)
und alle sagen: kenne ich, kämpft weiter!
Verrückt wie es ist, beweist sich durch den drohenden
Untergang des Kiezes in noch stärkerer Intensität, was den Kiez ausmacht: dass
hier unglaublich viele Menschen wohnen, die sich für andere interessieren, die
ein selbstbestimmtes, nicht durch gesellschaftliche Normierung festgelegtes
Leben entwerfen möchten für sich und ihre Familien, Menschen, die Lust darauf
haben, selbst zu denken. Ich frage mich, ich hoffe, ich bange, ob wir, diese
Menschen, eine Chance haben gegen die, die die Macht haben, und somit die
gesellschaftlichen Normen, die wir in Frage stellen, gegen uns durchsetzen könnten,
oder ob wir ein solches großes Fragen und Nachdenken in Gang setzen können,
dass sich etwas grundlegend bewegt.
© Susanne Becker
Danke an ©Ralf Holzem für die tollen Fotos, die ich benutzen durfte!
Und hier noch ein paar Links zu Artikeln und Pressearbeiten, die bereits erschienen sind:
Die Bildzeitung war da,
ein anderer sehr schöner Blogartikel von Gloria Biberger und eins, zwei, drei tolle Blogartikel von Ralf Holzem
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