Das ist nicht nur ein Anschlag auf eine Zeitschrift und auch nicht nur auf die Kunst. Das ist ein Anschlag auf ein Europa, das den Menschen ungeachtet ihres Geschlechts, ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung Würde, Freiheit und gleiche Rechte zuspricht – auch und zumal den Muslimen. Tun wir, was den Tätern am meisten missfällt und den Opfern am meisten entspricht: Bleiben wir frei.“
Vermutlich bin ich nicht die einzige, die seit den Ereignissen in Paris über alles mögliche nachdenkt.
Vor allem stoße ich dabei auf meine eigene Selbstgerechtigkeit und Engstirnigkeit. Ich denke eigentlich ziemlich häufig, dass ich Bescheid weiß. Sobald ich das denke, führt es eigentlich iimmer zu etwas Ungutem. Im Endeffekt führt diese Haltung zu Ereignissen wie in der Redaktion von Charlie Hebdo, in der engstirnige, selbstgerechte Fanatiker andere Menschen umbringen und glauben, ein Recht dazu zu haben. Aber dieser Fanatismus nimmt immer seinen Anfang an diesem miskroskopisch kleinen Punkt, an dem eine oder einer glauben, alles zu wissen, recht zu haben und die Meinungen anderer nicht mehr hören oder gar respektieren.
Alle Probleme beginnen, wenn die Leute anfangen, ihren eigenen Ideen und Konzepten engstirnig und selbstverliebt zu folgen und alle anderen zu belächeln oder gar abzulehnen.
Wenn man also etwas gegen Radikalität tun möchte, ist ein erster Schritt vielleicht, seine Aufmerksamkeit sehr gezielt in seinem Denken auf diesen mikroskopisch kleinen Anfangspunkt zu richten und wenn man die eigene Engstirnigkeit bemerkt, mal etwas Luft daran zu lassen und die Perspektive zu verändern.
Ich sah am Wochenende auf Facebook bei einer Freundin ein Videom in dem Reporter des immerhin renommierten Nachrichtensenders CNN einen amerikanisch-muslimischen Akademiker über den Islam interviewten. Ihre Haltung war von vonrherein klar: sie wollten von ihm bestätigt haben, dass der Islam verantwortlich sei für das, was in Paris geschehen ist. Ich schaute es mir an und das erste, was mir ins Auge stach, war die Lamoryanz der CNN-Reporter, die es so offensichtlich für nicht nachvollziehbar hielten, dass jemand nicht der Meinung sein könnte, der Islam sei eine Gewalt verherrlichende Religion. Sie fragten nicht als wahre Journalisten, aus einer Haltung der Neugierde und des wirklich wissen wollens, sondern mit einer bereits festgefügten Meinung, die sie bestätigt haben wollten. Es warf sie fast vom Stuhl vor Erstaunen, dass ihnen widersprochen wurde.
Das zweite, das mir auffiel war, dass ich selbst den Islam für eine Gewalt verherrlichende und Frauen verachtende Religion halte, ohne wirklich viel über ihn zu wissen. Vielleicht stimmt es. Aber ich wüsste es nicht. Denn das einzige, was ich über den Islam in meinem Kopf habe, sind Vorurteile.
Ich dachte darüber nach, wie oft ich bei Menschen oder Menschengruppen, die anders sind als ich, die mir fremd sind, mit Lamoryanz und Engstirnigkeit reagiere.
Wenn ich eine Frau in einer Burka sehe, dann braucht mir doch keiner was zu erklären, richtig? Dann weiß ich doch haargenau, wie sie darunter gekommen ist, dass es ihr beschissen gehen muss, und dass ihr Mann ein totales Arschloch ist. Eigentlich reicht es mir schon, wenn ich all die Frauen mit Kopftuch sehe, und sofort denke ich, alles zu wissen, über sie, ihr Leben, ihre Männer, ihre Religion. Dabei habe ich noch nie eine Frau mit einer Burka kennen gelernt. Ich habe noch nie mit einer gesprochen. Ich weiß nichts darüber, wie es ihr geht. Ich weiß höchstens, wie ich mich selbst aller Wahrscheinlichkeit nach fühlen würde, wenn ich eine Burka tragen müsste und welche Gefühle ich demjenigen gegenüber hätte, der mich dazu bringt, damit herum zu laufen. Das würde nicht ohne Zwang gehen. Das würde richtig knallen, wenn mich dazu einer zwingen wollte.
