„Insofern ist dies keine Chronik der Heiligen.“
Nein, aber vielleicht ist das Buch eine Chronik des
Heiligen, die von Navid Kermani unter dem Titel „Dein Name“ in vierjähriger Arbeit
geschaffen wurde, eine Chronik des Heiligen, das in unserer aller Leben in jedem noch so banalen Akt genauso wohnt, wie in den großen Taten. Eine Chronik dessen, was wir nicht kontrollieren, dem wir uns nur ergeben können.
„Natürlich ist es eine Utopie, in einem einzigen Text alles
zu schreiben – er wäre unlesbar. Es geht darum, eine Form zu finden, die die
Lebensfülle zwar nicht birgt, das wäre unmöglich, aber den Text zum Unendlichen
hin öffnet.“
Während er die Toten nennt, deren Leben er durch das Buch
verlängert, indem er sie erinnert, geht sein Leben weiter, als Ehemann, Vater,
Schriftsteller, Sohn, als Meinungsverkäufer "..., danach holt er die Tochter vom Judo ab, um sie mit zum Rundfunk zu nehmen, wo er für eine vierminütige Meinung einen guten Tageslohn verdient zuzüglich sieben Prozent für die Pensionskasse. Einen anderen Verdienst hat er nicht, seit er seine Meinung nicht mehr schriftlich zu begründen vermag. Selbst als die Frau auf der Intensivstation lag, ist er öfter auf den Flur gegangen, um für oder gegen etwas zu sein - für einen Tageslohn in vier Minuten zuzüglich sieben Prozent kriegt er sich immer in den Griff." Auch darüber berichtet er. Er berichtet darüber in einer
Weise, mit der man als Leserin sofort verbunden ist, weil einem da von den
Seiten so vieles vertraut entgegenkommt: Verzweiflung, Freude, Glück, das
Hadern mit dem Alltag und dem ganzen Leben – allgemeinmenschliches wird am Beispiel eines Einzelnen so hautnah und begeistert, so akribisch und authentisch, geschildert, dass es beim Lesen zu einem Teil des eigenen Lebens wird. Die
Person, die gerade das Buch eines Schriftstellers der Navid Kermani heißt,
liest, nennen wir sie Susanne Becker, war für die drei Monate der Lektüre eine
meiner Hauptidentitäten. Seitdem ich das Buch gestern beendet habe, fühle ich mich ein wenig verloren. Ich fange alle drei Stunden ein neues Buch an und lege es wieder beiseite. Es hat keinen Zweck. Dieses Lebensbuch muss wirken dürfen. Ich kann erst wieder ernsthaft lesen, wenn ich es verdaut habe.
Ein Roman, 1232 Seiten lang, in welchem „Navid Kermani die
Namen aller nennen möchte, die ihm auf Erden etwas bedeuteten, nicht nur die
ihm fehlen.“
Das ist ein Unterfangen, das mich, die ich auf
hochkomplizierte, sehr lange Romane wie eine Süchtige reagiere, natürlicherweise
sofort gefangen nahm. Ich wollte meinen Job kündigen, um dieses Buch ganztägig
lesen zu können.
Vom ersten Satz an faszinierte es mich: „Es ist Donnerstag,
der 8. Juni 2006, 11:23 Uhr auf dem Laptop, der einige Minuten vorgeht, also
11:17 Uhr ungefähr, oder, da er den Satz noch schreibt, 11:18 Uhr.“
Ein Roman, 1232 Seiten lang, in welchem ein Schriftsteller,
der Navid Kermani heißt, darüber berichtet, wie er diesen Roman, den ich gerade
lese, schreibt und was währenddessen in seinem Leben und um ihn herum so alles
geschieht. Lesungen, Sterben, Streits, mit der Tochter in die Kölner Philharmonie
gehen, eine zweite Tochter wird als Frühchen geboren, Sex, Geldsorgen, Krebs,
Reisen als Berichterstatter und privat, ein Jahr als Stipendiat in Rom, das
Ringen um die Ehe mit der Frau, die er liebt und von der er hofft, dass sie das
Buch als Liebeserklärung versteht, eine Poetikvorlesung in Frankfurt, Hölderlin
lesen, Jean Paul lesen, darüber schreiben.
