Ich hatte Der Turm zwei Jahre auf meinem Stapel ungelesener Bücher liegen und jedes Mal, wenn
sein Cover nach oben kroch, ordnete ich es wieder ganz unten ein. Irgendetwas
in mir scheute davor zurück, dieses beinahe eintausend Seiten starke Buch zu
lesen. Ich wusste, dass es nicht so ein locker-leichter Lektüre Spaziergang
sein, sondern mich fordern würde, sowohl von der Story her, aber auch von der
Sprache. Es gibt Bücher, die schlürft man einfach so weg, ohne dass man sich
dabei groß anstrengen muss. Und es gibt Bücher, da ist es fatal, wenn die
Konzentration zwischendurch schludert. Denn das führt dazu, dass man verloren
geht. Der Turm ist ein solches Buch, bei dem man nicht für ein Wort locker
lassen sollte. Jedes Wort will bewusst gelesen sein, um wirklich den
Gesamtgehalt dessen, was das Buch, von der Sprache, der Geschichte, den
Charakteren her, zu bieten hat, in sich aufzunehmen. Vermutlich wäre es sogar
gut, es gleich noch einmal zu lesen, so viele Dinge enthält es.
All das ahnte
ich. Ich ahnte, dass es eine anstrengende Lektüre werden würde und ich
fürchtete, die Anstrengung könne mich langweilen, sich möglicherweise auch gar
nicht lohnen, weil das, was hinten heraus kommt, verqualmte Gehirnzellen sind,
verbrannte Zeit, viel verbrannte Zeit, aber mehr auch nicht.
gelesen: im Bett, im Flugzeug, in Stolberg (nichts davon dokumentiert durch ein Foto- Vorsatz für das neue Jahr: das muss sich wieder ändern!) |
Doch schon als ich
den ersten Satz las, in Kursivschrift, fast eine Seite lang, war ich gefangen. „Suchend, der Strom schien sich zu straffen
in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte; es schien, als
wollte er dem Wind vorgreifen, der sich in der Stadt erhob, wenn der Verkehr
auf den Brücken schon bis auf wenige Autos und vereinzelte Straßenbahnen
ausgedünnt war, dem Wind vom Meer, das die Sozialistische Union umschloß, das
Rote Reich, den Archipel, durchädert durchwachsen durchwuchert von den Arterien
Venen Kapillaren des Stroms, aus dem Meer gespeist, in der Nacht der Strom, der
die Geräusche und Gedanken mit sich nahm auf schimmernder Oberfläche, das
Lachen und den Ernst und die Heiterkeit ins sammelnde Dunkel;…“ Zugegeben,
ein solcher Satz, und das ist ja noch nicht einmal die Hälfte dieses Satzes,
kann einen davon abhalten, überhaupt weiter zu lesen. Weil man befürchtet, und
ich möchte an dieser Stelle sagen : Zu recht!, dass das ganze Buch immer so
weiter gehen könnte. Ja, es geht das ganze Buch so weiter und es ist verdammt lang. Das ist einer der
Hauptvorwürfe, die ich bei den Amazon und Goodreadsrezensionen zu diesem Buch
fand. Man kämpft und arbeitet sich durch die Sätze, die Seiten – und bekommt
geschenkt einen tiefen Gang hinunter in einen Turm, den faszinierende Menschen
bevölkern, einen Dresdner Stadtteil, in dem ich an manchen Tagen selbst gerne
gewohnt hätte, Bildungsbürger, Intellektuelle, lesende Menschen, die in einem
Land leben, das seinem Ende entgegenstolpert, ohne es schon zu ahnen, in einem
Gesellschaftssystem vor dem Zusammenbruch, auch das, ohne es zu ahnen. Wenn sie
es ahnen, dürfen sie es sich auf keinen Fall anmerken lassen. Erst recht nicht, falls sie dieses Ende herbei sehnen sollten. Die Enge, in die
eine Diktatur ihre Bewohner zwängt, war für mich so spürbar, vom Anfang des
Buches an bis zu seinem Ende, dass es mir teilweise den Atem abschnürte beim
Lesen.
