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Corona Tagebuch (56)


"In die Mulde meiner Stummheit
leg ein Wort
und zieh Wälder groß zu beiden Seiten,
dass mein Mund
ganz im Schatten liegt."

Ingeborg Bachmann
Diese Woche war Ingeborg Bachmanns Geburtstag.
Immer war sie eine meiner liebsten Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Ich mag es, wie sie in die Tiefe taucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Wie sie sich selbst verbrennt auf der Suche nach wahren Worten. Sie ist für mich eine literarische Heldin und Mutter. Diesen Text habe ich vor sechs Jahren über sie und ihre Bedeutung für mich geschrieben)
Ich kann nicht durch Rom laufen, ohne daran zu denken, dass es ihre Stadt war. Also Rom ist für mich nicht die Hauptstadt Italiens, sondern die Stadt, in der Ingeborg Bachmann lebte und starb, möchte ich damit sagen.

Diese Woche war ich nicht ein einziges Mal im Wald. Ich war auch in keinem See. Ich musste am Wochenende arbeiten, weil wir bei uns am Seminar eine Fortbildung hatten für 80 Lehrer*innen. Alle anderen Seminare hatten ihre Fortbildungen für Klassenlehrer*innen an Waldorfschulen abgesagt oder aber online geschaltet. Zu uns kamen Leute aus allen Gegenden Deutschlands.
Was ich daran mochte: wie sie sich freuten, unter Menschen zu sein. Mit Abstandsregeln, Desinfektionsmitteln, ganz viel Unterricht draußen, in kleinen Gruppen. Thema war unter anderem: Onlineunterricht.
Es wird auch darum gehen, in diesem Metier herum zu schwimmen wie ein Fisch im Wasser. Denn es wird noch lange ein Mittel der Beschulung sein. Vielleicht wird es nie mehr so werden, wie es noch Anfang März war.
Eine Lehrerin sagte zu mir: "Nun sind die Lichter alle vom Baum genommen. Alles, was Spaß machte, ist plötzlich nicht mehr möglich."
Ich überlegte, ob ich es genau so sehe und ich sehe es nicht so. Obwohl ich absolut verstehe, was sie meinte. Immer wieder empfinde auch ich Trauer über Dinge, die eben noch möglich waren, und es jetzt nicht mehr sind. Umarmungen. Gemeinsames Singen.
Sind neue Dinge möglich, die auch schön, die vielleicht schöner sind?
Also ich sage gleich: Ich fand den Lockdown mit mehr Homeoffice nicht schlecht. Aber ich gehe schon lange wieder normal arbeiten, und habe, weil ich an einer Bildungseinrichtung arbeite, eher mehr als weniger Arbeit. Die ständigen Verordnungen müssen ja umgesetzt werden. Das sind manchmal knifflige Organisationsfragen. Und immer ist da auch die Angst: Was, wenn von unserer Institution eine Welle ausgeht, weil irgendwer infiziert war und wir trotz aller Vorsicht eine Ansteckung nicht verhindern konnten, weil es absolute Sicherheit nur in absoluter Isolation geben kann.

"We are no more and no less than the life that surrounds us."
aus dem Buch Refuge von Terry Tempest Williams, worin sie vom Sterben ihrer Mutter an Krebs, sowie von ihrer Heimat Utah, der Natur dort, erzählt und beides miteinander verknüpft. (Hier ist noch ein früherer englischer Text von mir über dieses Buch, das es ja auch nur auf Englisch gibt.)
Wir sind ein Teil von allem, was uns umgibt. Nicht mehr und nicht weniger.
Wir sind dieses Virus und was es mit uns macht. Physisch und psychisch. Wie wir damit umgehen, das sind wir. Mit einem Kollegen sprach ich über die Abstandsregeln und er hält sie nicht ein. Er macht das nicht absichtlich. Er macht es, weil dieses Abstand halten ihn vollkommen aus seinem Gleichgewicht bringt. Er wirkt auf mich seit dem Beginn dieser Pandemie, als habe er sein Zentrum verloren. Er hält alle Maßnahmen und den Virus letztlich für eine Übertreibung. Er hält sich daran, wenn man ihn zwingt, aber natürlicherweise schafft er es nicht.
Ich sagte zu ihm, dass ich ihn verstehe, dass ich aber denke, ohne die Maßnahmen müssten wir in Kauf nehmen, dass viel mehr Menschen sterben, Und es werden die Schwachen sterben: die Alten, die sowieso schon Kranken, die Armen. Das kann man gut in Ländern wie den USA oder Brasilien verfolgen. Es sterben nicht die reichen Weißen. Die meisten Toten sind Schwarze, Arme, Indigene, Menschen ohne Versicherung, ohne gute Nahrung. Ich denke, dass Staatsoberhäupter wie Trump sich im Grunde die Hände reiben, denn das  Virus tötet jene, die er sowieso los sein will.
Wir hier sind minimal gefährdet. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die versucht, sozial zu sein, und in der jede jeden schützen soll. Das ist der Anspruch dieser Gesellschaft. Maske tragen als Dienst am anderen. Als Freundlichkeit jenen gegenüber, die in der Tat gefährdet aufgrund ihrer Kondition sind und die nur dann am sozialen Leben einigermaßen entspannt teilnehmen können, wenn andere bereit sind, sie zu schützen. Es ist interessant, wie eigentlich freundliche Menschen diese Regeln nicht einhalten wollen, können, weil sie die Nähe zu anderen und ihre "Freiheit" wichtig finden.
Mein Kollege meinte, er habe früher vielleicht auch schon Leute mit einer Krankheit angesteckt. Das ist dann eben so. Er versteht die Übertreibung nicht.
Ja, das ist dann eben so. Man kann eventuell einfach darüber hinweg gehen, dass man jemanden ansteckt, und der dann stirbt. Shit happens. Aber so richtig toll fühlt es sich für mich nicht an.
Heute erzählte mir mein Bruder von jemandem in seinem Umfeld, der Corona hatte, ohne irgendwelche Symptome und jetzt, viele Wochen später, kann er kaum noch atmen und hat eine eingeschränkte Lungenfunktion.

