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Ingeborg Bachmann - Ein Tag wird kommen

            
Wahrlich
für Anna Achmatova

Wenn es ein Wort nie verschlagen hat,
und ich sage es euch,
wer bloß sich zu helfen weiß
und mit den Worten –

dem ist nicht zu helfen.
Über den kurzen Weg nicht
und nicht über den langen.

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschreibt.

Ich lese gerade eine Ingeborg Bachmann-Biografie „Die dunkle Seite der Freiheit“, ihren Briefwechsel mit Paul Celan, „Herzzeit“, Gedichte von ihr (Liebe, dunkler Erdteil; Die gestundete Zeit), Geschichten von ihr (Simultan, Das dreißigste Jahr) und Interviews (Wir müssen wahre Sätze finden), alles parallel und gleichzeitig. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich sie, ohne jede Frage, zu meiner Mutter gewählt, meiner literarischen Mutter. Es gab für sie keine Konkurrentin. Dann hatte ich mich abgewandt, und wenn ich an sie dachte, überkam mich oft ein großer Widerwille. Das Wort „Todesarten“ war immer zuerst da. Dass das Leben weh tut und die anderen Mörder sind, zutiefst Verletzende, diese Sicht stieß mich zurück. Denn ich ahnte, dass einen eine solche Weltsicht auf Dauer ins Unglück stürzen würde. Ich wollte nicht ins Unglück. Dort hatte ich schon genug Zeit verbracht. Ich wollte ins Glück und war doch auch der Meinung:


Ich ging davon aus, dass man glücklich sein konnte. Ich ging davon aus, dass die Wahrheit nicht nur aus negativen Fakten bestehen konnte.
Wenn ich jetzt, was nicht selten geschieht, bei der Lektüre auf das Wort „Todesarten“ stoße, verstehe ich es anders. Ich verstehe, wie viel Ingeborg Bachmann der Welt gegeben hat, indem sie die Wahrheiten, gerade die negativen, auslotete. Ich verstehe, dass sie dafür verbrannte. Lange bevor sie tatsächlich durch das Feuer starb, brannte sie inwendig an der Unbestechlichkeit ihrer Absicht, die Wahrheit zu finden, sie in Worte zu fassen und nicht vor ihr zurück zu schrecken. Sie brannte auch an der Wahrhaftigkeit, die sie angesichts aller Gefühle, aller Vorkommnisse immer leben wollte. Wenn ich ihre Briefe an Paul Celan in Herzzeit lese, dann verstehe ich: Sie war eine mutige Frau und eine große Schriftstellerin, sie sezierte das menschliche Miteinander, das Tohuwabohu der menschlichen Gefühle, allen voran der zwischenmenschlichen Liebe, und schmiedete daraus Texte für die Ewigkeit und die Erkenntnis, dass dieses Tohuwabohu bereits der Anfang von allem Krieg ist. Sie bezog immer Stellung. Niemals wählte sie die Position der Bequemlichkeit, nicht im Privaten und nicht im Öffentlichen. Sie hielt die ganzen Gefühle aus, ohne sich dagegen abzuschotten. Sie war keine kühl kalkulierende Networkerin, sondern dem Allgemeinmenschlichen beinahe schutzlos ausgeliefert. Lediglich ihr Intellekt konnte ihr dabei helfen, die Dinge zu entwirren. Aber der Intellekt ist nicht wirklich gut darin, sich in Gefühlen zurecht zu finden oder einen den Umgang mit denselben zu lehren.

Als ich sie zu lesen begann, vor vielen Jahren, ich war gerade von Zuhause ausgezogen und war innerlich und äußerlich unbeheimatet, fand ich mich sofort in ihren Texten wider, fand ich zum vielleicht ersten Mal Seiten von mir in Worte gefasst, die mich bis dato verunsichert hatten.