Oder auch, völlig anderes Thema, aber irgendwie auch nicht: Wenn ich bei uns im Görlitzer Park die Schwarzen sehe, wie sie Drogen verkaufen, bei Wind und Wetter, dann braucht mir doch auch niemand viel zu erklären, dann bilde ich mir ebenfalls ein, ihre Story zu kennen, oder? Ich masse mir an, zu wissen, wer sie sind. Vorurteile natürlich auch hier. Ich habe noch nie mit einem gesprochen. Ich habe noch keinen von ihnen nach seiner Geschichte gefragt. Ich weiß auch nicht viel über Afrika. Ich weiß lediglich, was ich so hier und da aufschnappe, und wie ich mich selbst fühle, wenn ich durch den Park laufe und diese Menschen mir hinterher flüstern oder meine Teenagertochter ständig aufs unangenehmste anbaggern.
Fragen:
Bei wem bildet Ihr Euch ein, deren Geschichte genau zu kennen?
Bei wem denkt Ihr, alles zu wissen?
Bei wem fragt Ihr nicht mehr nach, sondern macht einfach die Schublade auf, rein mit den Leuten und Schublade wieder zu? Meistens im sicheren Schutz einer Mehrheit, in deren Gesellschaft man sich erst recht gerechtfertigt fühlt.
Die Roma, die am Kottbusser Tor ständig aufs aufdringlichste versuchen, Eure Autoscheibe zu putzen?
Die türkischen Männer, die am Freitag vor der Moschee stehen?
Hippies? Esoteriker? Leute in Yogaklamotten? Waldorfmütter? Mütter generell? Leute mit Katzen? Leute mit Hunden? Schwarze? Weiße? Katholiken? Juden?
Wenn ich durch Paris und das Video von CNN etwas kapiert habe, dann das: Es ist wichtig, einen offenen Geist zu kultivieren. Niemals zu glauben, ich kenne einen anderen Menschen und seine Geschichte. Es ist wichtig, stets mit einer Haltung von Neugierde auf andere zu zu gehen, deren Geschichte wirklich hören zu wollen, anstatt nur deshalb zu kommunizieren, weil man seine eigenen Vorurteile a) bestätigt haben möchte oder b) weiter geben möchte. Ständig trifft man auf Menschen, die einem die Welt erklären, während sie in Wahrheit nur ihre Projektionen und Vorurteile weiter geben. Oft genug geschieht dies aus einer unglaublichen Unsicherheit heraus. Denn die Komplexität dieser Welt, die Komplexität dessen, dem gegenüber man sich tagtäglich positionieren müsste, die überfordert doch jeden. Ständig erklärt man anderen die Welt. Es ist so schwierig, das nicht zu tun. Diesen Anfangspunkt zu bemerken, an dem man sich hinter seine Rechthaberei (die man Wissen oder Wahrheit nennt) zurückzieht und andere Lebensentwürfe nur noch von oben herab beurteilt.
Manchmal ist es befreiend (Korrektur: absolut IMMER ist es befreiend), wenn man mitten im intensivsten Gedankenstrom einfach mal pausiert und seinen eigenen Gedanken kein Wort mehr glaubt. (Ich möchte deshalb im Yoga dieses Jahr auch den Handstand lernen, um mich und meine Welt regelmäßig auf den Kopf zu stellen).
Heute erzählte mir meine Tochter, dass ein Junge in ihrer Klasse, der zum Islam über getreten ist (ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich mich eine Weile fragte, ob er von Al Qaida angeworben werden könnte) und sich seit Jahren selbst Arabisch beibringt, vorhat, Politik und Islamwissenschaften zu studieren. Sie hat zu ihm gesagt: "Das ist toll. Dann wirst du vielleicht einer von denen sein, die helfen, Terrorismus mit dem Kopf zu bekämpfen." Darauf er: "Das habe ich vor!"