Ich lese gerade Das Lächeln meiner Mutter von Delphine de Vigan. Sie schreibt darin die Geschichte ihrer ungewöhnlichen Familie auf. Alles läuft letztendlich auf die Frage hinaus, warum ihre Mutter sich das Leben genommen hat.
Hier ist ein kleines Video, in welchem Autorin und Buch vorstellt werden.
Selbstmord war immer schon ein Thema, das mich berührte und das ich zu verstehen suchte, weil es Selbstmörder in meiner Familie gab. Ich wuchs mit der Möglichkeit, dass sich jemand das Leben nimmt, praktisch auf. Es geschah bereits in meiner Kindheit. Da war es nur ein entfernter Onkel. Aber dennoch war der Tag, an dem er sich am Kirschbaum in seinem Garten erhängte, einer der herausragendsten Tage meiner gesamte Kindheit.
Heute schaute ich mir ein paar Statistiken an zu dem Thema: Selbstmorde in Deutschland. Überraschenderweise hat die Zahl in den Coronamonaten nicht zugenommen (DeutscheWelle) Das hat mich wirklich gewundert. Obwohl, warum eigentlich? Ehrlich gesagt treffe ich seit Monaten fast nie Leute, denen es schlechter geht als vorher. Fast alle, die ich treffe, erzählen mir, wie sehr sie die Entschleunigung genießen, dass sie endlich zu den Dingen kommen, die sie immer schon tun wollten. Dass sie nicht mehr von Termin zu Termin hetzen, dass sie Zeit für ihre Kinder haben, dass sie soviel Zeit in der  Natur verbringen wie nie zuvor, dass sie eigentlich nicht wissen, wie sie in die Hektik zurück finden sollen, die das Leben vor Corona so ausmachte, dass sie die Freiheit genießen undsoweiter. Ich habe im Grunde so gut wie nie einen Menschen getroffen, der zu mir gesagt hätte: Ich finde es schrecklich, wie es jetzt ist.


Was war noch diese Woche? In den Bussen und Bahnen wird es ab jetzt hier in Berlin 500€ kosten, wenn man ohne Maske erwischt wird. Das hindert aber nicht einen großen Teil von Berlinern daran, wie selbstverständlich ohne Maske in den Bus zu steigen oder die Bahn und heute, als ich ausnahmsweise selbst die Öffentlichen nutzte, ist in meiner Gegenwart auch niemand daran gehindert worden, einzusteigen oder wurde darauf angesprochen.

Ach, und das wirklich tolle war, dass ich am Kino International vorbei kam vor ein paar Tagen, an dem ich seit Monaten auf dem Weg zum Büro vorbei radele, und immer hing dort das Plakat für Die Känguru Chroniken, welcher im März gestartet wäre oder sogar gerade noch ist, und plötzlich hängt dort ein neues, handgemaltes Plakat, riesengroß, für den Film Undine und ich habe mich unglaublich gefreut, obwohl ich auch ohne Corona höchstens dreimal im Jahr ins Kino gehe, so war ich doch früher, vor diesem Leben in Berlin, eine passionierte Kinogängerin, vier Filme pro Woche war Standard bei mir, jahrelang. Also schlägt mein Herz noch immer für die kleinen Kinos, die unabhängigen, die Programmkinos. Und ich hoffe so sehr, dass diese ganzen Berliner Perlen diese Krise überleben werden. Schaut Euch doch vielleicht auch diesen Film an. Ich werde es tun.

Bleibt stark, genießt den Sommer, esst Kirschen. 🍒🍒🍒, schwimmt in so vielen Seen wie möglich. Ich habe mir vorgenommen, in diesem Sommer in zwanzig verschiedenen Seen zu schwimmen, was in Berlin und Umgebung eigentlich ein Kinderspiel sein kann. Aber wenn ich so weiter mache wie in der vergangenen Woche, also ständig arbeite anstatt in die Natur zu gehen, kann ich dieses Ziel knicken. Ich muss da einfach etwas konsequenter vorgehen. Sorry Leute, muss schwimmen, kann heute echt nicht ins Büro.
Bislang war ich im Wannsee, in der Krummen Lanke und im Langen See. Fehlen also nur noch 17!

(c) Susanne Becker




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