„Sie hatte 1967 darauf gewartet, von ihm nach Hongkong
geholt zu werden, doch er hatte sie immer wieder um Geduld gebeten….“
Eine Liebe.
Ein Mann, eine Frau.
Hamburg in den 60er Jahren.
Die Frau, Antonia, genannt Toni, ist aus ihrem Schleswig
Holsteinischen Dorf in die große Stadt gezogen. Die Abenteuerlust, die Lust,
sich ein eigenes, ein größeres Leben zu erlauben, ist ein Grund unter vielen
dafür, dass sie dem Mann, Edgar, so gut gefällt. Der hat bereits einen unehelichen Sohn.
Aber mit diesem hat er wenig zu tun. Edgar lebt noch im Elternhaus, er hat eine Arbeit und sieht
gerne das, was nicht funktioniert. Während Toni voller Lebensfreude ist und
damit auch ihn ansteckt. Wenn er sich bei ihr über sein Leben beklagt, heitert sie ihn auf. Mit seinem VW Käfer fahren sie durch die Stadt und ans
Meer. Sie werden ein Liebespaar, dem alle ansehen, dass sie zueinander gehören.
Dass Toni wegen ihres Status als unverheiratete Frau die
Pille nicht vom Arzt bekommt, diese Problematik teilt sie nicht mit Edgar.
Sie haben trotzdem Sex.
Dass Toni ein Kind durch eine Fehlgeburt verliert. Sie teilt
es nicht mit Edgar. Sie flüchtet heim nach Schleswig Holstein, kuriert sich bei
der Mutter aus und für Edgar ist sie einfach krank.
Als sich für Edgar die Chance auftut, sein unbefriedigendes
Leben zu verlassen und für die Firma nach Hongkong zu gehen, ist es Toni, die
ihn dazu ermutigt. Als er geht, ist sie zwar traurig, weil er sie nicht fragt, ob
sie mitkommt. Aber auch das teilt sie nicht mit Edgar. Sie freut sich wirklich
für ihn. Aber sich selbst verbirgt sie konsequent, als wüsste sie, dass er nur
die eine Seite von ihr liebt, die fröhliche.
„Du hast mir ein schönes Leben gezeigt.“
Als endlich sein Telegramm kommt, dass sie nachkommen soll,
kündigt sie ihren sehr guten Job, die Wohnung, das Leben in Hamburg und wartet
auf das Flugticket, das er versprach, in Kürze zu schicken.
Die Zeit des Wartens wird auch der Leserin fast
unerträglich, so feinsinnig beschreibt die Autorin die Tage, die Antonia
zunächst damit zubringt, ihr Leben aufzulösen, dann das neue, so gut es geht,
vorzubereiten. Sie lässt sich von der Schneiderin ein Ensemble nähen, das sie
zu ihrer Hochzeit mit Edgar in Hongkong tragen will. Sie sind offiziell verlobt.
Ein Jahr wartet Antonia auf das Flugticket. Sie wartet. Ohne Job. Ohne Wohnung. Das Ticket kommt nie.
Eine Frau, in Hamburg, heute. Verheiratet, bereitet gerade
eine Ausstellung der Malerin Helene Schjerfbeck vor. Sie ist Mutter einer fast
erwachsenen Tochter.
Während sie versucht, das Leben ihrer gerade verstorbenen Mutter
Antonia zu rekapitulieren, vor allen Dingen die Liebesgeschichte mit Edgar
Janssen, muss sie gleichzeitig verbergen, wie schwer es ihr fällt, ihre eigene
Tochter, die erwachsen wird, loszulassen.
„Niemand hatte mich gewarnt, wie schwer es sein würde, ein
Kind loszulassen, und welche Anstrengungen es kostete, sich das nicht anmerken
zu lassen.“
Sie möchte mehr erfahren. Sie möchte wissen, wer ihre Mutter war. Sie spielt mit dem Gedanken, Edgar aufzusuchen.
„Ich wollte ihn fragen, ob er je darübernachgedacht hatte,
dass diese Frau einmal alles für ihn auf eine Karte gesetzt hatte, für ihn
allein, dass sie verloren hatte, in einer Zeit, in der Frauen dieser Mut nicht
verziehen wurde;…“
Es ist fast, als würde sie erst nach deren Tod ermessen können, wer ihre Mutter Antonia wirklich gewesen ist.
Das neue Buch von Kristine Bilkau, Eine Liebe in Gedanken, erschienen bei Luchterhand, ist so fein und sorgfältig
geschrieben, wie ihr Debüt, Die Glücklichen. Sie ist eine Beobachterin der
kleinen Dinge, die geschehen zwischen Menschen und unser Leben ausmachen. Sie
fängt das filigrane ein, und beim Lesen wird einem plötzlich bewusst, wie viel
in unseren Leben so filigran ist und verschüttet wird unter dem lauten,
grellen, neonfarbenen Vordergrund.
Dieses Buch hat mich traurig gemacht. Ich konnte manchmal
ein paar Tage nicht darin lesen. Es hat mich an meine Mutter erinnert, aber
auch an all die Frauen, die das Frauenbild ihrer jeweiligen Zeit erfüllend, sich
selbst mit ihren Träumen in Warteschleifen parken, die ein Leben lang dauerten.
Den Haushalt machen, die Kinder versorgen, die wirklichen Gefühle verbergen, funktionieren,
lächeln.
Antonia ließ mich denken an Peter Handkes Mutter, der er so
ein unumstößliches Denkmal in dem Buch Wunschloses Unglück gesetzt hat.
Toni ist allerdings eigensinniger und vielleicht auch
mutiger. Sie gibt sich nicht zufrieden. Zwar heiratet sie, aber schon, als ihre
Tochter noch sehr klein ist, trennt sie sich vom Vater wieder. Sie lebt noch
einmal einige Jahre mit einem Mann zusammen, und trennt sich wieder. Am Ende
lebt sie allein. Sie hat sich für sich entschieden und für ihre Tochter. Als
diese erwachsen ist, lebt sie mit einem Schrank voller Bücher, ihren Interessen und ihren Erinnerungen. Sie ist eine
begeisterte und tiefsinnige Leserin. Die Bücher nähren sie, genau wie ihre
Liebe, in Gedanken. Die ihr niemals jemand nehmen kann. Niemand kann Antonia
jemals nehmen, dass sie bedingungslos geliebt hat. Sie ist die Frau, die ein
solches Gefühl zugelassen hat. Während Edgar Janssen der kleine Krämer bleibt,
der einen Handel einfädelt, und dann doch nicht zuende führt, der die Welt
der Gefühle rosarot nennt und seine Art der Feigheit mit Vernunft erklärt.
„Natürlich können wir Zukunftspläne schmieden, aber wir
dürfen uns nicht in Tagträumen verlieren. Wir müssen fest in der Gegenwart stehen,
denn die Gegenwart ist das Rohmaterial für die Zukunft.“
Ein wunderbares Buch! Ich danke dem Luchterhand Verlag für
das Rezensionsexemplar.
(c) Susanne Becker
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