„Bei jeder Gelegenheit hat er ja gesagt zu einer Freundschaft, zu einer Liebe, zu einem Ansinnen, und all dies immer auf Probe, auf Abruf. Die Welt schien ihm kündbar, er selbst schien sich kündbar. … Nie hatte er gedacht, dass von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren – oder dass er sie hatte versäumen müssen, weil nur eine für ihn galt.“ aus: Das dreißigste Jahr

Ich fand in ihren Texten eine Rechtfertigung für mein Sosein, eine Verbündete, eine Mutter,die mir spiegelte, dass ich vollkommen in Ordnung war.
Dabei kann ich mich noch nicht einmal an den exakten Zeitpunkt unserer ersten Begegnung erinnern. In der Schule wurde ich hauptsächlich mit Vätern konfrontiert: Sartre, Nietzsche, Hesse, Frisch, Dürrenmatt, die ich alle begeistert in meinem bis dato bücherlosen Leben empfing. Ich verbrachte meine Abende schreibend in meinem Zimmer, und lesend, und fühlte mich diesen Herren sehr verbunden, vor allem in meinem  geheimen Wunsch, in ihre Reihen vorzustoßen als Gleichberechtigte. Es eröffnete sich mir durch das Lesen eine Welt, die wie ein Paradies erschien,  ein erreichbares Paradies. Ich investierte fast mein ganzes Taschengeld in Bücher, und meist in solche von Männern.
Lange war mir gar nicht bewusst, dass ich ein Rollenmodell haben sollte, das mir half, meine Identität als unabhängiges weibliches Wesen genauer zu bestimmen. Ich fühlte mich unter den Männern gar nicht so unwohl und verstand erst viel später, dass Männer sich als Rollenmodelle für Frauen eben nur sehr bedingt eignen. Ich denke, es muss in den Anfängen meiner Zwanzigerjahre gewesen sein, dass ich erstmals wirklich damit anfing, mein Denken, also Schreiben, aus der Neutralität des einfachen Flüchtens aus einem engen, provinziellen Leben in das Denken, also Schreiben einer unabhängigen, weiblichen Persona zu transportieren. Ich begann, mir eine Maske für mich selbst zu entwerfen, frei nach der Idee, dass man sich erst etwas ausmalen muss, um es dann zu werden. Unabhängigkeit war tatsächlich, ohne dass ich es so genannt hätte, eines der wichtigsten Merkmale der Person, die ich werden wollte. Eine unabhängige Frau, innen und außen. Ich wollte alleine wohnen und ich wollte Dinge denken, auch wenn niemand mir folgte, wenn ich denkend allein sein müsste. Diese Unabhängigkeit fühlte sich in den meisten Momenten an wie ein Belagerungszustand. „Abstand, oder ich morde. Haltet Abstand von mir.“ (aus: Das dreißigste Jahr) Das gefiel mir nicht, obwohl ich es nicht uninteressant fand. Die Unabhängigkeit sollte jedoch absichtsvoll und zielgerichtet sein, souverän von meiner Seite aus. Das war die angezielte Vision. Ich hatte einen Hang zu Melodramatik und Selbstmitleid, von daher hatte diese Unabhängigkeit damals durchaus auch manchmal die Klangfärbung der Todesgefahr (wenn ich eine zweite literarische Mutter nennen müsste, wäre es vielleicht Oriana Fallaci). Ich malte mir beispielsweise aus, dass ich in Kriegsgebieten schreiben, Diktatoren interviewen, mit Rebellen kämpfen und dabei umkommen würde. Nicaragua stand ganz oben auf der Liste der Länder, in die ich wollte. An anderen Tagen malte ich mir aus, mein Leben hielte mich vom Schreiben ab und ich würde mit dem Kopf in meinem Backofen sterben. (Sylvia Plath! genau, aber das Verrückte ist, dass ich sie damals noch gar nicht kannte, ich entdeckte sie erst ein paar Jahre später, parallel zu Anne Sexton).

Unabhängig, verzweifelt, den Tod nicht fürchtend, ihm nicht ausweichend, auf der Suche nach den wahren Sätzen. Das Zusammentreffen mit Ingeborg Bachmann war ab einem gewissen Zeitpunkt unvermeidlich.

