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Die Leipziger Buchmesse 2018 - 9 Entdeckungen im Schnee


"Ich sehe keinen besseren Weg, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, als durch das Lesen von Büchern." Åsne Seierstad in ihrer Dankesrede zum Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung

„Lass die Kunst, schau aufs Handwerk. In ihm verstecken sich vielleicht, so wie heute im Internet, vernünftige Ansätze für Alien-Landebahnen.“ aus Bot. Gespräch ohne Autor von Clemens J. Setz

Die Leipziger Buchmesse 2018 war eine Veranstaltung, auf die ich mich, man könnte sagen wie immer, nicht vorbereitet habe. Möglicherweise ist dies meine Vorbereitung. Dass ich mich so offen wie möglich mache und ohne Plan hin gehe. Es ist wunderbar, sich dort treiben zu lassen, sich ohne Erwartung in das Getümmel zu stürzen und zu entdecken, was sich einem unerwartet in den Weg wirft.

Wenn man sich dem weiten Raum anvertraut,  den diese Messe öffnet und der für mich eine Metapher für das Leben an sich ist, wenn man sich dort treiben lässt, kann man viel Gutes entdecken. Der Wind weht einem durchs Gehirn und pustet Inspiration und Kreativität in großer Menge hinein. Danach können sich die festgefahrenen Gedanken wieder bewegen.

Ich erreichte die Messe am Donnerstagmittag, arbeitete mich sofort zur Glashalle vor und da saß Åsne Seierstad auf dem Blauen Sofa und sprach über ihr Buch „Einer von uns“. Für dieses Buch hat die norwegische Journalistin, Kriegsreporterin und Schriftstellerin in diesem Jahr auch den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung am Mittwochabend im Gewandhaus erhalten und mit einer wunderbaren Rede dort Position gegen den Rechtsextremismus bezogen, der seit Breiviks Tat in Europa ständig zunimmt. Wenn ein deutscher Innenminister ein Heimatministerium einrichten will, ist es offensichtlich, wie weit rechtes Gedankengut schon wieder Normalität geworden ist.
Es war faszinierend, ihr zuzuhören und ich fragte mich, wie sie es ausgehalten hat, dem Attentäter und den Ermordeten so nahe zu kommen. Die Auseinandersetzung mit diesem Gedankengut ist so schmerzhaft, dass ich glaube, es ist auch deswegen so erfolgreich, weil die, die es anders sehen, oft gar nicht den Mut haben, sich diesem Schmerz zu stellen und genau hinzusehen. Die Pegidapositionen in Deutschland tun weh. Deshalb brüllt man sie an, verachtet sie, schützt sich vor dem, was sie mit einem machen, indem man sich in einen Mantel aus selbstgerechter Überlegenheit hüllt. Leider ist es aber so, dass man Dinge, die man mit Gewalt bekämpft, verstärkt. Das ist wie ein Naturgesetz. Wenn man etwas auflösen möchte, muss man den Mut haben, es wirklich nah an sich herankommen zu lassen. Sogar mit einer Grundhaltung von Freundlichkeit. Man muss sehen, dass es auch ein Teil von uns ist. Man muss diese unangenehmen Gefühle ertragen, ohne sie auszuagieren. Erst dann können sie sich auflösen. 

Åsne Seierstad ist stehen geblieben, hat die Gefühle ausgehalten und sehr sehr genau hingeschaut. Sie hat aus dem Schmerz dieses Buch geronnen. Ich wollte es eigentlich nicht lesen. Aber nachdem ich sie erlebt habe, komme ich nicht mehr daran vorbei, weil sie mir mit ihrem klugen Auftreten deutlich gezeigt hat, wie sehr auch ich mich wegducke vor dem, was ich nicht wahrhaben möchte. Seierstad hat weitere spannende Bücher geschrieben, zum Beispiel „Zwei Schwestern“, über zwei junge Mädchen, die in den Dschihad ziehen. Ich habe diese Schriftstellerin mit ihrem ganzen Werk für mich entdeckt und das alleine wäre schon genug gewesen, um dafür im Schnee stecken zu bleiben. 


