Heute habe ich Miroloi von Karen Köhler beendet. Ein von der Autorin selbst gestaltetes, wunderschönes Buch.
Das Buch handelt von einer namenlosen Außenseiterin, die in
einer abgelegenen Inselgemeinde aufwächst, wo Frauen keinerlei Rechte haben.
Sie dürfen weder lesen, schreiben noch schwimmen. Sie haben keinerlei Möglichkeiten,
irgendeinen Aspekt ihres Lebens mit oder selbst zu bestimmen. Sie erledigen
alle anfallenden Hausarbeiten, versorgen die Tiere, arbeiten auf den Feldern
und bekommen Kinder, vorzugsweise Söhne.
Sobald sie beginnen zu menstruieren, tragen die jungen Mädchen einen roten
Gürtel, der der Gemeinschaft signalisiert, dass sie ab jetzt für den Ehemarkt
zur Verfügung stehen.
Die Außenseiterin wird niemals heiraten dürfen. Sie wurde
als Findelkind vom Bethaus-Vater in einem Bananenkarton gefunden und gegen den
Willen der anderen Inselbewohner zog er sie auf. Sie hat noch weniger Rechte als die anderen Frauen und Mädchen. Das Dorf hält sie für einen Fluch und macht sie für
jedes Unglück verantwortlich.
Eine Gruppe alter weißer Männer bestimmt über jeden Lebensumstand,
bis in die Körperöffnungen der Frauen hinein, was erlaubt ist und was nicht.
Interessanterweise gibt es Rezensenten, die dies konstruiert und
unwahrscheinlich finden. Rechercheempfehlung zum Reinschnuppern in die Materie:
die Aussagen republikanischer PolitikerInnen in den USA, die in nicht wenigen
Bundesstaaten längst in die Gesetzgebung eingeflossen sind.
Es gelten harte Gesetze auf der Insel. Wer sie bricht, kommt an den Pfahl.
Die Große Strafe ist die Steinigung.
Sexuelle Gewalt ist an der Tagesordnung.
Der Alltag auf der Insel, das Schicksal des Findelkindes,
das Leben in der Gemeinde, die Beziehungen unter einander, alles wird uns vom
Findelkind selbst erzählt, mit seiner einfachen, verspielten Sprache, die Worte erfindet und
Dinge zu verstehen sucht, die uns lächerlich selbstverständlich erscheinen. Der
Bethaus Vater bricht das Gesetz und bringt dem Mädchen Lesen und Schreiben bei.
Mit den Worten erobert sie sich Stück für Stück seine Welt und einen immer
umfassenderen Blick über deren Grenzen hinweg. Ihre Sehnsucht nach Freiheit
wächst.
Für die Geschichte hat Karen Köhler selbst eine Religion und
Rituale, ich will nicht sagen, erfunden. Wohl eher hat sie aus vorhandenen
Zutaten etwas neues, typisches, gemischt. Genauso hat sie viele Worte erfunden, eine neue Sprache.
Inhaltlich fand ich das Buch extrem faszinierend. Denn was
hat die Autorin mit dieser Geschichte gemacht? Sie hat eine Parabel geschrieben
über die Lebensumstände der meisten Frauen auf diesem Planeten. In dieser
Hinsicht fand ich es ein sehr mutiges Buch. Denn sie ist nicht davor zurück
geschreckt, die ganzen Klischees eines Frauenlebens aufzulisten und sie hat
dies getan, ohne sich oder uns dabei etwas zu schenken. Sie hat uns das Elend von
Frauen nicht durch eine poetische Trickkiste von Leibe gehalten, vielmehr hat sie es uns geradezu auf den Leib gerückt. Es gibt
Momente, da krümmt man sich unter der Lektüre. Das ist so unangenehm, man hält es manchmal kaum aus. Dann wieder ist es so schön, dass man seitenlang in der Geschichte versinkt.
Weil die Sechzehnjährige ungebildet und in der äußeren Welt
bar jeglicher Erfahrung ist, ist die Sprache, in welcher sie als Ich-Erzählerin
diese Geschichte in 128 Strophen singt, sehr simpel. Ein
Miroloi ist ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied für einen
Verstorbenen. Ein archaisches Ritual aus einer archaischen Welt, weit entfernt
von den Komplexitäten, die wir heute geneigt sind, als Normalität zu sehen.