            „Dein Blick spurt im Nebel:
            die auf Widerruf gestundete Zeit
            wird sichtbar am Horizont.“ (aus: Die gestundete Zeit)

Ich fand einen Bildband „Ingeborg Bachmann. Bilder aus ihrem Leben“. Er wurde mein ständiger Begleiter. Ich wohnte in meiner ersten eigenen Wohnung, ohne Eltern, ohne Freund oder WG, Opladen, Kanalstraße, ich hatte mehrere Jobs und studierte Philosophie (wie die Bachmann) . Beim täglichen Blättern in diesem Bildband konkretisierten sich die Visionen bezüglich meiner Unabhängigkeit: jemand, der in andere Städte zog, an Orten lebte, die weit weg waren, dort schrieb, (das Schreiben wurde immer mehr zu einem entscheidenden Element). Ich begann, Italienisch zu lernen, man konnte ja nie wissen. Jemand, der politisch interessiert ist und sich reibt an der Vergangenheit, die in Deutschland keine ruhmreiche war. Der Holocaust schwebte im Hintergrund auch noch meiner Unabhängigkeit und schattierte jede meine Absichten. Gerade weil in meiner Familie niemand darüber sprach, war ich eine Nachfahrin von Tätern.
Zu einem wirklichen Interesse an der Gesellschaft gehörte, da ging ich vollkommen konform mit Ingeborg Bachmann, die Erkenntnis, dass im Frieden seelisch gemordet wird, und dass dieses Morden die Voraussetzung für allen Faschismus und alle Kriege bildet. Ich ging auch konform mit ihr in der Erkenntnis, dass ein großer Teil dieses Mordens sich unter dem Deckmantel des Liebens verbarg. Da war es wichtig, dass man sehr genau hinschaute. Was weh tat. Die meisten Menschen verschlossen die Augen vor dem, was war, weil der Schmerz darüber sie am Leben hindern würde, dachten sie. Dass das Augen verschließen auch eine Verkrüppelung emotionaler Art mit sich brachte, nahmt die Allgemeinheit stillschweigend in Kauf. Niemand mochte ständig im Schmerz leben.
Wenn ich Interviews lese, die Ingeborg Bachmann nach dem Erscheinen von „Malina“ gegeben hat, dann mutet diese ihre Sichtweise manchmal dramatisch und überspitzt an, aber natürlich hat sie auch recht, mit jedem Wort. Sie treibt die unbequemen, die negativen Wahrheiten auf die Spitze und fokussiert ihre Aufmerksamkeit ganz darauf.
In ihrem Leben und ihrem tiefsten Erkennen war sie wund und offen und daher verletzbar und angreifbar. In ihrem tiefsten Erkennen war sie darauf konzentriert, die Schwächen der Menschen ganz genau zu untersuchen, jene Schwächen, unter denen sie überproportional litt.

  „In die Mulde meiner Stummheit
     leg ein Wort
     und zieh Wälder groß zu beiden Seiten,
     dass mein Mund
     ganz im Schatten liegt.“ (aus: Die gestundete Zeit. Psalm)

Am liebsten mochte ich die Fotos der Bachmann in Rom: in ihrer römischen Küche, beim Zeitung lesen auf der Terrasse, beim Obst kaufen auf dem Markt. Sie sah glücklich aus und wunderschön. Obwohl ich natürlich wusste, dass sie nur wenige Jahre, nachdem diese Aufnahmen entstanden waren, in diesem Rom, in dieser Wohnung, verbrannt war, blätterte ich diese Bilder immer wieder durch, getrieben von der Hoffnung, das Buch könne, durch meinen starken Willen, doch noch anders enden. Natürlich wusste ich auch, dass sie damals längst alkohol- und medikamentenabhängig war, aber ich hoffte bei jedem neuen Blättern, sie könne diese Abhängigkeit überwinden und sich zu einer leichteren Glückseligkeit aufschwingen. 

