Dieses Buch, länger als sonst ist nicht für immer, erschienen im wunderbaren Arche Verlag ist wie ein Puzzle. In kleinen einzelnen Teilen erzählt es aus den Leben dreier Menschen: Lew, Ira und Fido, die alle im Sommer 1976 etwas erlebt haben, was sie zu den Menschen gemacht haben, die sie sind. An verschiedenen Punkten ihres Lebens treffen sie aufeinander.
Es wird erzählt, wie unsere Kindheit unser Leben beeinflusst und wie wir zu den Menschen werden, die wir sind.
Lew wird als neunjähriger in der damaligen DDR von seinen Eltern, die angeblich Republikflucht begangen haben, zur Adoption frei gegeben und gemeinsam mit seinem Bruder von einem hohen Parteifunktionär und seiner depressiven Frau adoptiert. Er wird zum Leistungsschwimmer und Turmspringer, womit sich ein Traum erfüllt, darf aber schlussendlich nicht ausreisen, um an einem internationalen Wettbewerb teilzunehmen. Damit löst sich der Traum auf.
In der Jetztzeit, in der das Buch erzählt wird, sucht er seinen Vater, der mittlerweile in Indien lebt, in einem Ashram. Er findet ihn. Aber vorher trifft er Rajesh, einen indischen Jungen, der ihm weiter hilft.
Ira hat einen kleinen Sohn und arbeitet in der Bäckerei von Evi, nicht weit von ihrem ehemaligen Zuhause, in welchem ihr Vater im Sterben liegt. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in diesem Zuhause, wo die Mutter als linke Journalistin viel beschäftigt war und offensichtlich kein Interesse und auch keine Liebe für ihr Kind übrig hatte. Hauptsächlich kümmert sich der Vater, ein Lateinlehrer, um sie. Der Vater unternimmt Reisen mit ihr, hat einen Kollegen namens Gerster, der eine ganz neue Pädagogik möchte. Es schwingen Ahnungen von Kindesmissbrauch mit, aber genau wie alles andere in diesem Buch sind die Töne, in denen diese Ahnungen vermittelt werden, leise und sehr unaufdringlich.
Es ist ein zurückhaltendes Buch, das mit vagen Strichen große Geschichte(n) erzählt.
Fido, der dritte Junge, ist 1976 mit seinem Großvater aus dem damaligen Jugoslawien, aus Serbien, gekommen und fand als Kind Unterschlupf bei eben jener Evi, in deren Bäckerei auch sein Großvater dann arbeitete. Fido wurde Iras Freund. Der Großvater wurde Evis Freund.
Das Buch liest sich einfach so weg. Durch die kurzen Abschnitte ist es sehr eingängig. Es ist ein knappes Buch. Die Geschichten werden nicht ausgemalt. Der Leser wird nicht mit Details erschlagen. Das Buch schildert mit präzisen Bildern, fängt größere Zusammenhänge mit wenigen Sätzen ein und lässt so Welten vor dem inneren Auge erstehen: eine streng geführte Schule, an der unter Umständen Missbrauch an Kindern geschieht, Jugoslawien, eine Mutter, die sich politisch engagiert und keine Beziehung zu ihrem Kind hat, die DDR, ein Ashram in Indien. Ich gebe zu, dass mir die Bilder manchmal zu knapp waren, die Welten zu konträr, als dass sie für mich immer wirklich Platz in diesem einen Buch haben könnten.
Als ich es nach drei Tagen der Lektüre, und ja, ich habe es verschlungen, beiseite legte, schwirrten mir sehr viele offene Fragen über die Charaktere durch den Kopf. Ich merkte, dass ich nicht alle Geschehnisse einfach so glauben konnte, dass mir nicht immer alles plausibel erschien.
