Direkt zum Hauptbereich

Buch der Woche - Im Sommer - Karl Ove Knausgård

"Es ist nicht so gekommen, wie ich es mir vorgestellt hatte, sagt der Geschmack der Pflaume, und nun ist es zu spät. Heute ist der achte August, und an dem alten Pflaumenbaum mitten im Garten, .... sind fast alle Pflaumen, ..., reif. Ich habe heute, im frischen, kühlen Wind auf dem Rasen stehend, zwei Stück gegessen, und in der Melancholie, die ihr Geschmack in mir erweckte, lag auch etwas Gutes, der Gedanke an das alltägliche Leben, das bald beginnen wird, mit seinen Grenzen und seiner Routine, mit Herbst und Winter, die kein Versprechen in sich bergen."

Mit seinem vierten Jahreszeitenband Im Sommer hat mich Karl Ove Knausgård erneut überrascht.
Es beginnt wie, man könnte fast sagen, immer, mit kurzen Texten über alltägliche Dinge wie Rote Johannisbeeren, Mücken oder Campingplätze, Dinge, die jeder mit Sommer assoziiert und in deren Verlauf er schon sehr viel über seine Art zu denken und die Welt zu sehen preisgibt. In denen auch hier und dort intimere Einblicke in sein Leben, vergangen und gegenwärtig, einfließen.
Dann wird diese Dynamik der kurzen Texte unterbrochen durch den Beginn eines Tagebuchs des Monats Juni 2016. Dieser Teil hat eine ganz andere Tonlage und die Leserin wird näher herangezogen. In diesem Juni-Tagebuch erwähnt er bereits eine Norwegerin, eine alte Frau, die sein Großvater kannte, möglicherweise auch seine Großmutter. Die im Norden Norwegens im gleichen Ort gelebt hat wie die beiden. Es gibt zu dieser Frau eine Geschichte, die zur Zeit der deutschen Besatzung Norwegens spielte. Mitten im Tagebuch, nur für ein paar Seiten, wechselt Knausgård den Erzähler: das Ich der vorherigen Seiten, von dem wir annehmen dürfen, dass es sich um ihn selbst handelt, wird ohne Übergang plötzlich diese alte Frau, die herum tastend nach einer Stimme für ihre offensichtlich schockierende Geschichte sucht. Genauso übergangslos wechselt Knausgård zurück zum Ich des norwegischen Mannes, der er sein könnte.
Aber die alte Frau taucht zwischendurch immer mal wieder auf.
Im Juli-Tagebuch dann übernimmt sie einen großen Teil der Erzählung und wir erfahren ihre Geschichte.

Dieser beinahe poetologisch zu nennende Einblick in das Entstehen einer Geschichte, während sie entsteht, während er in seinem Schreibschuppen am Rande seines Gartens sitzt, gegenüber im Haus schlafen die Kinder, eben noch hat er den Rasen gemäht und für Gäste gegrillt, das hat mich wirklich umgehauen, weil es mutig ist. Es zwingt den Leser dazu, in einem einzigen Buch drei verschiedene Bücher zu akzeptieren, sowie zwei verschiedene Erzähler. Das ist insofern gewagt, als eine Leserin sofort abspringt, wenn sie sich irritiert fühlt oder den Faden verliert. Er muss diese drei Teile also auf eine Weise aufs Papier weben, die die Leserin die gesamte Zeit über festhält, auch bei abrupten oder weniger abrupten Wechseln der Perspektive. Zwischen den so unterschiedlichen Abschnitten können, das weiß vermutlich jede, die selbst schreibt, jene Abgründe entstehen, in die einem eine Leserin Aufnimmerwiedersehen verloren geht. Aber meiner Meinung nach gelingt es ihm, eben solche Abgründe gar nicht erst entstehen zu lassen. Ich war wie gebannt von dem Text, von allen drei Texten. Ich las immer weiter und weiter, weil ich wissen wollte, was Knausgård sonst noch erlebt, aber auch, welches Geheimnis die Frau umgibt. Wird er es lösen? Oder wird er die Leserin mit einem ungelösten Geheimnis zurück lassen? Auch das wäre ihm zuzutrauen. Ich hätte es ihm sogar abgenommen. Wenn dann plötzlich wieder über Eiscreme oder Regenwürmer geschrieben wird, ist es wie ein Nachhausekommen. Ich glaube, ich habe ihm alle drei Teile als dieses ganze, wunderbare Buch abgenommen, weil sie alle drei von etwas geprägt sind, was, das wird mir plötzlich erst jetzt, bei der Lektüre meines sechsten Buches von ihm, bewusst, alle seine Bücher durchzieht: eine beinahe naiv erscheinende Unschuld, eine Verletzbarkeit, die sich in keinster Weise schützt oder verbirgt. Das führt dazu, dass man dem Buch vertraut, Es gibt keinen Grund, sich vor ihm in Acht zu nehmen. Es steht offen und ehrlich vor einem. 

dat Rosa Miel apibus, Anselm Kiefer, 2013
Dieses Buch, wie alle Jahreszeitenbände, ist illustriert mit den Bildern eines Künstlers. In diesem Fall handelt es sich um den vielleicht höchst bezahlten Künstler der Welt: Anselm Kiefer. Die Bilder sind von zarter Schönheit und Intensität, das Gegenteil von allem, was ich bislang mit Kiefer assoziiert hatte. Sie tragen Titel wie „Ich bin der ich bin“ oder „Les extases féminines“. 
Eine der wunderbarsten Episoden für mich in diesem Buch, das ehrlich gesagt voller wunderbarer Episoden steckt, ist der Moment, als Karl Ove Knausgård Anselm Kiefer in seinem Studio nahe Paris besucht. Zwei geniale Künstler, die sich im Grunde nichts zu sagen haben. Herrlich!
Nun bin ich fast fertig mit der Jahreszeiten Reihe, nur noch circa vierzig Seiten liegen vor mir und sie fehlt mir schon jetzt. Ich mag Knausgårds Art, sich das Leben zu erschreiben, sehr.

Herzlich danke ich dem Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar.

Bereits besprochen auf dem Blog habe ich Im Frühling sowie Im Herbst  und Im Winter und hier noch ein Link zu allen Texten auf dem Blog, in denen Knausgård vorkommt. 

(c) Susanne Becker

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bü...

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer ...

Gedanken zu dem Film Corsage von Marie Kreutzer mit Vicky Krieps

  When she was home, she was a swan When she was out, she was a tiger. aus dem Song: She was von Camille   (s.u.) Ich kenne so viele Frauen, die sich ein Leben lang nicht finden, die gar nicht dazu kommen, nach sich zu suchen, die sich verlieren in den Rollen, die die Welt ihnen abverlangt.  Es gibt so viele Orte, an denen Frauen nicht den Schimmer einer Wahl haben, zu entscheiden, wie sie leben, wer sie sein möchten. Diese Orte werden mehr. Orte, an denen Frauen einmal ein wenig freier waren, gehen uns wieder verloren. Die meisten Frauen leben gefährlich. Gefährlicher als Soldaten in Kriegen.  Aber dennoch hatte ich kein Mitleid mit der Kaiserin, den ganzen Film über nicht ein einziges Mal, weil sie eigentlich nicht als sympathische Person gezeigt wurde. Was ich gut fand. Denn welche Frau kann sich etwas davon kaufen, dass sie bemitleidet wird? Elisabeth ist in diesem Film selbstzentriert, rücksichtslos, narzisstisch. Besessen von ihrem Körper, seinem Gew...