            „Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
            wir kommen ungefragt und müssen weichen.
            Doch dass wir sprechen und uns nicht verstehen
            und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,

            zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
            Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
            und das Verlangen, tief uns anzusehen,
            durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.“ (aus: Liebe: dunkler Erdteil)

Mit dem Abstand von heute weiß ich, dass ich Ingeborg Bachmann viel verdanke. Ohne ihr Vorbild hätte ich es niemals gewagt, in meine eigene geistige Unabhängigkeit vorzudringen, die mich bis heute in Bereiche führt, von deren Existenz ich früher nichts ahnte. Es ist so herrlich, selbst zu denken.
Ihr Bild einer unabhängigen, Zeitung lesenden, strahlenden, Zigaretten rauchenden Schreiberin in Rom war eine Inspiration, die mich weit getragen hat und auf eine Art immer noch trägt.Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und versuche, mit meinen Worten die Wahrheit einzukreisen, dann denke ich oft an sie und fühle mich ihr immer noch verbunden. Dann ist sie immer noch meine literarische Mutter, von der ich heute anderes lerne, als damals.  Denn bei ihr finde ich etwas, das ich nicht bei vielen Schriftstellern, vergangenen oder gegenwärtigen, finde. Sie hatte einen ganz eigenen Stil, dem man so nicht noch einmal begegnet. Sie fand neue Worte und neue Formen, oder neue Positionen für Worte, die wir kennen, aber so noch nicht gesehen haben. Ich habe das an dieser Stelle schon einmal mehr oder weniger so über e.e. cummings gesagt, und als ich meinen Text über diesen Ausnahmedichter wieder las, kam ich zu dem Schluss, dass ich mich wiederholen werde ein Stück weit. Denn auch Ingeborg Bachmann ist ja eine Ausnahmedichterin und sie fand eine neue Sprache, um Dinge zu sagen, die bislang so noch nicht gesagt wurden. Es gibt eine Architektur in ihrem Schreiben, die ihr dabei hilft, eine ganz eigene Wortwelt zu erschaffen, die Welt der Ingeborg Bachmann. Wenn ich mich in dieser Welt bewege, treffe ich den Geist, den durchdringenden Intellekt und die unglaubliche Gefühlstiefe Ingeborg Bachmanns. Aber das ist nicht alles. Denn ich treffe dort natürlich auch mich selbst, und zwar auf eine Weise, die völlig anders ist von jeder anderen Weise, mir zu begegnen im Werk eines anderen Schriftstellers. Deshalb ist sie meine literarische Mutter geworden, weil ich mich in ihrem Werk finden konnte.
Wenn jemand eine Meisterin der Sprache sein möchte, und ich setze voraus, dass dies jede will, die schreibt, muss sie mit der Sprache spielen und flirten. Sie muss sie so gut kennen, dass sie hinein tauchen kann und mit neuen Formen, Worten, Strukturen wieder an die Oberfläche kommt. Darin nicht verloren zu gehen, ist eine der Herausforderungen. In jedem Fall ist es eine der Aufgaben des Schreibens, für das, was man in der Tiefe findet, jene Worte zu produzieren, die auch noch an der Oberfläche auf verstehende Ohren, wenn auch nur vereinzelt vielleicht, treffen können. Darin war Ingeborg Bachmann für mich eine unangefochtene Meisterin, mein Vorbild, ja, mein Idol. 

"(...) ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht schreibe. Wenn ich aber schreibe, dann sehen Sie mich nicht, es sieht mich niemand dabei. ... Es ist eine seltsame, absonderliche Art zu existieren, asozial, einsam, verdammt, es ist etwas verdammt daran, und nur das Veröffentlichte, die Bücher, werden sozial, assoziierbar, finden einen Weg zu einem Du, mit der verzweifelt gesuchten und manchmal gewonnenen Wirklichkeit. Alles, was mir nicht unwert vorkommt, denkend ausgedrückt zu werden, geht ein in die Arbeit." aus: Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises 1972

Und wenn ich an die Todesarten denke und ich mich wieder abwenden möchte von soviel Negativität, dann weiß ich doch, dass sie die Negativität ausgelotet hat, um dahinter eine große Vision zu erschaffen, auf deren Verwirklichung sie immer hoffte und die wie ein goldener Regenbogen ihr gesamtes Werk überspannt:.

Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen schwarzgoldene Augen haben, sie werden die Schönheit sehen, sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen, sie werden ihre Schwielen und ihre Nöte vergessen. Ein Tag wird kommen, sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben. Es wird eine größere Freiheit sein, sie wird über die Maßen sein, sie wird für ein ganzes Leben sein...." aus:Malina

Weitere Lektüretipps:

© Susanne Becker

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