Und doch ist es ein Buch, das ich mag, weil es eine Frage angeht, die sich mir genauso stellt: Wie werden wir zu dem Menschen, der wir sind. Die Personen in dem Buch nehmen die jeweiligen Geschehnisse, die sie formen, und das verbindet sie in meinen Augen, eher schweigsam, fressen den Schmerz, die Enttäuschung, das Geschehene in sich hinein. Ich nahm beim Lesen eine große Unbewusstheit wahr, ein sich kaum aktiv mit dem Vergangenen auseinander setzen, eher reaktive Fluchten und Verhaltensweisen. Das widerspricht meiner eigenen Art so sehr, dass mit die drei Protagonisten nicht durchweg sympathisch waren. Das Geschehene wird bis zum Ende nicht wirklich aufgelöst, und es belastet mich beinahe ein wenig, dass ich denken muss, die drei kämpfen immer weiter damit und lassen es ihr Leben bestimmen. Weil, ist es denn wirklich so, dass ein traumatisches Geschehen in der Vergangenheit uns zu dem macht, die wir sind? Ich bin eine große Anhängerin der Idee, dass wir immer wieder von vorn anfangen können, frei, absolut frei. Da ist immer ein Nullpunkt. Mit den Jahren wird der einem abverlangte Mut, um ihn zu betreten, allerdings immer größer. Das ist klar.
Gerne würde ich mich mit Pia Ziefle einmal unterhalten über all diese Gedanken und auch über die Fragen, die die Lektüre bezüglich der Menschen, von denen das Buch handelt, in mir aufgeworfen hat. Zum Beispiel: Warum konnte die Mutter ihre Tochter so gar nicht lieben? Warum haben die Eltern von Lew nach der Wende nicht nach ihren Kindern gesucht? Warum hat Fidos Mutter ihn aufgegeben? Es geschahen so große Dinge, und ich weiß, solche Dinge geschehen wirklich, aber plausibel waren sie mir dennoch nicht. Aber das ist vielleicht eine der Schönheiten des Buchs, dass es einen mit der mangelnden Plausibilität konfrontiert, ohne diese in befriedigender Weise aufzulösen.
Ich danke Pia Ziefle sehr, die mir dieses Buch einfach so zugeschickt hat, nur weil ich auf meiner Facebookseite mal erwähnt hatte, dass ich es gerne lesen würde! Das ist wirklich großartig und hat mich unerhört gefreut!
© Susanne Becker
Es wird erzählt, wie unsere Kindheit unser Leben beeinflusst und wie wir zu den Menschen werden, die wir sind.
Lew wird als neunjähriger in der damaligen DDR von seinen Eltern, die angeblich Republikflucht begangen haben, zur Adoption frei gegeben und gemeinsam mit seinem Bruder von einem hohen Parteifunktionär und seiner depressiven Frau adoptiert. Er wird zum Leistungsschwimmer und Turmspringer, womit sich ein Traum erfüllt, darf aber schlussendlich nicht ausreisen, um an einem internationalen Wettbewerb teilzunehmen. Damit löst sich der Traum auf.
In der Jetztzeit, in der das Buch erzählt wird, sucht er seinen Vater, der mittlerweile in Indien lebt, in einem Ashram. Er findet ihn. Aber vorher trifft er Rajesh, einen indischen Jungen, der ihm weiter hilft.
Ira hat einen kleinen Sohn und arbeitet in der Bäckerei von Evi, nicht weit von ihrem ehemaligen Zuhause, in welchem ihr Vater im Sterben liegt. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in diesem Zuhause, wo die Mutter als linke Journalistin viel beschäftigt war und offensichtlich kein Interesse und auch keine Liebe für ihr Kind übrig hatte. Hauptsächlich kümmert sich der Vater, ein Lateinlehrer, um sie. Der Vater unternimmt Reisen mit ihr, hat einen Kollegen namens Gerster, der eine ganz neue Pädagogik möchte. Es schwingen Ahnungen von Kindesmissbrauch mit, aber genau wie alles andere in diesem Buch sind die Töne, in denen diese Ahnungen vermittelt werden, leise und sehr unaufdringlich.
Es ist ein zurückhaltendes Buch, das mit vagen Strichen große Geschichte(n) erzählt.