Die 2. Entdeckung lautet „Jeden Tag das Universum begrüßen“. Es ist ein wenig unlauter, aber der Titel ließ mich sofort an meinen Blog denken: Lobe den Tag. Das Buch ist wunderbar blau und es lag auf dem Stand von Voland & Quist. Geschrieben hat es der Schweizer Autor Michael Stauffer, auch bekannt als dichterstauffer. Ich ging daran vorbei, gleich nach dem Seierstad Interview und es sprang mich an. Ich nahm es in die Hand. Ich blätterte darin und war nach 30 Sekunden verliebt. Denn ich las folgende Worte: Wenn ein Buch kein Rätsel bleibt, ist es kein Buch. Schreiben ist wie den nächtlichen Sternenhimmel anschauen. Da kann man auch nichts planen. Da kann man nur staunen. Schreiben ist die Zusammenfassung von Zukunft und Vergangenheit.  Eigentlich konnte ich, wollte ich mich nie wieder von dem Buch trennen. Aber natürlich bettelte ich die Verleger nicht an, mir das Buch zu überlassen. Ich weiß, was Würde ist! Ich fragte lediglich, ob sie Bloggern Rezensionsexemplare zuschicken So wollte ich ihr die Chance geben, es mir niedrigschwellig und ja, auch wohlwollend, in die Hand zu drücken. „Passt schon“, oder so. Sie nahm diese Gelegenheit leider nicht wahr, sondern erwiderte nur freundlich: ja, das tun wir.
Während ich später durch die Internetseite von Voland & Quist flaniere, fällt mir noch Julius Fischer auf, (3. Entdeckung) mit seinem Romanprojekt „Ich hasse Menschen. Die Zugfahrt.“ Was unglaublich gut zu dieser Leipziger Buchmesse passt, wo vermutlich fast jeder etwas erlebt hat, das mit hassenswerten Menschen, Zugfahrten, und aber auch Schnee zu tun hat. Die Tweets und Facebookeinträge nahmen kein Ende. Wobei ich glaube, dass auch praktisch jeder etwas erlebt hat, das mit liebenswerten Menschen zu tun hat. Sobald die Deutsche Bahn kläglich scheitert, kann man sich in einem gestrandeten ICE auch mal schnell wie auf einer Karnevalsveranstaltung fühlen, ist meine Erfahrung.

4. Entdeckung: Es könnte sein, dass ich Felicitas Hoppe doch mag, obwohl ich ihr Buch Hoppe entsetzlich langweilig fand. Aber ihr neues Buch Prawda, aus dem sie las, als ich zum ARD Stand kam, ich glaube, es war in Halle 4 (oder 5?), klang spannend. Spannender aber noch war die Art, wie sie davon erzählte. Vielleicht mag ich Felicitas Hoppe und ihre Projekte, (diesmal eine Reise durch Amerika auf den Spuren zweier russischer Schriftsteller, die die gleiche Route vor 80 Jahren gereist waren), aus denen sie dann Bücher macht. Aber ich mag nicht unbedingt die Bücher? Ja, das könnte sein. 

5. Entdeckung: Peter Stamm ist ein unglaublich toller Vorleser und extrem sympathischer Mensch. Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt heißt sein neues Buch. Ich hätte ihm stundenlang zuhören und zuschauen können beim Lesen und plaudern mit dem Publikum in der Schweizer Hütte, auf einer Holzbank. Mein innerer Raum wurde dabei immer weiter, als er Fragen beantwortete und dann erzählte, wie es zu seinem Buch kam mit der Doppelgängerthematik, wie er Querverweise machte zu Uwe Timms „Vogelweide“ und Camus‘ Der Fremde. So viele schlummernde Synapsen in meinem Hirn fingen an, sich zu bewegen. Ich konnte mir vor lauter Euphorie noch nicht einmal Notizen für diesen Text machen.







6. Entdeckung: Clemens J. Setz. Ich meine, dieser Mensch ist einfach unglaublich! Weitere Synapsen spielten quasi Feuerwerk in meinem Schädel, als er über sein Buch „Bot. Gespräch ohne Autor“ sprach. Es sollte ursprünglich ein Interviewbuch werden mit ihm, dem Autor, als Befragten. Aber die Idee kam ihm dann irgendwie öde vor. Er habe im Grunde nicht wirklich so tolle Antworten auf diese immer gleichen Fragen zu geben. Da fielen ihm seine alten Journale ein und dass man doch, per Zufallsgenerator, per quasi künstlicher Intelligenz, auf die gestellten Fragen Antworten aus eben jenen Journalen finden lassen könne. Eine Art Roboter wird interviewt, der aber dann seine, Setz', Seele nachbildet, vielleicht möglicherweise besser, als er selbst es könne.
Als der Moderator fragte, ob es gelungen sei, seine, Setz‘, Seele aus den zufällig herausgepickten Stellen seiner alten Journale, nachzubauen, antwortete er: "Ja, ganz leicht."
Und dann sagte Setz noch: „Die Missverständnisse, die der Bot gemacht hat, sind manchmal viel besser als die Verständnisse.“
Merkt Ihr auch, wie sich bei solchen Sätzen in Euren Köpfen ein Raum öffnet, in dem alles möglich ist, in dem es keine Festlegungen, keine Definitionen gibt und in welchem man auch mit Robotern befreundet sein könnte? In welchem Roboter Menschenrechte bekämen?
Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt hatte, aber die Leipziger Buchmesse ist für mich ein Ort, an dem meine eingeschränkte Sichtweise sich weitet und weil ich auch aus genau diesem Grund so gerne lese, weil Bücher meine Perspektive sprengen, weil sie mir beibringen, dass meine eigene Gedanken genauso gültig und beständig sind wie vorüberziehende Wolken, liebe ich diesen Ort. Ich bin süchtig. Ich freue mich schon jetzt auf die nächste Buchmesse. 