Wenn ich mich frage, was mir in meinem Leben geholfen hat, meinen Geist immer wieder zu öffnen, dann waren es meine Kinder!!!, Filme, Reisen und Bücher, in beliebiger Reihenfolge, und am besten, wenn sie mich in fremde, mir vollkommen unbekannte Kulturen führten (z.B. der Planet der Mütter): Bücher von Chimamanda Ngozi Adichie (Americanah) oder Elif Shafak (Ehre), der Film An Episode in the life of an Ironpicker, der Film Der Stein der Geduld, oder auch Das Mädchen Wajda, die Reisen in die Türkei oder nach Namibia - immer wieder den eigenen Raum zu verlassen, in dem man glaubt, sich auszukennen und alles zu wissen. Immer wieder sich selbst und seine Urteile in Frage stellen und begreifen, wie wenig Basis diese oft im Leben haben. Oder auch: wie leicht es ist, die Perspektive zu verändern und der eigene Standpunkt hat keinerlei Gültigkeit mehr. Es leben nicht alle Menschen in der gleichen Welt. Die Welt ist immer das Resultat dessen, der sie sieht.
Ich freue mich, dass ich in diesem Jahr noch einmal in die USA reisen kann. Denn auch gegen dieses Land kann man in Europa sehr schnell Vorurteile entwickeln. (Millionen schauen Fox News und glauben, was dort ausgestrahlt wird, es gibt die Todesstrafe, jeder kann eine Waffe tragen und man läuft Gefahr, im Supermarkt von Kleinkindern versehentlich erschossen zu werden). Als ich das erste Mal in die USA reiste, war noch Ronald Reagan Präsident und ich flog nur hin, weil ich Freunde dort hatte. Ich war so derart angefüllt mit Vorurteilen, dass ich die ersten drei Tage das Haus nicht verließ. Dann aber gefiel es mir dort so gut, dass ich ein ganzes Jahr blieb. Ich lernte die wunderbarsten Menschen kennen und fühlte mich absolut frei. Als ich zurück kam, fragten mich wohl meinende Freunde Fragen wie diese: "Wie konntest DU, ausgerechnet Du, die Du so gar nicht oberflächlich bist, es in diesem Land aushalten, in dem ALLE oberflächlich sind." Natürlich waren die Frager alle noch nie in den USA gewesen. Ich musste mich mehrere Jahre lang ziemlich häufig dafür rechtfertigen, dass ich es in den USA, und dann auch noch in Virginia (Südstaaten, Sklaverei, Rassismus), so großartig fand.
Meine Tochter wird nach Russland reisen. Ich hatte dabei zunächst ein mulmiges Gefühl. Ein Land, in dem Homosexualität strafbar ist? Das einen nahezu diktatorischen Regierungsstil kultiviert? Möchte ich, dass meine Tochter dorthin fährt? Ja, nach reiflicher Überlegung möchte ich, wenn sie es möchte, damit sie jede Möglichkeit nutzt, ihren Horizont zu erweitern. Und ich kann es kaum erwarten zu hören, was sie von dort berichtet.
Ich möchte, dass meine Töchter in einer freien Welt leben. O.k., das ist eine Utopie. Diese Welt ist an den meisten Orten nicht frei, schon gar nicht für Frauen.
Ich möchte, dass meine Töchter mit einer Freiheit in ihren Köpfen und Herzen aufwachsen, die es ihnen gestattet, der Welt offen, neugierig und liebevoll entgegen zu treten und für sich selbst keine Grenzen wahrzunehmen, in dem was sie sich für sich selbst vorstellen können. Auch wenn die Welt nicht frei ist, hoffe ich, dass die beiden es sind. Man kann nicht beeinflussen, wem man begegnet oder oft auch nicht, wie sich die Welt verändert. Aber man kann immer seine eigene Perspektive beeinflussen und positiv kultivieren. Wir haben das Privileg, in einem Teil der Welt zu leben, die uns sehr viel Freiheit ermöglicht. Ich möchte dieses Privileg schätzen und diese Wertschätzung weiter geben. Vielleicht ist das schon ein Urkern von Widerstand?
Ein offener Geist ist das, was Radikale aller Couleur am wenigsten wollen. Radikale müssen per se engstirnig und selbstgerecht sein, sonst funktioniert ihr System nicht.
Diese Eigenschaften, Engstirnigkeit und Selbstgerechtigkeit, die ich bei mir selbst entdecke, machen mir bewusst, dass auch in mir eine Radikale steckt, die heraus schlüpfen könnte. Keine Ahnung, wie dazu die Umstände sein müssten. Aber es schadet nicht, wachsam zu sein und das eigene Verhalten und Reagieren genau und achtsam zu beobachten. Also, auf diesen mikroskopisch kleinen Anfangspunkt im Denken achten, an dem man glaubt, total recht zu haben. Allzu gerne würde ich manchmal Leuten, die in meinen Augen alles falsch machen und nichts verstehen (Fox-Moderatoren, Redakteure der Bildzeitung, rechte Politiker, Rassisten, Islamisten, Chauvinisten, um nur einige zu nennen) das Wort verbieten, sie ausschließen vom öffentlichen Leben, ihnen eine nette kleine Kolonie auf dem Mars anbieten.
