"He called her mermaid. She didn't know why."
Gerade habe ich Asymmetrie von Lisa Halliday beendet und
vielleicht ist es eines der Bücher, das mich am stärksten aus meiner „comfort
zone“ katapultiert hat. Weil eine amerikanische, weiße, im Grunde privilegierte
Frau, die in der Literaturwelt arbeitet, ihren Horizont so derart transzendiert,
dass es sie in die Lage versetzt, mit der Stimme eines irakisch-amerikanischen
Mannes zu schreiben, der am Londoner Flughafen davon abgehalten wird, in
Großbritannien einzureisen. Dabei möchte er dort nur zwei Tage bleiben, seinen
Freund Alastair, einen Kriegsjournalisten, treffen und dann, über Istanbul,
weiter in den Irak reisen. Aber man lässt ihn nicht. Er hat zwei Pässe. Er ist auch Iraker. Irakisch ist eine der verdächtigen Nationalitäten. Terroristen sind Iraker.
Die Geschichte dieses Mannes, seiner Familie, ein Teil der
Geschichte des Irak macht aber erst den zweiten Teil dieses wunderbaren Buches
aus.
Im ersten Teil hat die Ich-Erzählerin Alice eine Affäre mit
einem viel älteren Mann, einem berühmten Schriftsteller, namens Ezra Blazer, der unschwer als
Philipp Roth zu erkennen ist. Genial daran ist die Tatsache, dass dieser Teil insofern
autobiografisch ist und es auch sein will, denn Lisa Halliday hatte tatsächlich
als jüngere Frau eine Affäre mit Philipp Roth.
In diesem ersten Teil geht es naturgemäß um ihr
Kennenlernen, auch um die Beschwerden des Alters, welche Stellungen beim Sex
wegen Rücken oder anderer Beschwerden für Ezra nicht mehr drin sind und was er
für neurotische Gewohnheiten kultiviert hat im Laufe seines langen Lebens. Man könnte
sagen: dieser Teil handelt unter anderem von jemandem, der sich in gewisser
Hinsicht immer mehr in seinem Sicherheit gewährenden Kokon aus klassischer Musik,
Literatur und einem Leben zwischen New York und dem Land, eingenistet hat,
einnisten konnte, weil die amerikanische Gesellschaft sicher ist, absolut
komfortabel, kein Mensch wird dort einmarschieren und das System gewaltsam über
den Haufen werfen. Dieser erste Teil zeigt aber auch eine Liebesbeziehung, die niemals lächerlich oder bloßstellend erzählt wird, sondern wirklich Liebe und gegenseitigen Respekt verkörpert.
Der zweite Teil lässt, wie erwähnt, jemanden zu Wort kommen, der, obwohl in
den USA geboren, auf diese westliche Bequemlichkeit, qua Geburt und Familienbande, keine realistische
Chance hat. Das, was im Irak geschieht, geht ihn 100% direkt an, ist keine
intellektuelle Problematik, die man mit einem
Drink in der Hand durchkaut oder aufgrund von Lektüre zu entschlüsseln sucht. Die Anschläge in Bagdad, der Krieg im Irak, sie gehen ihn ohne jeden Umweg an. Auch, wenn er nicht dort ist.
"Mr. Jafaari. Apart from your American passport, do you have any other nationality passport or identification document?
Yes.
You do?
Yes.
What?
An Iraqi passport.
(Again the frisson.) How is that?
My parents are Iraqi. They applied for one after I was born.
Do you have it with you?
I bent down to unzip my backpack."
Im dritten Teil finden wir ein Radiointerview mit Ezra
Blazer. Er darf seine Lieblingssongs spielen und zwischendurch der
Interviewerin Fragen beantworten zu seinem Leben. Dieser Teil ist wie der Schlüssel zu allem anderen.
Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Vielleicht lese ich das ganze
Buch noch einmal. Denn ich vermute, ich habe, ohne diesen Schlüssel, so vieles
überlesen, was aber wichtig gewesen wäre.
"War is God's way of teaching Americans geography."
Für mich ist dieses Buch wie eine Aufforderung, meinen
Horizont zu sprengen und all diese Menschen, die wir hier zum Beispiel unter dem
Sammelbegriff Muslime abarbeiten, von innen zu begreifen. Also, das ist
natürlich affig, denn ich kann mich ja nicht in tausende anderer Menschen
einfühlen. Aber ich könnte mir einen einzigen herausnehmen. Eine Nationalität,
sagen wir afghanisch. Der afghanische Junge, für den meine Freundin die Patenschaft
übernommen hat. Wie lebt es sich als dieser Junge hier in Berlin, wo die Frau
von der Ausländerbehörde sich freut, dass sie unter Umständen einen Widerspruch
in seiner Erzählung findet, so dass er kein Asyl bekommt, aber eine Lehrstelle
und zur gleichen Zeit hört er sechs Wochen lang nichts von seiner Familie im
afghanischen Dorf, fürchtet, dass sie alle tot sind, seine Eltern, die
Geschwister, bekommt Herzbeschwerden, die sich kein Mensch bei einem 17jährigen erklären kann.
Wirklich nicht?
Wie fühlt er sich?
Für mich ist dieses wirklich tolle Buch eines der besten,
die ich bislang in 2018 lesen konnte, und es ist eine Aufforderung an den
Leser, so verstehe ich es, sich in Empathie zu üben, in grenzenloser Empathie.
Ich habe es in Englisch sehr genossen, die Sprache ist wunderbar und der Ton so leicht und doch komplex. Obwohl ich sehr gut Englisch verspreche, musste ich immer wieder Worte nachschlagen. Die Ausgabe für England erschien übrigens bei Granta.
Auf Deutsch ist Asymmetrie kürzlich bei Hanser erschienen.
(c) Susanne Becker
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