Es gibt Tage, da mag ich Facebook besonders gerne. Zum Beispiel an solchen, an denen ich mich nicht genug unter Kontrolle habe (also fast immer) und in irgendeinen Thread über Bücher, zum Beispiel die für den Deutschen Buchpreis eventuell nominierten, meine Kommentare einhacke (Ich hoffe, Svenja Leiber wird nominiert und Stanisic wird sowieso drauf sein!) und ich daraufhin nicht beschimpft oder, schlimmer: ignoriert werde, sondern eine Mail bekomme, in der nach meiner Postadresse gefragt wird, weil mein Tipp, wer auf der Longlist sein wird, Übereinstimmungen mit der echten Longlist (Stanisic) hat und man mir deshalb den Band mit den Leseproben zusenden möchte. Das hat mich gefreut! Aufrichtig! Denn nun kann ich viel reflektierter und fundierter entscheiden, als ich es in einem dahin geschnodderten Blogpost spontan getan hatte, was ich über die nominierten Bücher denke, welche ich tatsächlich lesen werde und wen ich persönlich gerne auf der Shortlist sähe. Ich konnte auch Meinungen revidieren. Es gibt Texte darin, die mich zum Weiterlesen geradezu antreiben, obwohl ich ursprünglich dachte, diese Bücher keines Blickes würdigen zu wollen. Ich habe aber bei der Lektüre der Leseproben so häufig begeistert aufgelacht oder beglückt in wunderbarster Sprache gebadet, dass ich, wenige Stunden vor dem Ausrufen der Shortlist, schon einmal ein paar Lieblingsstellen zitieren und einen persönlichen Tipp für eine Shortlist abgeben möchte. Vielleicht kriege ich ja wieder was geschickt...
Zu den für mich überraschenden Highlights der Leseprobe gehörte definitiv "Das Polykrates-Syndrom" von Antonio Fian:
"Die Baranyi ist gestorben", sagte meine Mutter, als sie mit ihrer ersten Apfeltasche fertig war. Ich hatte keine Ahnung, wer die Baranyi war. "Das tut mir leid", sagte ich.
"Weißt du überhaupt, wer die Baranyi war?"
"War das nicht die Frau im Rollstuhl aus dem Zimmer neben dir?"
"Das ist die Bellusich. Der geht es von Tag zu Tag besser. Vermutlich wird sie demnächst an der Behindertenolympiade teilnehmen. Die Baranyi war keine dreißig. Eine von den Schwestern. Sie ist vom Tanzen nach Hause gekommen und schlafen gegangen und nicht mehr aufgewacht."
"Gehirnblutung", sagte ich.
Meine Mutter nahm die zweite Apfeltasche in Angriff. "Unmöglich", sagte sie, "sie hatte kein Gehirn. Apropos, wie geht es Rita?"
Sehen Sie, das war es, was Rita meinte, wenn sie mich einen Muttermasochisten nannte."
Wenn das ganze Buch so ist, weiß ich nicht, ob es ein typischer Vertreter der Shortlistliteratur sein könnte, aber was ich weiß ist, dass ich es unbedingt lesen möchte, und dass es genau die Art von Humor ist, die ich schätze!
Ulrike Draesners Sieben Sprünge vom Rand der Welt hingegen ist meiner Ansicht nach ein typisches Buchpreisbuch - nicht nur für die Shortlist, sondern auch gleich für den ganzen Preis hervorragend geeignet. Die Leseprobe hat mich denn auch, trotz aller vorherigen Ressentiments der Draesner gegenüber, dazu gebracht, dass ich dieses Buch gerne lesen möchte und es sogar nicht ungerne gewinnen sähe.
"Er rückt Bilderrahmen gerade. Was schief hängt, erträgt er nicht. Wir kommen in ein Café: Vater rückt an den Rahmen, noch bevor er sich setzt, allemal, bevor er bestellt. Manchmal hat er bestellt und steht noch einmal auf, rührt in seiner heißen Schokolade, steht noch einmal auf. Wir kommen in ein Museum: Eustachius rückt an den Rahmen und löst die Alarmanlage aus. Wir kommen in ein Museum, Eustachius denkt an die Alarmanlage und schaut bei allen Bildern nur die Rahmen an. Er könnte als europäischer Rahmenexperte arbeiten. Wir stehen bei Bekannten in der Tür, Menschen, die er seit Jahren nicht gesehen hat, und er sagt: "'tschuldigung, Ihr Spiegel hängt schief." Die Hand ausgestreckt, lächelt er wie einer, der gleich bewundert werden wird."