#JesuisAhmed ist also eine Freundlichkeit von mir, mir selbst gegenüber. Ich bin nicht Ahmed (oder höchstens in wenigen Sternstunden der Bewusstheit und Offenheit, wenn auf meiner Yogamatte alles total gut geklappt hat). Ich würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mutig Menschen verteidigen, die meine Werte nicht teilen. Aber auch #JesuisCharlie ist eine großzügige Geste mir selbst gegenüber. Denn wenn ich etwas täte und würde dafür von einer radikalen Gruppe bedroht werden, würde ich vermutlich eher damit aufhören, als dass ich mich der Gefahr aussetzte, mein Leben zu verlieren. Ich würde nicht wie Charb, der ermordete Chefredakteur von Charlie Hebdo, sagen, dass ich lieber aufrecht sterben als auf den Knien leben würde. Nein, ich glaube, den Mut hätte ich nicht.
Wenn ich aber diese beiden Hashtags verwende, mich an ihnen auch ein bisschen festhalte, dann will ich damit vielleicht sagen: ich bin die beiden, insofern ich für eine freie Welt einstehe, in der jeder sein darf, was er will, solange es nicht Gewalt gegen andere oder deren Unterdrückung beinhaltet.
Ja, ich bin für die Freiheit! Ich bin überglücklich, mein Leben lang frei gewesen zu sein. Das ist ein Privileg, das letztlich nur sehr wenige Menschen auf der Welt haben.
Meine Lehre, wenn man es überhaupt so nennen kann, aus den Geschehnissen in Paris, ist dass ich noch viel bewusster einen offenen Geist und absolute Freiheit kultivieren möchte. Und es beginnt damit, dass ich jedesmal aufmerke, wenn ich mir selbst zu sicher bin, wenn ich engstirnig an meiner eigenen Meinung festhalte. Denn das ist es, was Radikalität meiner Meinung nach am effektivsten konterkariert. Als ich das voran gestellte Zitat von Navid Kermani als allererste Reaktion auf die Anschläge las, und ich bin dankbar, dass dies die ersten Worte waren, die ich las, war ich froh, dass in all dem Wahnsinn der ein oder die andere einen klaren Kopf bewahren und kluge Dinge sagen.
Ein weiterer Artikel, den ich vorgestern entdeckt habe, geschrieben von Teju Cole, einem wunderbaren Schriftsteller und Intellektuellen (dessen Buch Open City ich nun unbedingt lesen möchte), veröffentlicht in The New Yorker, hat mich ebenfalls sehr beeindruckt! Er hat meinen Gedankengang weiter voran getrieben und tut dies noch.
Ja, ich lebe frei. Meine Töchter sollen frei leben. Meine Großeltern und meine Eltern hatten diese Freiheit nicht. Aber: während ich frei lebe, leben in der gleichen Gesellschaft viele unfrei. Umringt von Freiheit, ist es ihnen nicht möglich diese zu nutzen, ohne sich strafbar zu machen. Und: nicht selten wird die Freiheit von denen als erstes attackiert, die einen Status Quo, von dem sie profitieren, erhalten wollen. Dies geschieht in unserer westlichen Gesellschaft nicht primär durch Islamistische Terroristen, sondern durch die Geheimdienste, politische Entscheidungen, riesige Wirtschaftsunternehmen, Rechtsprechungen und nicht selten durch die Medien. Jeder, der nicht konform geht, kann mundtot gemacht werden.
Darüber kann man sich sehr aufregen. Ich rege mich darüber sehr auf. Dennoch bleibe ich zunächst dabei, dass ich bei mir selbst anfangen möchte. Bei niemandem sonst.
Wir leben in einem Teil der Welt, die uns sehr große Freiheit ermöglicht. ich möchte sie nutzen.Sie beginnt in meinem Kopf, genau dort, wo sie auch endet. Sie hat nichts mit den äußeren Umständen zu tun.
© Susanne Becker
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