Das Buch reicht vom allertrivialsten, zum Beispiel, wie er im Chatroom einer FrAndrea33 idealere Orgasmen bereitet, als er es in Wirklichkeit je vermöchte, bis zum Heiligsten, wie wir Gott suchen und manche ihn finden. Eine Chronik des Lebens und also ist es ihm gelungen, es zum Unendlichen hin zu öffnen.
Das Buch reicht vom allertrivialsten, zum Beispiel, wie er im Chatroom einer FrAndrea33 idealere Orgasmen bereitet, als er es in Wirklichkeit je vermöchte, bis zum Heiligsten, wie wir Gott suchen und manche ihn finden. Eine Chronik des Lebens und also ist es ihm gelungen, es zum Unendlichen hin zu öffnen.
Ein Roman, 1232 Seiten lang, in dem der Schriftsteller, der
Navid Kermani heißt, die Selberlebensbeschreibung seines Großvaters liest, der
in Isfahan/Iran gelebt hat, der nicht wirklich gut schreiben konnte, aber ein
aufrechter, ehrlicher Mensch war, aus dessen Selberlebensbeschreibung, die wir gemeinsam
mit dem Schriftsteller lesen, ergänzt und ausgeschmückt und manchmal, der guten
Leserlichkeit geschuldet, umformuliert vom Schriftsteller, erfährt man sehr
viel über den Iran, früher und heute, den Islam, früher und heute. Man erfährt
auch, dass Gott schön ist. So wird die Chronik, die keine Chronik der Heiligen
sein soll, genau dazu. Profan und spirituell, alles in einem, genau wie das
wirkliche Leben im gleichen Moment von der Erleuchtung zur Blamage kippen kann.
Das hat man weniger in der Hand, als es einem recht sein kann. Aber am Ende
sind wir möglicherweise alle Gott, also heilig.
Während der Schriftsteller das Buch schreibt, sein
Hauptwerk, lese ich es, so dass in gewisser Weise die Gegenwart zur
Vergangenheit wird, und umgekehrt, so dass in gewisser Weise der Schriftsteller
zum Leser wird, und umgekehrt.
Wenn man Dein Name liest, lernt man einiges über den Islam und über
den Iran und seine Geschichte. Auch darüber lernt man etwas, dass die
Einmischung zum Beispiel der Briten, der Amerikaner im Jahre 1953, der Sturz
des Premierministers Mossadegh mit Hilfe der Geheimdienste, dieser Sturz eines
Politikers nicht nur etwas zu tun hat mit der Entwicklung des Landes Iran,
sondern dass dies auch einer der Puzzlesteine gewesen ist, die zu den
Anschlägen des 11. Septembers, möglicherweise sogar zu der Flüchtlingskrise
geführt haben, die uns gerade alle so beschäftigt, die den Berichterstatter in
dem Roman, den ich lese, schon 2006 und 2007 und 2008 beschäftigt hat, womit er
einer derjenigen war, die im letzten Sommer nicht aus allen Wolken fielen, als
die Flüchtlinge plötzlich bis hierher kamen, in großen Mengen. Er hatte es
kommen sehen und seit Jahren versucht, darauf hinzuweisen wie ein Rufer in der
Wüste. Zu Recht bekam er für seine Worte im letzten Jahr, 2015, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, für den er sich mit einer großartigen Rede bedankte. Natürlich erhielt er noch sehr viele andere Preise, erhält eigentlich ständig welche. Das freut mich, weil er in meinen Augen tatsächlich eine herausragende Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur des Hier und Heute ist, der sich wie kein anderer interessiert und einmischt, der mitdenkt und niemals locker lässt.