Fido, der dritte Junge, ist 1976 mit seinem Großvater aus dem damaligen Jugoslawien, aus Serbien, gekommen und fand als Kind Unterschlupf bei eben jener Evi, in deren Bäckerei auch sein Großvater dann arbeitete. Fido wurde Iras Freund. Der Großvater wurde Evis Freund.
Das Buch liest sich einfach so weg. Durch die kurzen Abschnitte ist es sehr eingängig. Es ist ein knappes Buch. Die Geschichten werden nicht ausgemalt. Der Leser wird nicht mit Details erschlagen. Das Buch schildert mit präzisen Bildern, fängt größere Zusammenhänge mit wenigen Sätzen ein und lässt so Welten vor dem inneren Auge erstehen: eine streng geführte Schule, an der unter Umständen Missbrauch an Kindern geschieht, Jugoslawien, eine Mutter, die sich politisch engagiert und keine Beziehung zu ihrem Kind hat, die DDR, ein Ashram in Indien. Ich gebe zu, dass mir die Bilder manchmal zu knapp waren, die Welten zu konträr, als dass sie für mich immer wirklich Platz in diesem einen Buch haben könnten.
Als ich es nach drei Tagen der Lektüre, und ja, ich habe es verschlungen, beiseite legte, schwirrten mir sehr viele offene Fragen über die Charaktere durch den Kopf. Ich merkte, dass ich nicht alle Geschehnisse einfach so glauben konnte, dass mir nicht immer alles plausibel erschien.
Und doch ist es ein Buch, das ich mag, weil es eine Frage angeht, die sich mir genauso stellt: Wie werden wir zu dem Menschen, der wir sind. Die Personen in dem Buch nehmen die jeweiligen Geschehnisse, die sie formen, und das verbindet sie in meinen Augen, eher schweigsam, fressen den Schmerz, die Enttäuschung, das Geschehene in sich hinein. Ich nahm beim Lesen eine große Unbewusstheit wahr, ein sich kaum aktiv mit dem Vergangenen auseinander setzen, eher reaktive Fluchten und Verhaltensweisen. Das widerspricht meiner eigenen Art so sehr, dass mit die drei Protagonisten nicht durchweg sympathisch waren. Das Geschehene wird bis zum Ende nicht wirklich aufgelöst, und es belastet mich beinahe ein wenig, dass ich denken muss, die drei kämpfen immer weiter damit und lassen es ihr Leben bestimmen. Weil, ist es denn wirklich so, dass ein traumatisches Geschehen in der Vergangenheit uns zu dem macht, die wir sind? Ich bin eine große Anhängerin der Idee, dass wir immer wieder von vorn anfangen können, frei, absolut frei. Da ist immer ein Nullpunkt. Mit den Jahren wird der einem abverlangte Mut, um ihn zu betreten, allerdings immer größer. Das ist klar.
Gerne würde ich mich mit Pia Ziefle einmal unterhalten über all diese Gedanken und auch über die Fragen, die die Lektüre bezüglich der Menschen, von denen das Buch handelt, in mir aufgeworfen hat. Zum Beispiel: Warum konnte die Mutter ihre Tochter so gar nicht lieben? Warum haben die Eltern von Lew nach der Wende nicht nach ihren Kindern gesucht? Warum hat Fidos Mutter ihn aufgegeben? Es geschahen so große Dinge, und ich weiß, solche Dinge geschehen wirklich, aber plausibel waren sie mir dennoch nicht. Aber das ist vielleicht eine der Schönheiten des Buchs, dass es einen mit der mangelnden Plausibilität konfrontiert, ohne diese in befriedigender Weise aufzulösen.
Ich danke Pia Ziefle sehr, die mir dieses Buch einfach so zugeschickt hat, nur weil ich auf meiner Facebookseite mal erwähnt hatte, dass ich es gerne lesen würde! Das ist wirklich großartig und hat mich unerhört gefreut!
© Susanne Becker
Kommentare
Kommentar veröffentlichen