Da die Außenseiterin keinen Namen hat und in der
Gemeinschaft ein Nichts ist, singt sie sich ihr eigenes Totenlied. Welches zu
einem Totenlied für so viele Frauen wird, deren Leben verrinnt, ohne dass sie
jemals zeigen durften, was in ihnen steckt.
Eigentlich also ein ganz normales Buch. Abgesehen von seiner
Rezeption, die offensichtlich von starken Gefühlen durchtränkt ist und in seiner Heftigkeit seinesgleichen sucht. Die Männer
des Feuilletons flippten geradezu aus in ihren Texten, sahen das Buch gar als Auslöser
für Fragen nach dem Sinn und Zweck von Literatur und Literaturkritik. Ich bin
vermutlich naiv, aber wenn es so schlecht ist, wenn es so unter aller Kanone
ist, warum dann überhaupt darüber schreiben?
Warum so emotional darüber schreiben? Man stelle sich vor,
eine Gruppe von Frauen hätte auf derart emotionalem Niveau geschlossen ein
Buch von einem Mann rezensiert. Man hätte ihnen vermutlich kollektives PMS unterstellt.
Das interessanteste an diesen Rezensionen war
für mich, was diese Männer darin über sich selbst preisgeben. Es wäre für die
Literaturkritik wünschenswert, wenn sie sich emanzipierten
und tatsächlich unvoreingenommen rezensieren könnten. Denn so wie es ist, sind
sie unreflektiert Teil des Patriarchats und merken es noch nicht einmal. Sie nutzen das Mittel der
Literaturkritik, um scheinbar rational eine Frau unter der Gürtellinie zu
treffen, die Dinge aufzeigt, welche ihre Gefühle in Wallung bringt.
Das Buch ist an sich
schon gut, aber noch wichtiger wird es durch die Reaktionen, die
es auszulösen vermag. Genau deshalb musste dieses Buch geschrieben werden. Weil
es Gefühle und Statements auslöst, die nur durch diesen naiven, fast dümmlich
daher kommenden Duktus ausgelöst werden können, kombiniert mit der kompromisslosen Brutalität der Geschichte. Es lockt die hässliche Fratze
unserer Zeit, leider auch sehr deutlich im Reich der Literaturkritik, ans
Licht.
Noch etwas tut Karen Köhler mit diesem Buch und davor ziehe
ich meinen Hut: sie stellt sich nackt und schutzlos, ohne jeden Zynismus, ohne
jede Selbstgerechtigkeit (die ihr lustigerweise dennoch von einem Kritiker
vorgeworfen wird) vor den Leser. Sie hat uns den Blick auf das Entsetzen der
weiblichen Existenz in einer patriarchalen Welt nicht durch eine poetische
Sprache verwässert. Das kann man ihr als Leser und auch als Leserin verübeln. Was
ich jedoch wirklich als schade empfand, war, dass die Offenheit, die
Ungeschütztheit des Textes auf Zynismus und Selbstgerechtigkeit stoßen.
Damit ist diesem Buch im Grunde widerfahren, was der
Außenseiterin in der Geschichte geschehen ist. Das Buch wird zur Metapher für
seine eigene Situation in einem Teil der Welt, der wie eine einsame Insel auf
mich wirkt.
Oben erwähnte ich, dass mich Miroloi oft an Unorthodox erinnerte. Die Heldin, die im Verlauf der Geschichte einen Namen bekommt, Alina, sie erinnert mich auch an manche Frauencharaktere bei Handke, als wäre sie eine Vorfahrin der Obstdiebin.
Wenn ich rückblickend die Lektüre dieses Buches für mich
bewerte, dann ist die größte Wirkung, die es auf mich hatte eine Öffnung gewesen, sowie eine tiefe Berührung. Dies mag kein literarischer Maßstab
in bestimmten Kreisen sein. Aber für mich ist er das, was zählt. Ich erkenne
ein gutes Buch daran, dass es mich und viele andere zu bewegen vermag.
Dass dies dem Köhlerschen Werk auf ganzer Linie gelungen
ist, erkennt man unschwer an der Fülle der Verrisse und Liebeserklärungen und
daran, dass es auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist.
Konsequenterweise müsste sie den Preis auch gewinnen. Denn
es ist nicht nur ein gutes Buch, sondern es hat eine Diskussion entfacht, die
wichtig ist und wurde somit unversehens zum Buch des Jahres 2019.
(c) Susanne Becker
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