"Nachts hörte sie Wasser, ein kleiner Bach floß am Haus vorbei. Ein- oder zweimal war sie aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil der Wind gedreht oder zugenommen und das Wassergeräusch überdeckt hatte. Da war sie etwa drei Wochen hier gewesen. Lange genug, um aufzuwachen, wenn sie ein Geräusch vermißte."
Ich liege im Garten meines Bruders. Ich lese die letzten Seiten von „Der Umweg“. Der Garten meines Bruders liegt in der Eifel. Nicht weit von dem Haus, in dem der Autor Gerbrand Bakker lebt. Er hat davon so wunderbar in seinem Buch „Jasper und sein Knecht“ geschrieben.
(c) Susanne Becker
Ich liege im Garten meines Bruders. Ich lese die letzten Seiten von „Der Umweg“. Der Garten meines Bruders liegt in der Eifel. Nicht weit von dem Haus, in dem der Autor Gerbrand Bakker lebt. Er hat davon so wunderbar in seinem Buch „Jasper und sein Knecht“ geschrieben.
Die Eifel, für mich seit immer ein Seelenort, auch ein
Sehnsuchtsort. Kommt doch von hier mein Vater, der sich das Leben nahm, als ich
Anfang 20 war. In der Eifel, auf dem Hof, von dem mein Vater stammte, habe ich
bei meiner Tante jedes Jahr einen Teil meiner Sommerferien verbracht. Ich wollte
diesen Hof übernehmen, davon träumte ich als Neunjährige.
Die Uckermark, in der ich selbst bis vor kurzem, acht Jahre
lang, einen Garten hatte, erinnerte mich bei meinem ersten Besuch in ihrer
wilden Schönheit, ihrer ungestörten Natur, an die Eifel meiner Kindheit. Auch
deshalb wollte ich damals dort einen Garten. Unbedingt.
Ich bin gerne allein und in der Natur. Nirgendwo liest es sich schöner, als auf einer Wiese, unter Bäumen, unter einem
Himmel, über den die Wolken reisen, während man selbst ebenfalls davon reist,
in das Leben anderer Menschen.
Das Buch „Der Umweg“ führt nach Wales. Dorthin, in ein
einsames Haus, verkriecht sich die Literaturdozentin Agnes aus Amsterdam,
nachdem an der Uni, an der sie arbeitete, ihre Affäre mit einem Studenten öffentlich
gemacht wird. Sie recherchiert für eine Dissertation über Emily Dickinson. Die sie
nicht so sehr bewundert, wie es am Anfang des Buches den Anschein haben könnte.
Sie sieht Emily Dickinson als überschätzte Autorin, als
jemanden auch, die mit ihrem Alleinsein kokettiert, um Aufmerksamkeit buhlt.
Dabei ist Agnes selbst eine Frau, die, das erfährt man im Verlauf des Buches
immer deutlicher, beziehungslos lebt. Verheiratet, aber im Grunde ohne
wirkliche Verbindung zu ihrem Ehemann, und vice versa. Auch er scheint seine
Frau weder zu lieben noch zu kennen. Als er sich irgendwann auf die Suche nach ihr macht, fragt man sich, warum. Die Eltern leben vor dem Fernseher, in
kleinkreisigen Ritualen, ein Onkel, den Agnes als Mädchen mochte, scheint nur
knapp dem Selbstmord entronnen zu sein, oder dem Verrücktwerden. Der Umgang mit ihm wurde ihr irgendwann verboten. Im Verlauf des Buches
stellt sie sich die Frage, warum man Menschen eigentlich davon
abhält, sich umzubringen, wenn sie so unglücklich sind, dass sie nicht mehr leben möchten.
Seit Wochen beginne ich Bücher und lege sie nach 40 oder 50
Seiten zurück ins Regal. Ich spiele mit dem Gedanken, eine Lesepause
einzulegen. Ich lese, seitdem ich 12 Jahre alt bin. Ich könnte einfach auch mal
damit aufhören und nur noch meinen eigenen Gedanken zuhören, oder der Leere
dahinter.
