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Wut und Gehen, Lesen und Rebecca Solnit: Wanderlust

 

An Eskimo custom offers an angry person release by walking the emotion out of his or her system in a straight line across the landscape, the point at which the anger is conqered is marked with a stick, bearing witness to the strength or length of the rage.“ Lucy Lippard in Overlay, quoted nach Rebecca Solnit, Wanderlust

Heute bin ich nicht wütend. Aber ich war es schon sehr oft in meinem Leben. Es ist in meiner Erfahrung ein eher unfruchtbares Gefühl, das einen innerlich verbrennt und einem äußerlich keinerlei Lösung bringt. Auf der anderen Seite ist sie oft gerechtfertigt und es ist wichtig, sie ihre wunderbare Energie auf gute Weise nutzen zu können. Mich hat diese Idee, seine Wut aus sich heraus zu laufen, möglicherweise immer auf der gleichen Strecke, so dass man jedes Mal die Möglichkeit hat, im Vergleich die Stärke und Intensität seiner heutigen Wut mit der von gestern und mit jener von vor einem Jahr zu vergleichen, ungemein fasziniert. Vermutlich weil ich mich beiden Phänomenen nahe fühle: Wut und Gehen.

Gehen ist eine großartige Form von Protest. Gleich zu Beginn des Buches berichtet Solnit von der 89jährigen Doris Haddock, die 1999 durch die USA gelaufen ist, um für eine finanzielle Reform des amerikanischen Wahlsystems zu demonstrieren.

Wenn man seine Wut ausläuft, dann wird am Ende, davon gehen die Eskimos aus und auch Rebecca Solnit, eine Klarheit stehen. Denn Gehen hat etwas von Meditation und die Intensität der Wut macht diese Meditation umso wirkungsvoller.

Jean Jacques Rousseau sagte, dass er nur meditieren könne, während er gehe. Sein Kopf arbeite nur in Zusammenhang mit seinen Beinen.

Man hört solche Sätze öfter, von Schriftstellern und Denkerinnen, die im Laufen Lösungen für ihre Schreibfragen und philosophischen Untersuchungen finden.

In diesem Sommer bin ich mit meinem Bruder an einem Tag 25 km durch die Eifel gewandert. Ich weiß nicht, wie viele Höhenmeter wir dabei überwunden haben, aber es ging im Grunde zu 80% auf dieser Wanderung entweder steil bergauf oder steil bergab. Zugspitze? Oder sogar Mount Everest? Das Verbrennen negativer Gefühle, nicht nur Wut, auch Ängste oder Unsicherheiten, war mir bei dieser Wanderung deutlich bewusst. Auch die Möglichkeit, seine Gedanken schweifen zu lassen, während man in einer wunderschönen Landschaft unterwegs ist und von ihr genährt wird. Die Stärke seines eigenen Körpers zu spüren und dass man in der Lage ist, ein Ziel durch eigene Kraft und nicht mit der Hilfe eines technischen Geräts zu erreichen, es ist ungemein befriedigend.

Wanderlust

Wanderlust, A History of Walking ( auf Deutsch: Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens, bei Matthes & Seitz im letzten Jahr erschienen) dieses Buch von Rebecca Solnit, begleitete mich innerlich bereits auf dieser Wanderung. Ich gehe so gerne. Ich gehe manchmal durch halb Berlin, von meiner Wohnung bis zu meiner Arbeitsstelle, das sind immerhin etwa acht Kilometer eine Strecke. Das macht mir nicht soviel. Häufiger fahre ich mit dem Fahrrad. Aber das ist in letzter Zeit oft gefährlich, vielleicht werde ich auch alt. Aber ich fühle mich schneller als früher bedroht von anderen Radlern, die mich rechts überholen und von Bussen, die sich links an mir vorbeidrängen und mir dann den Weg abschneiden. Eigentlich vergeht selten eine Fahrt durch Berlin, ohne dass ich kurz denke, ich sterbe eventuell gleich. 

Beim Laufen ist das ganz anders und man sieht natürlich auch viel mehr und viel deutlicher, weil man um so vieles langsamer ist. Gerade jetzt in Coronazeiten ist es darüber hinaus ein, im Vergleich zu öffentlichen Verkehrsmitteln, sicherer Weg, sich fortzubewegen. Wenn ich in anderen Städten bin, versuche ich immer, mir eine Unterkunft zu organisieren, von der aus ich alles erlaufen kann, was wichtig ist. Ich habe mir Prag erlaufen, Rom und Lissabon, auch Wien. Besonders gerne laufe ich aber in der Natur: an Stränden oder in Wäldern. Im letzten Jahr habe ich mich von meinem Auto getrennt, das ich nicht lange besessen habe, das aber in Berlin durchaus praktisch sein kann, weil man damit leicht vor die Tore der Stadt kommt. Aber nachdem ich meinen Garten in der Uckermark ebenfalls aufgegeben habe, machte das Auto keinen Sinn mehr. In der Stadt bin ich damit nie gefahren, nachdem die Kinder aus dem Alter heraus waren, in dem sie mich als Chauffeurin brauchten.