Dresden 1982 bis
1989, die Familie Hoffmann mit Kindern, Onkeln, Tanten, Bekannten, unfreiwillig
einquartierten Mitbewohnern lebt in einem Dresdner Villenviertel, in dem die
Häuser Namen tragen wie „Tausendaugenhaus“ und schlittern, ohne eine Ahnung
davon zu haben, der Wende entgegen. Unter ihnen der 17jährige Christian,
Schüler zunächst, später in der NVA, fünf Jahre lang, bis zur Wende, drei Jahre
davon auch im Militärgefängnis und zugehörigem brutalsten Arbeitseinsatz, weil
er nach dem Unfalltod eines Kameraden seinen Vorgesetzten unter anderem mit den
Worten „So was ist nur in diesem Scheißstaat möglich“ anging. Der Willkür
vollkommen ausgeliefert, dabei sich beständig an den Worten festhaltend,
lesend, denkend, Briefe schreibend. Kein Wunder,
dass die Sätze so lang, die Worte so kompliziert gewählt sein müssen. Wenn die
Sprache das ist, an dem man sich, untergehend, festhält, dann kann sie nicht
leicht daher kommen. Auch Christians Onkel Meno, Lektor in einem Verlag, also ein lesender Mensch, neigt zu dieser Kompliziertheit des Ausdrucks. Ein Teil des
Buches besteht aus seinem Tagebuch. Natürlich fragt man sich: Schreibt denn
irgendwer so Tagebuch? Dann gibt man sich selbst die Antwort: Ja, ein solcher
Mensch, wie dieser Meno es ist, der würde genau so Tagebuch schreiben.
Noch nie bin ich
lesend so tief eingedrungen in die Deutsche Demokratische Republik und ich habe
verstanden, wie wenig ich eigentlich gewusst oder verstanden habe von diesem
Leben in einer Diktatur. Wenn Uwe Tellkamp in einem Interview davon spricht,
dass sein Buch beispielsweise bei Lesungen in Dresden immer noch radioaktiv
wirkt, dann ahnt man, wie sehr er damit die Wahrheit beschrieben, ja, geradezu
penetriert hat. Herta Müller hat mal gesagt, Kunst muss weh tun. Der Turm tut
an vielen Stellen weh. Es ist nicht immer leicht, ihn zu lesen, die
aufsteigenden Gefühle zuzulassen. Ich stelle mir vor, dass dies noch viel
schwieriger sein könnte, wenn man nicht wie ich eine Außenstehende dieses
Systems ist.
Der Turm ist ein
regelrechtes Panoramabild eines Landes, einer bestimmten Schicht in diesem Land,
aber nicht nur das: Er seziert für mein Empfinden sehr genau, wie Diktaturen
funktionieren, wie sie ihre Bewohner zum Schweigen bringen und warum es niemand
wagt, sich zu wehren. Ich hatte das Gefühl, nicht nur etwas über die DDR zu
lernen, sondern etwas über Diktaturen, und auch über Menschen, im allgemeinen.
Sprachlich und
von der Handlung her ist das Buch so dicht, ich habe selbst vielleicht noch nie ein
dichteres gelesen. Wort um Wort, Zeile um Zeile wird man hinein gesogen in eine
beklemmende Welt, die so fremd ist, und doch auch so vertraut. Deutsch.
Spießig. Eng. Gefährlich für jeden, der eine Abweichung wagt oder auch nur
vermuten lässt durch ein falsches Wort, oder einen falschen Blick. Misstrauen.
Angst. Gegenseitiges Beobachten. Anschwärzen. Bespitzeln. Angezapfte Telefone.
Knappe Lebensmittel. Ausfallender Strom. Warteschlangen. Jedes nicht
funktionieren wird vertuscht und wenn ausgesprochen, als Verrat angezeigt.
Der Text ist so
dicht, die Geschichte so straff gezogen, dass man gut daran tut, die
Konzentration nicht einen Moment lang abschweifen zu lassen, wenn man nicht
Gefahr laufen will, etwas zu verpassen. Atemlos lässt es einen teilweise
werden, vor allem bei den Beschreibungen der NVA-Zeit von Christian. Wunderbare
Charaktere begegnen einem: Pfannkuchen, Judith Schevola, das Ehepaar Honich, um
nur einige zu nennen.
Highlights waren
für mich persönlich auch die Stellen, wo Tellkamp seine Protagonisten reden
lässt, jede Person hat eine eigene Stimme und manche sind dabei nicht unauffällig: Die Londoners zum Beispiel, Ex-Schwiegerfamilie von Meno, die gerne und
voller Absicht das deutsche mit dem englischen vermischen, somit eine eigene
Sprache kreieren und dann solche Sätze zustande bringen wie: „you don’t have to
sülz, if you want to say sammsink ernsthaftly“. Dabei macht es vollkommenen Sinn, dass ein Ehepaar, desesn beide Familien im Holocaust ausgelöscht wurden und die selbst je als Kinder in England das Grauen überlebten, sich genau so verhalten würden.