7. Entdeckung: Kristine Bilkau auf der 3sat-Couch. Meiner Meinung nach war die Moderatorin furchtbar. Sie hatte ein Bild von dem Buch, eine festgezurrte Interpretation in ihrem eigenen Kopf und beinahe gewaltsam zwang sie die Autorin hinein. Sie schrieb ihr minutiös vor, welche Textstellen sie zu lesen habe, sie stellte Fragen, die dreimal länger waren als Bilkaus mögliche Antworten und kam sich, alles in allem, sehr klug vor. Allerdings habe ich diese Beobachtung schon öfter gemacht, dass Moderatoren bei etwas intelligenteren Büchern schnell überfordert sind und das mit Vielreden wettmachen. Ich hätte mir gewünscht, mehr von Kristine Bilkau zu hören. Denn was sie sagte, war sehr klug. Auch interessiert mich ihr neues Buch „Eine Liebe in Gedanken“ sehr. Schon ihr letztes Buch Die Glücklichen hatte ich besprochen.
Eine Liebe in Gedanken. Ist sie womöglich intensiver, als eine, die man lebt? Oder ist es auch lieben, in Gedanken? Wie nah ist man bereit, seinen eigenen Gefühlen zu kommen? Welchen Preis zahlen Frauen dafür, dass sie die Freiheit wählen, ein selbstbestimmtes Leben? Fragen, von denen ich glaube, das Buch lotet das Feld aus, welches sie öffnen.

8. Entdeckung: Wenn es im Winter schneit, womit man ja nun wirklich nicht rechnen kann, kann es einem passieren, dass man aus Leipzig nicht so einfach wieder wegkommt. Ich habe dabei auch die Entdeckung gemacht, dass ich nicht so große Lust habe, stundenlang im Wartebereich des Hauptbahnhofs zu sitzen und zu hoffen. Als die Bahnangestellte sagte: „Heute ist schonmal ein Zug nach Berlin gefahren, wann der nächste, ob ein nächster fährt, steht in den Sternen.“ Machte ich auf dem Absatz kehrt, kratzte an der Tür meines Hotels, und bekam, oh Wunder, das letzte Zimmer. „Da hobn se Glück. Weschen dem Wätta schaffens viele nüsch hierhä.“ War wirklich ein Glück. Ein tolles Zimmer und einfach mal so aus der Zeit fallen. Ich stöberte natürlich, wofür hat man ein Smartphone (s. auch letzten Blogeintrag) und machte so im Hotelzimmer meine

9. Entdeckung: Svenja Leiber war auf der Buchmesse, ebenfalls auf der 3sat Couch und davon gibt es ein Video. Sie stellt ihren neuen Roman Staub vor, der mich sofort reizt. Denn er lädt, und das ist für mich etwas, was alle meine Entdeckungen auf der Buchmesse so ein bisschen gemeinsam haben, dazu ein, seine gewohnten Denkmuster zu sprengen. Solange man seinen eigenen Gedanken blind traut, deren Definitionen, Festlegungen und Gefängnisse glaubt, kann es keine Freiheit geben, und auch keinen Frieden. Ihr Buch spielt teilweise in Saudi Arabien und Jordanien und geht damit aus einer für uns völlig ungewohnten Richtung auf muslimische Länder zu: offen und begeistert. Sie hat selbst als Kind ein paar Jahre dort gelebt, in Riad und sich damals in die Poesie des Orients verliebt, kann man vielleicht sagen, den sie nie als Gegensatz zum Okzident wahrgenommen hat. Welche Weite! Danke Svenja Leiber.

Ich weiß nicht, ob ich damit übertreibe, aber das ist für mich etwas, das ich schon im letzten Jahr auf der Buchmesse so deutlich wahrgenommen habe: dass sie ein offener Raum ist, in dem so viel möglich ist, eigentlich alles. Dieser Raum ist so weit, dass man es in ihm eigentlich gar nicht nötig hat, Rechte anzubrüllen und sich von ihnen anbrüllen zu lassen. Man könnte die Gelegenheit nutzen, sie sich von Nahem anzuschauen, mit einer offenen Haltung und dem ehrlichen Wunsch, etwas zu verstehen, das vollkommen frei ist von jeder Voreingenommenheit, das so ist, als wüsste man nichts. Das wird weh tun. Aber ich denke an Åsne Seierstad und das gibt mir das Gefühl, es könnte sich lohnen.

"Über den Terroristen zu urteilen, würde mich in dem Versuch behindern, herauszufinden, was ihn dazu brachte, sein Verbrechen zu begehen - den tödlichsten Terrorakt im modernen Europa, der von einem Individuum allein begangen wurde." aus Åsne Seierstads Dankesrede in Leipzig

P.S. Und ich habe Navid Kermani gesehen! Das war jetzt keine Entdeckung, aber ich find ihn einfach toll! Er hat sein neues Buch Entlang den Gräben vorgestellt und wie immer, nur kluge Dinge von sich gegeben. 

P.P.S. Noch eine Erwähnung meiner nächsten Lektüre: Hain, der Geländeroman von Esther Kinsky. Alles,was ich über dieses Buch gehört habe, fasziniert mich. Dass sie den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat, ist dabei nur eine Nebensache. 


(c) Susanne Becker


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