Wanderlust handelt vom Gehen in allen Schattierungen. Es zeigt, dass das Gehen ein revolutionärer Akt ist, vor allen Dingen in einer Zeit, in der so viele Abläufe immer stärker darauf ausgerichtet werden, dass man sie ohne jede Bewegung erledigen kann. Da wird das Gehen zum Supermarkt zu einer verlorenen Zeit, die man dringend noch mit anderen Dingen (Whatsappen, Musikhören oder ähnliches) füllen muss. Wie praktisch, wenn man online seine Einkäufe bestellen kann, ohne sich selbst fortzubewegen. Rebecca Solnit ist natürlich Amerikanerin. Der Drang, sich gar nicht mehr zu bewegen außer mit seinem eigenen Auto, ist dort noch viel ausgeprägter und formt auch die Landschaft der Städte sowie die Kultur ungemein aggressiver. Schon vor vielen Jahren, als ich dort lebte und mich hauptsächlich mit einem Rennrad fortbewegte oder zu Fuß, fand ich bei den Malls für mein Fahrrad keinen Platz, es abzustellen, aber bis zum Horizont erstreckten sich die Parkplätze für Autos. Ich erinnere mich noch gut an die erstaunten Blicke, die mich trafen, wenn ich mit meinem Fahrrad vorfuhr.

Aber dennoch ist diese Tendenz ja auch hier spürbar. Gehen wird eher als Fitnesstraining denn als natürliche Art und Weise, sich fortzubewegen, betrachtet. Alles ist auf Effizienz ausgerichtet, auf Schnelligkeit, auf Produktivität. Gehen, und zwar nicht als Sport betrieben, findet auf einer anderen, soll ich sagen, Straße?, statt? Vielleicht eher auf einem anderen Weg. Aber man kann ja überall laufen. Es fiel mir wieder im Februar auf Sizilien auf, dass auch die archaischeren Regionen zum Beispiel Europas, eher dem Auto als dem Fußgänger huldigen. Mit unseren Rollkoffern vom Bahnhof kommend, mussten wir in Taormini Giardini quasi auf der Fahrbahn laufen, denn die Häuser sind, ohne Bürgersteig, direkt an den Straßenrand gebaut. Die Autos pfiffen ungerührt an einem vorüber. Wenn es dann doch Bürgersteige gibt, sind sie so schmal dass man mit der Hälfte seines Körpers eigentlich doch auf die Fahrbahn hinaus ragt. Sizilianische Autofahrer sind temperamentvoll und schnell und ich ging dann einfach davon aus, dass sie an plötzlich auftretende Fußgänger gewöhnt sind und auch in einer scharfen Kurve so schnell ausweichen können wie sie fahren. In Rom mussten wir durch eine Art Autobahntunnel laufen, mitten in der Stadt, um von einem Viertel ins andere zu gelangen. Es gab keinen anderen Weg dorthin. Der Tunnel war sehr lang, sehr dunkel und sehr laut. Immer wieder frage ich mich, wie unsere Städte aussähen, wenn sie für Fußgänger und nicht für Autos gebaut wären?

Dieses Buch ist klug und beweglich, es führt einen auf eine lange Wanderung durch die Geistesgeschichte und politischen Aktivismus, durch Literatur und Philosophie und durch die Landschaften, die sich die Autorin erwandert. Aber es führt einen auch in die eigene Erinnerung und in die Welt der eigenen Gedanken. Ich könnte ab jetzt jedes Mal, wenn ich wütend werde, einfach los laufen, immer die gleiche Strecke, an der Spree entlang durch den Treptower Park bis zum Plänterwald und abmessen, wie wütend ich bin an der Strecke, die ich je zurück lege. Manchmal würde ich, so fürchte ich, bis Köpenick kommen. 

Aber wie gesagt, heute bin ich ja nicht wütend.

Große Leseempfehlung! Es gibt wirklich wenige Autorinnen, die mich so inspirieren wie Rebecca Solnit.


(c) Susanne Becker



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