Dieses kurze Zitat zeigt für mich, wie innovativ die Draesner ist. Wie sie Sprache und Geschichten erzählen neu gestaltet und mit ihren sehr eigenen Inhalten füllt.
Die Pfaueninsel von Thomas Hettche interessiert mich thematisch nicht, gar nicht. Doch war die Leseprobe sprachlich und atmosphärisch so dicht und spannend, dass ich jetzt gerne wissen möchte, wie es weiter geht.
Es würde auf diese Shortlist passen. Es ist mit Sicherheit ein sehr gutes Buch. Ich werde es vermutlich lesen. Denn am letzten Wochenende war ich auf der Pfaueninsel, purer Zufall, aber es macht, dass ich mir alles sehr lebendig vorstellen kann und mich dem Buch, das eines der fernsten auf dieser Longlist für mich war, sehr nahe brachte. Lesen ist so subjektiv.
"Diese Insel war der Königin von ganzem Herzen zuwider. Und obwohl ihre Kinder sie umstanden und unsicher musterten, konnte sie den Blick nicht von dem schattigen Dunkel losmachen, in dem das Wesen verschwunden war, auf das sie, wie einen Pfeil, jenes eine Wort abgeschossen und das getroffen hatte und noch immer dabei war zu treffen. Mit einer müden, resignierten Handbewegung trieb sie ihre Kinder hinaus in das helle warme Sonnenlicht der Pfaueninsel, auf der sie an diesem Tag zum letzten Mal in ihrem Leben war. Kaum acht Wochen später, am 19. Juli 1810, war die Königin Luise tot."
Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr von Franz Friedrich ist so ungewöhnlich, dass ich nicht wirklich weiß, was ich von dem Buch halten werde, jetzt schon halten soll, außer dass es mich anzieht und eine ungeheure Neugier in mir entfacht. Ich sah es im Laden meiner Lieblingsbuchhändlerinnen liegen und hätte es beinahe gleich gekauft. Auch die Leseprobe war so, dass ich weiterlesen möchte - auf jeden Fall! Ich fürchte, es wird rausfliegen, aber persönlich sähe ich es sehr gerne auf der Shortlist. Es verspricht einen Tiefgang und eine Mehrschichtigkeit, die es für mich unter den anderen Büchern einzigartig machen (könnten - wenn das Buch so ist wie die Leseprobe und sein elegantes, zurückhaltendes Cover).
"Staub auf den Armaturen, der Geruch von eingetrocknetem Bier, ein gebündeltes Licht, das seine Hand, wenn er sie gegen die Strahl erhob, wie Feuer wärmte. Er hatte keine Ahnung von dem, was er hier tat, und doch spürte er diese Aufregung, als wäre er ein Mensch aus dem neunzehnten Jahrhundert, der zum ersten Mal einen Film sah."
Dass Sasa Stanisic mit Vor dem Fest auf die Shortlist muss, das ist für mich absolut klar. Er wäre auch ein guter Gewinner, vor der Draesner mein erster Favorit.
"Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist.Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben."
Für mich das unverkampfteste Buch der Longlist. Ein Buch, das einem nicht aufdrängt, etwas zu wollen, keine Absicht, keine Message, kein Zerren am Leser. Man liest es einfach und genießt eine gute Geschichte! Deshalb ist es immer noch mein absoluter Favorit! In zwei Wochen sehe ich ihn bei einer Lesung hier. Ich freue mich schon sehr darauf.
Ich denke, ein weiterer Favorit ist definitiv Kruso von Lutz Seiler, das ich nur lesen werde, wenn ich irgendwann sehr viel Zeit habe und keine Bücher, die ich noch dringender lesen möchte. Ich mochte die Leseprobe sehr, aber sie sagte mir auch, dass es kein Buch ist, das mich wirklich interessiert.
"Woran er sich später erinnerte: Dass er seine nichtigen Gedanken gerne ausgesprochen hätte. Und vielleicht hatte er es sogar getan in seiner Angst, versehentlich zuviel Kraft anzuwenden dabei, zum Beispiel, ein wichtiges Gefäß zu verletzen. Für einen Augenblick durchzuckte Ed der irrwitzige Gedanke, er könne von innen trocken sein oder es ströme in ihm einfach nicht genug von dem Saft der Brüderschaft, der jetzt ans Licht gebracht und vorgezeigt werden musste."
Das ist also meine Shortlist. Ich möchte hinzu fügen, dass ich nach dem Lesen der Proben auch die Bücher Der aufblasbare Kaiser, 3000 Euro und Kastelau dort sehen könnte.
Morgen früh um 10.00 wird die echte Shortlist bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt. Habt eine gute Nacht und lest noch ein bisschen!
© Susanne Becker
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