Dann wollte ich einen Ausflug zur Ostsee machen, und ich
konnte mir nicht vorstellen, einen ganzen Tag am Strand ohne Buch zu
verbringen. Der Bakker sprang mich geradezu an. Ich las die erste Seite am
Strand und konnte nicht mehr aufhören. Nach einer wochenlangen Leseflaute also endlich wieder ein Buch, das ich in wenigen Tagen verschlingen konnte. Ein Buch über eine Außenseiterin, in knapper Sprache, schnörkellos erzählt, und doch strömt das Buch eine Zärtlichkeit aus, dieser Agnes gegenüber, dass ich mich sofort in sie verliebte.
Wie sehr ich Bücher über Menschen
liebe, die irgendwo alleine leben. Die Charaktere solcher ganz eigenen Personen
sprechen mich fast immer an. Bei der Lektüre musste ich zu Anfang oft an die
Bücher Der Teich und Das große Spiel denken, mehr sogar noch an Letzteres. Die
Geschichten sind vollkommen anders, aber Agnes hat mich mit ihrer Radikalität,
ihrem Mut, sehr an die Frau aus Das große Spiel erinnert. Auch an Handke musste
ich manchmal denken, seine Frauenfiguren zum Beispiel in Der Bildverlust.
Frauen, die sich von niemandem vorschreiben lassen, wer sie
sind oder wie sie leben. Kompromisslose Frauen, die Männer grundsätzlich als nicht vollkommen
vertrauenerweckend wahrnehmen und sich der Gefahr bewusst sind, wenn sie sich mit
einem Mann allein in einem Raum befinden, wenn sie sich vor einem Mann nackt zeigen.
Der Student, der sie verleumdet hat nach der Affäre.
Der Student, der sie verleumdet hat nach der Affäre.
Der Nachbar Rhys Jones, der irgendwann in Agnes‘ Küche sitzt und ihr grobe Avancen macht.
Der Arzt, der ihre Bissverletzung von einem Dachs versorgt
und ketterauchend bei der Friseurin die Befindlichkeiten seiner Patienten ausspricht.
Dann irgendwann steht der Junge Bradwen vor der Tür. Sie lässt ihn
herein.
Agnes, die sich Emilie nennt, weil sie nicht gefunden werden
möchte von jenen die sie in Amsterdam verlassen hat, und auch von sonst
niemandem, lebt eine kurze Zeit mit Bradwen, der sie Emily nennt und wunderschön findet, der für sie kocht, im Garten
arbeitet, ihr Gesellschaft leistet und sich nicht wegschicken lässt. Bradwen, der sie fast hinauf auf einen Berg gebracht hätte, das Foto von Emily Dickinson "spooky" findet und Agnes auffängt, wenn sie das Bewusstsein verliert. Da wissen wir Leserinnen bereits, dass sie
nicht gesund ist, dass sie Paracetamol wie Bonbons gegen die Schmerzen
schluckt.
Obwohl man sie kennen gelernt hat über die gesamte
Handlung hinweg, ist man doch überrascht, nicht unangenehm, sondern überrascht
im Sinne von beeindruckt, von der Radikalität, mit der sie ihren Weg geht und nicht einmal dabei mit ihrer Einsamkeit kokettiert.
"Üppig mach dies Bett.
Scheu und ehrfurchtsvoll;
Warte dort auf das Gericht
Feierlich und hell"
Ich habe dieses Buch geliebt und nun getraue ich mich kaum,
ein neues zu beginnen, weil ich fürchte, dass es mich wieder langweilen könnte nach fünfzig Seiten.
Vielleicht besorge ich mir hier in der Eifel einfach ein
weiteres Buch von Gerbrand Bakker?
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