Oder
auch Helmut Hoppe, Gast auf der Hochzeit von Christians Cousine Ina, der sich
mit dem Onkel Ulrich über ein Wodkarezept mit schwarzen Johannisbeeren, den
Bundespräsidenten Weizsäcker und Tschernobyl unterhält:
„Helmut Hoppe
betrachtete sein Glas: „Nu ja, jezz, wodes sa-chst, schmecksch direkt ä paar
Johannisbärn dursch. Habbder die Weizsägger-Räde gehört?“
„Nee.“
„Awwer ich.“
„Und?“
„Nu. Mehr wie
drei Drobben Johannisbärn drinne. Ä fener Mann, ä rischdscher Bundespräser ähm.
Där machd was här, ni’ so wie unsre Na-bopps. Isch bin ja ma’ geschbannt, wie
das in dor Soff-jettunjohn widergäht. Jezz dürfense ja nischema mähr in de
Johannisbärn, gewissermasn. …-Warded ma: Jezz is’ Danz.“ und tanzen tut der
Helmut Hoppe gern.
Es sind so viele
Charaktere in diesem Buch, dass man aus dem Staunen nicht heraus kommt. Ich habe
mich oft gefragt, wie Tellkamp an diesem Buch gearbeitet hat und auch, wie
lange. Gerne würde ich mich darüber mit ihm unterhalten. Das Buch ist sicher autobiographisch. Denn die Eckdaten Christians stimmen auffällig mit den seinen überein. Aber dass jemand es schafft, seine eigene Geschichte derart literarisch zu verarbeiten, finde ich beeindruckend.
Für mich
persönlich ist es bis jetzt das beste Buch, das ich über die DDR gelesen habe,
das Buch, aus dem ich das meiste erfahren habe.
Bei den
Goodreads Rezensionen, auch an anderer Stelle, kam mir oft die Meinung zu Ohren,
dass Tellkamp eitel sei und dieses Buch ein Produkt von Selbstverliebtheit und
Angeberei. Ich denke aber, dass Der Turm ein wirklich großes Buch ist, und dass
Eitelkeit oder Angeberei wohl kaum ausreichen als Motivation, um ein solches
Buch zu schreiben. Wenn es so wäre, müssten wir in solchen Büchern untergehen! Denn
eitel und selbstverliebt scheint mir persönlich ein Charakteristikum des
Literaturbetriebs generell zu sein.
Wenn ihr ein
leicht-lockeres Buch lesen wollt, macht einen Bogen um Der Turm. Ich hatte
vorher Ken Follett gelesen und kann verstehen, was man auch suchen kann in
einem fast tausend Seiten dicken historischen Roman. Kein Vergleich, obwohl auch Follett, dem Thema geschuldet, nicht leicht und locker ist! Aber er liest sich runter wie nichts.
Wer Der Turm
liest, sollte Lust haben auf eine anspruchsvolle Sprache mit Bandwurmsätzen und
vielen verschiedenen Stimmen, vielen Charakteren, einer tiefgründigen Schilderung
einer Phase in der deutschen Geschichte, die noch lange nicht verdaut ist und
ihre Schatten ins Heute wirft. Eine Lektüre, die auch etwas mit Arbeit zu tun hat. Und doch habe ich das Buch letztendlich verschlungen: Im Flugzeug zum Beispiel, beim Starten und Landen, normalerweise Momente, in denen ich tief aber unauffällig atmend (es soll ja keiner merken, dass ich u.U. panicke) den Kopf zurück lege und vorgebe, zu meditieren - vergessen!: ich war so versunken im Buch, dass ich erst aufschreckte, als die Leute neben mir aussteigen wollten. Am Sylvesterabend, mein Mann und meine Tochter standen schon draußen und der Himmel über Berlin explodierte, 00:04, aber ich las weiter - und weiter, bis ich das Buch gegen 01:00 Uhr am 1.1.2015 beendete, nur kurz unterbrochen durch einen kleinen Schluck Sekt auf dem Balkon. Es hat mich ein paar Wochen begleitet, überallhin und war definitiv eines dieser Bücher, in dem ich auch in der U-Bahn lese, wenn ich nach drei Stationen schon wieder aussteigen muss, es ist eines der Bücher, die mich eventuell vergessen lassen, dass ich aussteigen muss!, die es spielend auf meine List of Favourites 2014 gebracht haben, sozusagen in letzter Minute. Und ja: wenn man sich die Liste meiner Lieblingsbücher 2014 anschaut, könnte man mir durchaus nachsagen, dass ich zwischendurch schon mal ein Faible für komplizierte Bücher entwickele. Frohes Neues Euch und viel viel Spaß, beim Lesen und auch sonst, in 2015!
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