„Gute Dichter erinnern mich an große Entdecker. Indem sie
die richtigen Worte wählen, setzen sie Gedanken in meinem Kopf in Gang, ein
bisschen wie die Berichte der Entdecker, die ich als kleiner Junge las.“
In seinem kleinen, feinen Buch „Stille. Ein Wegweiser.“ tut
Erling Kagge für die Leserin genau dies: er wählt Worte, aber auch stille
Momente, und setzt damit die Gedanken in Gang, die immer um die gleichen Fragen
kreisen, jene, die Kagge zu Beginn seines Buches stellt und die er versucht, zu
beantworten:
„Was ist Stille? Wo ist sie? Warum ist sie heute wichtiger
denn je?“
In dreiunddreissig Abschnitten forscht Kagge, mit einem
denkbar offenen Geist, der Stille hinterher. Dazu nimmt er sowohl seine eigenen
Erinnerungen zur Hilfe, als auch den Austausch mit Zeitgenossen wie dem
norwegischen Dichter Jon Fosse oder der Performancekünstlerin Marina Abramovic. Ich schätze Marina Abramovic sehr, wie man hier und hier auf meinem Blog nachlesen kann. Daher verwunderte es mich auch nicht, als ich gerade ihre Antwort auf seine Frage: was ist Stille, am inspirierendsten fand: "Das Gegenteil von Stille ist laut Abramovic ein Hirn, das arbeitet. Und denkt. Wenn du Ruhe finden willst, musst du aufhören zu denken. Nicht tun. Die Stille ist ein Werkzeug, um der Umgebung zu entkommen."
Kagge liest auch Bücher von Ludwig Wittgenstein ("worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen") oder Emily Dickinson und unterhält sich
mit seinen Töchtern, Teenagern, die mehr am Smartphone hängen als an seinen
Lippen.
„Stille kann langweilig sein.“
Vor nur zwei Wochen sah ich zufällig, bevor ich überhaupt von
der Existenz dieses Büchleins wusste, den Film „Zeit für Stille“ von Patrick Shen im Kino, der
im Grunde die gleiche Thematik beleuchtet. Ich möchte diesen Film jedem von
Herzen empfehlen, der sich für die Frage „Was ist Stille?“ interessiert.
Kennen wir heute überhaupt noch Stille? Ist Stille ein
äußerer Zustand der Geräuschlosigkeit oder ein ruhender Ozean in unserem
eigenen Inneren, aus dem Antworten zu allen Fragen aufsteigen, bevor wir sie
überhaupt stellen könnten? Ist die Stille in uns abhängig von einer Geräuschlosigkeit im Außen oder ist diese Stille möglicherweise immer da?
Bereiche wie Meditation, die Natur, die Musik von John Cage spielen
genauso in diese Überlegungen wie die Verzweiflung der modernen Menschen in der
Stadt, der ununterbochen Geräusche hören muss, die er nicht in sein Leben eingeladen hat, ununterbrochen online ist, weil er nicht weiß, wie man wieder offline geht, die Stille andererseits eigentlich nur noch mit Qual und
Langeweile, der bedrohlichen Konfrontation mit dem Abgrund im eigenen Inneren,
in Verbindung zu bringen vermögen. Haben wir Angst vor der Stille?
Was ist Stille? Es gibt in dem Buch keine bahnbrechenden
Antworten auf die Frage. Denn die Stille ist vielleicht ein Rätsel, für jeden etwas anderes. So muss auch jeder seine eigene Antwort, seine eigene Stille finden.
„Die Stille wird niemals alt unter der Sonne, sie ist immer
wieder neu. In der Wissenschaft geht es um Beobachtungen über einen bestimmten
Zeitraum hinweg, um etwas Nachprüfbares. Die Wissenschaft erklärt das
Materielle, das Geschaffene. … Jenseits der Erkenntnis beginnt die Stille.“
Nein, bahnbrechende Erkenntnisse kann und will das Büchlein
gar nicht bieten, denn die Stille beginnt jenseits, und da hinein muss jeder sich selbst begeben. Aber es lädt ein in den Raum, wo man sich der eigenen Stille, was immer
man darunter versteht, zuwenden kann.
"Der Mystiker Rumi soll einmal gesagt haben: "Jetzt muss ich still sein und die Stille entscheiden lassen, was Wahrheit ist und was Lüge..."
Herzlich danke ich dem Suhrkamp/Insel Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!
(c) Susanne Becker
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