Abends ließ ich sie zurück und ging in ihre Wohnung, in
ihr Leben, das zum größten Teil vorüber war.
Meine Mutter hatte Dinge aller Art gesammelt, jedes
einzelne noch lebendig von ihr. Circa dreißig Handtaschen, in jeder ein paar
Münzen zum Parken oder für die Kirchenkollekte, ein gebügeltes Stofftaschentuch
und Hustenbonbons. Manche davon so alt, meine Mutter hat sie zum letzten Mal
auf einer Frauenkegelclubtour nach Porta Westfalica benutzt, 1999.
Meine Mutter hat sich lange ans Leben geklammert, auch
wenn sie es im Großen und Ganzen für überschätzt hielt.
Loslassen. Es würde auf uns zukommen. Wir würden all dies
auflösen müssen. Jeden Gegenstand in die Hand nehmen und eine Entscheidung
treffen.
Wie wichtig ist es, erinnert zu werden?
Aufschreiben, was sie liebte: stricken, nähen, backen.
Ein Schrank voller Wolle, ein angefangener Pullover auf
einer Nadel, auberginefarben, fünfzig verschiedene Strick- und Häkelnadeln.
Ihr Leben fand statt in einer von mir aus betrachtet
winzigen Nische, abgedunkelt und verriegelt. Dafür verachtete ich sie schon als
Kind.
Ich werde mich daran erinnern, wie sie mich anbrüllte.
Sie verlor die Fassung oft, als wir Kinder waren. Sie schlug meinen Bruder mit
einem Holzlöffel.
Vierzig Kochtöpfe und kistenweise Backzutaten für Weihnachtsplätzchen.
Wie kann man Dinge weg schmeißen, wo doch jedes
einzelne ihre Geschichte erinnert?
Sie hat mir nie Fragen beantwortet. Na gut, sie hat
geantwortet, indem sie sagte: „Weiß ich doch nicht.“ oder „Woher soll ich das
wissen?“
Sie hielt sich für dumm. Schlimmer war es, dass wir sie
für dumm hielten. Schränkeweise Papiere, das von ihrem Vater geerbte Mietshaus
betreffend, darin handgeschriebene Abrechnungen, kompliziert, alles im Kopf,
mit Kuli (Werbegeschenk) auf diesen Blöckchen (ebenfalls Werbegeschenke), alle
fehlerfrei. Ein Blöckchen lag neben ihrem Telefon, ihre Notizen darauf, vom November,
als sie noch Notizen machte, (ihre kindliche Handschrift), als sie noch dachte,
sie würde Termine im Februar, sie starb am 5., oder im März, da räumten wir ihre
Wohnung aus, wahrnehmen.
Ich hätte gerne ihren Geruch konserviert, vor allem in
der Bettwäsche. Sie hat immer Persil verwendet. Die Nase in einem Handtuch, Fassung
verlierend.
Ich wusste nicht, was sie liebte. Eine Larve, gefangen
in einer nach Persil riechenden Dunkelheit (ihre Waschmaschine war nach Jahren
noch tiptop, so sauber, wie neu. Wie hat sie das gemacht? Meine sieht nach wenigen
Wochen aus, als würde ich Wäsche für ein Bergwerk waschen). Ihre Schwester nahm
die Waschmaschine. Etwas von ihr wegzugeben und jemand freute sich, war toll. Die
riesige Lücke im Bad, wo die Waschmaschine gestanden hat, war auch toll. Ich
meine: räum mal eine Wohnung aus, die Erinnerungen, da freut man sich über jede
Leerstelle.
Habe ich die Kleiderschränke erwähnt? Es waren drei. In
den sechzig Säcken für die Caritas waren fast nur Sachen in Größe 44 bis 48. Meine
Mutter war keine korpulente Frau. Sie war so dünn wie ich.
Sie reiste, mit 50 fing sie an, im Flugzeug! Sie, die
mir zurief „Pass bloß auf!“ sobald ich mich bewegte, hob ab. Sie saß an warmen
Stränden, die einzige Person mit Schnürschuhen und vollkommen bekleidet. „Sonne
bekommt mir nicht“ (klar, das war ja klar, du warst immer ein Typ für dunkle,
gut abgeschottete Jahreszeiten und Räume).
Dann starb sie und verwandelte sich in diesen
Schmetterling, zart, Großmeisterin des Loslassens, Flügel ausgebreitet, ins
gleißende Licht gestürzt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und ihre Dinge
blieben zurück und es war in Ordnung.
© Susanne Becker
1000 Tode schreiben ist das Projekt der Verlegerin Christiane Frohmann (verlag@cfrohmann.com), sie sucht noch Autoren, Ihr könnt Sie also anmailen, falls Ihr schreibt und gerne am Projekt teilnehmen möchte, und gekauft werden kann das E-Book hier, für schlappe €4.99 und das habe ich, zur allgemeinen Info, gestern darüber geschrieben.
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