„Ich hatte begonnen, eine Art Tagebuch für dich zu
schreiben, oder einen langen Brief darüber, wer wir waren und was hier
passierte, während wir auf dich warteten….Als eine Art, Platz für dich zu
schaffen.“
Dieser Gedanke ist so wunderschön, dass er mich jedesmal
lächeln lässt: für ein noch im Mutterleib heran wachsendes Kind eine Art
Tagebuch schreiben, um für es in dem bereits existierenden Leben einen Platz zu
schaffen. Unwillkürlich wünschte ich mir, ich wäre auf diese Idee gekommen, während ich mit meinen Töchtern schwanger war.
Mit dieser Aussage hat Karl Ove Knausgård einmal mehr umschrieben,
für wie wichtig und mächtig er die Sprache hält. Sie ist für ihn das Medium,
welches uns alle im Leben verankern kann, egal, was uns zustoßen mag, egal, wie heftig das Leben sich uns um die Ohren schlägt.
Im Frühling hat mich auf eine unvorhersehbare Art kalt erwischt. Denn ich
hatte ja bereits Im Herbst und Im Winter gelesen, welche ich beide mehr oder
weniger ähnlich fand, gerne gelesen hatte, aber sie hatten mich jetzt nicht so
aus der Reserve gelockt wie zum Beispiel Lieben aus der Mein Kampf Reihe.
Lieben war bislang mein absolutes Lieblingsbuch von Knausgård.
Keines der anderen von mir gelesenen Werke reichte für mich an dessen rohe,
mitten aus dem Leben und Jetzt gegriffene Intensität heran. Die es für mich vielleicht auch deshalb hatte, weil ich mich so gut zurück versetzen konnte in die absolut chaotische und einen ständig überfordernde Phase mit kleinen Kindern.
Dann kam Im
Frühling, von dem ich erwartete, dass es den vorgegangenen Bänden strukturell und auch inhaltlich irgendwie sehr ähneln würde, aber es ist ganz anders als die anderen Jahreszeitenbände.
Es ist eine einzige Erzählung, nicht das Erklären unterschiedlicher Begriffe für seine noch ungeborene Tochter. In einem langen Text schildert Knausgård vielmehr seiner zu diesem Zeitpunkt bereits
geborenen Tochter einen gemeinsamen Tag mit ihr innerhalb der Familie und schweift
immer wieder ab in den vergangenen Sommer, als sie gerade erst gezeugt worden
war.
Seite für Seite erfasst man immer deutlicher, dass etwas
geschehen sein muss, dass irgendetwas nicht stimmt. Und bald versteht man: die
Mutter des winzigen Säuglings ist nicht da. Sie befindet sich in einer Klinik.
Knausgård
kümmert sich allein um sie und die anderen drei Kinder, ist dabei oft an den Grenzen dessen,
was er leisten kann und berichtet dennoch minutiös alles. So kennen wir es von
ihm. So liebe ich es von ihm. Die Rücksichtslosigkeit im Erzählen sich selbst
gegenüber, dadurch natürlich auch notwendig allen gegenüber, die er liebt.
In Rückblenden erzählt er akribisch vom Sommer des letzten
Jahres, in welchem die Mutter eine extrem schwere Depression hatte. Knausgård
berichtet von den gesamten Vorkommnissen in seiner gewohnt ausführlichen und intimen Art.
Er zeigt sich selbst nackt und verletzlich und spricht von seiner Frau und den
Kindern mit großer Liebe.
Ich mag Knausgård aus vielen verschiedenen Gründen
und aus anderen nervt er mich auch manches Mal. Vor allem nervt er mich dann,
wenn ich das Gefühl habe, er labert verkopft daher und umschifft das blutige
Herz der Angelegenheit mit einem Schwall an intellektuellem Wissen und
literaturkritischen Ergüssen.
„…regte sich in mir erstmals der Gedanke, dass akademisches
Wissen, akademische Erfahrung, intellektuelle Erkenntnis auch nichts anderes
waren als ein Schutz gegen das nackte Leben. Und dass die meisten Bücher, Filme
und Kunstwerke es auch waren.“
Diese Worte schreibt er in einem Abschnitt über Ingmar Bergman und Liv Ullmann, denen er attestiert, sich mit ihrer Kunst kopfüber
ins nackte Zentrum des Lebens zu stürzen. Während ich es lese, verstehe ich plötzlich, oder glaube
zu verstehen, dass Knausgård genau das auch möchte und oft schafft, und dass die
ganzen ausschweifenden Worte wie so ein Anlauf sind auf dieses Ziel zu, ein Anlegen des Pfeils, ein Anspannen des Bogens. Nach meinem Empfinden ist dieses Buch einmal mehr frontal ins Ziel gegangen.
Im Frühling ist für mich nicht nur das Buch, das mich die
gesamte Jahreszeitenreihe anders sehen lässt, ist nicht nur ein Schlüssel zu
diesen vier Büchern, sondern für mich ist es auch ein Schlüssel zu Knausgård
selbst und zu allem, was ich bislang von ihm gelesen habe. Er hat sich mir
darin noch einmal in einem anderen Licht gezeigt, vielleicht verletzlicher als
je zuvor.
Auch offener als je zuvor. Alles ist gültig. Er richtet
nicht. Er beschreibt, was geschieht und nimmt nicht für sich in Anspruch, die
Wahrheit zu wissen. Er nimmt noch nicht einmal für sich in Anspruch, dass das,
was er erzählt, tatsächlich so gewesen ist.
„Und genau deshalb habe ich geschrieben, dass der
Selbstbetrug das Menschlichste von allem ist. … , dass du versuchen musst,
nicht zu vergessen, dass andere das Gleiche wie du auf eine völlig andere Weise
sehen und erleben können und dass dies ihr gutes Recht ist.“
Wie alle seine Bücher ist auch dieses eine Hommage an das
Leben als Mensch.
Es ist vielleicht das schönste und ergreifendste Buch über Liebe, das ich in langer Zeit (oder je?) gelesen habe.
Ich empfehle es sehr und danke dem Luchterhand Verlag herzlich für das Rezensionsexemplar.
Das Buch wurde von Paul Berf aus dem Norwegischen übersetzt. Die wunderschönen, wilden und berührenden Bilder stammen von der Künstlerin Anna Bjerger.
Hier andere Texte von mir, die ich zu Büchern von Knausgård geschrieben habe:
Angeregt durch dieses Buch, also durch Knausgård, habe ich mir übrigens gleich zwei Filme und zwei Bücher besorgt, um tiefer in die Welt Ingmar Bergmans einzusteigen: Szenen einer Ehe, den ich als ganz junges Mädchen einmal gesehen, aber damals mit Sicherheit nicht verstanden habe.
Auf der Suche nach Ingmar Bergman von Margarethe von Trotta (die in meiner Jugend meine absolute Lieblingsregisseurin war und bis heute liebe ich viele ihrer Filme. Das Buch Die Unruhigen von Linn Ullmann, sowie das Buch Private Confessions von Ingmar Bergman selbst. Und dann liegt hier natürlich noch Im Sommer!
(c) Susanne Becker
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