Das Buch, das zunächst begonnen wurde als eine Art Chronik der
Toten, die dem Schriftsteller etwas bedeutet hatten, wird mehr und mehr zu
einem Buch über die Selberlebensbeschreibung des Großvaters, die wir gemeinsam
mit Kermani lesen und verfolgen das, was er daraus macht und wie er es
macht. Vermutlich ist Kermani der
einzige Mensch, der diese Memoiren komplett gelesen hat und da er
Schriftsteller ist, ein guter und bekannter dazu, im Land der Franken, wird die
Geschichte des Großvaters, die im Iran nie veröffentlicht wurde, so sehr der
Großvater sich dies gewünscht hatte, schlussendlich im Land dieser Franken, die
Großvater so bewunderte, für Furore sorgen und Preise gewinnen. Aber das weiß
auch der Schriftsteller, während er das Buch schreibt, nicht. Vielmehr quälen
ihn Selbstzweifel und immer wieder die Frage, ob dieses Buch überhaupt etwas
sein kann. Sein Schweizer Verleger reagiert irgendwann gar nicht mehr auf seine
Mails und Anrufe, so dass der Schriftsteller davon ausgehen muss, zunächst für
die Schublade zu schreiben und sowieso ohne Verlag dazustehen.
Von der ersten Seite an teilt uns der Schriftsteller, der
Navid Kermani heißt, fast auf jeder Seite, später seltener, aber immer noch hin
und wieder, Datum und Uhrzeit mit. Er verankert den Text somit fest und ganz
konkret in der Zeit, Wir erleben mit ihm Lesungen, das Sterben, eine Geburt,
eine Krankheit, erfahren gleichzeitig von seinen Selbstzweifeln, seiner Wut,
seiner Arbeit und den Renovierungsarbeiten in seiner Wohnung, „zuhause herrscht
der Handwerker in weißer Latzhose zwischen Bad und Kinderzimmer, damit auch
über den Flur, der mit Zeitungen ausgelegt ist“, so wie vom Mann vom
Abschleppdienst „Das ist das vierte Mal, dass ich sie abschleppe“, und dass der
Peugeot nun auch tot ist. „Bitte, nicht jetzt auch noch ein neues Auto suchen
müssen, es dürfte ja nicht irgendeins sein, sondern mindestens so schön wie der
große Peugeot, dazu schadstoffarm, zuverlässig und ein Schnäppchen.“
Wir lesen mit dem Schriftsteller, der Navid Kermani heißt,
Hölderlin und Jean Paul, wir lernen, Neil Young zu schätzen und verbringen ein
Jahr in der Villa Massimo in Rom. In diesem Jahr erkrankt der Schriftsteller
selbst an Krebs und muss sich einer Chemotherapie unterziehen.
Das Buch ist intim, zugleich allgemeingültig. Ein persönliches
Totenbuch, ein Requiem und ein Buch des Lebens. Selten bin ich bei der Lektüre
eines Buches so nah an mich selbst heran gerückt, an die Todesangst, so nah an
den Autor heran gerückt, an seine Lebenslust, an seine Lust, jeden Tag zu
protokollieren, was ist, und es wird niemals langweilig, da er so wunderbar
schreibt, dass es einen hinein zieht mit einem unglaublichen Sog. Das Leben ist
so wunderbar, dass ich Kermani, den das Autokorrekturprogramm ständig Germany
nennen möchte, und das ist schon wunderbar an sich, für den Rest meines Lebens
dabei lesend beobachten möchte, wie er lebt. Selten hat mich ein Buch so
inspiriert. Die Sprache mal makellos, mal locker. Da ist so viel Humor, soviel
gnadenlose Selbstbespiegelung, auch Eitelkeit, natürlich, wie sollte man ein
Buch von 1232 Seiten über sich selbst schreiben und dabei nicht eitel sein? Und
was ist überhaupt schlecht daran?
So ist das Buch auch ein Buch über das Schreiben eines
Romans und last but not least ein Buch über das Lesen.
„Jean Pauls Romane
sind der permanente Verfremdungseffekt. Wie im epischen Theater, gleichwohl
ohne Didaktik, kommentiert der Romanschreiber das eigene Romanschreiben und
stellt es somit in seiner Romanhaftigkeit heraus. Fortlaufend weist Jean Paul
auf besonders schwierige Passagen hin, die er dann innerhalb der Handlung um
einen Tag verschiebt, um als Romanschreiber
selbst ausgeruhter zu sein, rechtfertigt sich für seine Exkurse, redet seine
Figuren an, entschuldigt sich beim Rezensenten für Stellen, die ihm missraten
seien, lobt sich für ausgefallene Metaphern,…“
Navid Kermani zitiert Jean Paul in gewisser Weise, nicht nur
wortwörtlich, indem er uns immer wieder an seiner Lektüre des Autors, so wie
auch an derjenigen Hölderlins, teilhaben lässt, sondern auch im Tun, indem er
selbst den Leser anspricht, sich beim Romanschreiben zuschaut, kommentiert, sich
an den Verleger wendet, den Rezensenten, sich erklärt und so erst das
Romanschreiben eines Romanschreibers namens Navid Kermani ins Romanhafte
erhebt.
Aber Kermani liest nicht nur Hölderlin und Jean Paul,
en passant erwähnt er auch andere Bücher, die während des Schreibens von Dein
Name in seinem Leben eine Rolle spielten. Er hat dabei vor allem mein Interesse
für Ruth Schweikert, John Coetzee und Philip Roths Jedermann geweckt.
Kermani, Buddha, Notizbuch, Laptop - mein neuer Arbeitsplatz mit Aussicht in den Hof |
Dein Name ist ein riesiges Buch, ein Roman, wie ich noch
keinen las und der zu meiner großen Freude einmal mehr bestätigte, was ich
immer glaubte: dass es für das Schreiben von Romanen keine Regeln gibt und auch
keine Verbote. Man kann in einen Roman hinein nehmen, was man möchte, solange es funktioniert. Und bei Kermani funktioniert es von der ersten bis zur letzten Seite. Auch wenn er am Anfang und über weite Strecken selbst nicht damit gerechnet hat. aber es funktioniert, weil es Kermani am Ende schafft, die Öffnung zum Unendlichen wieder einzufangen, somit das Unendliche in einer ungeheuer eleganten Wendung zurück ins Endliche, in unser aller begrenztes Hier und Jetzt zu lenken.
Ein in jeder Hinsicht schweres Buch, an dem ich mir fast einen Bruch getragen hätte, weil es überall mit hin musste, damit ich bei jeder Gelegenheit darin lesen konnte (einen Tennisarm auch! halten sie oder Sie dieses Buch mal in der U-Bahn hoch, um darin zu lesen, lustig ist anders!) und für das ich ganze drei Monate gebraucht habe, länger als für „Krieg und Frieden“.
Ein riesiges Buch, das dem Leser viel abverlangt, aber ihn dafür genauso reich belohnt.
Ein Buch weit über den Tod hinaus und mitten hinein ins Leben, auch ins eigene, in dem man durch und während der Lektüre anders schaut und am Ende eine Ahnung hat davon, wie sehr der Tod das Leben ist, aber auch das Leben der Tod, und dass wir alle Gott sind.
© Susanne Becker
Ein in jeder Hinsicht schweres Buch, an dem ich mir fast einen Bruch getragen hätte, weil es überall mit hin musste, damit ich bei jeder Gelegenheit darin lesen konnte (einen Tennisarm auch! halten sie oder Sie dieses Buch mal in der U-Bahn hoch, um darin zu lesen, lustig ist anders!) und für das ich ganze drei Monate gebraucht habe, länger als für „Krieg und Frieden“.
Ein riesiges Buch, das dem Leser viel abverlangt, aber ihn dafür genauso reich belohnt.
Ein Buch weit über den Tod hinaus und mitten hinein ins Leben, auch ins eigene, in dem man durch und während der Lektüre anders schaut und am Ende eine Ahnung hat davon, wie sehr der Tod das Leben ist, aber auch das Leben der Tod, und dass wir alle Gott sind.
© Susanne Becker
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