"Und in jenen Sekunden, als du bereits auf dem Sterbebett liegst und im Begriff bist, die Augen zu schließen - erneut das Fieber-, hast du noch Zeit zu erkennen, dass du immer recht hattest, während alle anderen irrten, dass du jetzt stirbst und dass die Welt, an die du glaubtest, mit dir stirbt."
Kanada. 191 Seiten, grauer Einband, anschmiegsames und doch festes Papier. Beim Umblättern der Seiten gibt es mir Halt.
Die Jahre gleich nach dem Holocaust. Ein Mann kehrt zurück. Wir wissen nicht, wo er war. Der Ort ist vermutlich Budapest. Der Mann besitzt ein Haus. Es ist nicht zerstört. Sein Nachbar hat es für ihn erhalten. Sein Nachbar versorgt ihn mit Lebensmitteln. Sein Nachbar möchte ihm einen Job besorgen. Man weiß als Leserin nicht, ob man den Nachbarn mögen kann. Man mag ihn nicht so wirklich. Auch wenn er wie ein Wohltäter erscheint. Zunächst. Er will dem Mann zurück ins Leben helfen.
Aber der Mann kann nicht. Er sitzt in seiner Wohnung, irgendwann nur noch in einem der Zimmer, seinem Büro. Er verbrennt seine Bücher. Er verbrennt die Zeitungen. Wir erfahren, dass er Professor war vor dem Krieg. Der Nachbar bringt immer seltener Essen. Der Mann leckt die Bodendielen ab. Man versteht, dass er Hunger in einem Ausmaß kennt, in dem es kein Mensch kennen sollte. Man versteht, dass er Leid in einem Ausmaß kennt, in dem es kein Mensch kennen sollte. In welchem es Menschen aber zugefügt wird, ständig, irgendwo. Der Holocaust, aus dem jener Mann zurück gekehrt ist, ist dafür symptomatisch. Für dieses Zerbrechen eines Menschen durch das Leid. Den Hunger, die Folter, das massenweise Morden, aber auch das Erkennen, dass die eigene Welt stirbt. Alles, an das man geglaubt hat, verliert seine Gültigkeit. Das Gute existiert nicht mehr. Das Böse gibt sich als Gutes aus. Das Falsche sagt, es ist ab jetzt das Richtige. Die Konturen lösen sich ab von der inneren Sicherheit, mit der man im Leben wurzelte und alles löst sich auf.
Juan Gómez Bárcena kriecht in das Innere dieses Menschen und beschreibt dessen Sicht auf die Welt, der fast ein Blick fort von ihr ist. Ein aktives Abwenden. Ein Blick, der die Welt und die Menschen nicht mehr ertragen kann. Die Sicht eines Zerbrochenen. Er macht dies so wunderbar poetisch, so klar, so feinfühlig. Beinahe zärtlich beschreibt er die Wirkung von Unmenschlichkeit auf einen Menschen. Er führt die Leserin durch eine Psyche und es ist eine Reise in den Abgrund.
Gleichzeitig zeichnet er ein Bild davon, was in den Jahren nach dem Holocaust in Ungarn, z.B. in Ungarn, geschah.
Es ist ein Buch, das einem den Atem stocken lässt, dass einen mit kalter Hand durch etwas hindurch führt, das gerade heute wieder so nah heran kommt. Zu nah. Alles verschwimmt einem vor den Augen, während man dem Mann in sein Büro folgt und man erkennt, wie zerbrechlich unsere Welt und unsere Existenz in ihr sind.
Ich kann mich noch erinnern, als ich solche Bücher las, um die Vergangenheit zu verstehen. Ich kann mich noch erinnern, wie mich dabei beinahe ein Gefühl der Sensationslust durchzitterte. Auch ein bisschen Überlegenheit, Stolz. Die Unvorstellbarkeit dessen, wozu Menschen fähig sind. Der Glaube, der mir heute fast naiv anmutet, dass so etwas hier niemals wieder geschehen könnte. Ich fühlte mich fast mein ganzes Leben lang so unglaublich sicher. Habe ich mich dafür jemals bedankt? Nein, ich glaube nicht. Erst jetzt, wo die Sicherheit wankt, wird sie mir überhaupt bewusst.
Heute lese ich solche Bücher, um die Gegenwart zu verstehen. In der Hoffnung, lesend noch etwas aufhalten zu können von dem was geschieht. Lesend sich stemmen, jeden Tag, gegen die Unmenschlichkeit. Lesend den eigenen Raum in sich öffnen, reinigen, Großzügigkeit ermöglichen.
Das Buch wurde ursprünglich 2017 in Spanien veröffentlicht. Spanische Buchhändler wählten es zu einem der drei wichtigsten Bücher des Jahres 2017.
Hier erschien es 2018 im Secession Verlag, der immer wieder, das wurde mir beim Lesen noch einmal so klar bewusst, mich als Leserin mit Futter versorgt, unermüdlich, um das oben Beschriebene zu versuchen: sich lesend gegen die Unmenschlichkeit zu stemmen und eine grenzenlose Großzügigkeit zu ermöglichen. Steven Uhly hat das Buch kongenial übersetzt.
Wie dankbar bin ich immer wieder für den Beruf des Übersetzers, der Übersetzerin, ohne welche ich so viele Bücher niemals lesen könnte.
Ganz große Leseempfehlung.
(c) Susanne Becker
Kanada. 191 Seiten, grauer Einband, anschmiegsames und doch festes Papier. Beim Umblättern der Seiten gibt es mir Halt.
Die Jahre gleich nach dem Holocaust. Ein Mann kehrt zurück. Wir wissen nicht, wo er war. Der Ort ist vermutlich Budapest. Der Mann besitzt ein Haus. Es ist nicht zerstört. Sein Nachbar hat es für ihn erhalten. Sein Nachbar versorgt ihn mit Lebensmitteln. Sein Nachbar möchte ihm einen Job besorgen. Man weiß als Leserin nicht, ob man den Nachbarn mögen kann. Man mag ihn nicht so wirklich. Auch wenn er wie ein Wohltäter erscheint. Zunächst. Er will dem Mann zurück ins Leben helfen.
Aber der Mann kann nicht. Er sitzt in seiner Wohnung, irgendwann nur noch in einem der Zimmer, seinem Büro. Er verbrennt seine Bücher. Er verbrennt die Zeitungen. Wir erfahren, dass er Professor war vor dem Krieg. Der Nachbar bringt immer seltener Essen. Der Mann leckt die Bodendielen ab. Man versteht, dass er Hunger in einem Ausmaß kennt, in dem es kein Mensch kennen sollte. Man versteht, dass er Leid in einem Ausmaß kennt, in dem es kein Mensch kennen sollte. In welchem es Menschen aber zugefügt wird, ständig, irgendwo. Der Holocaust, aus dem jener Mann zurück gekehrt ist, ist dafür symptomatisch. Für dieses Zerbrechen eines Menschen durch das Leid. Den Hunger, die Folter, das massenweise Morden, aber auch das Erkennen, dass die eigene Welt stirbt. Alles, an das man geglaubt hat, verliert seine Gültigkeit. Das Gute existiert nicht mehr. Das Böse gibt sich als Gutes aus. Das Falsche sagt, es ist ab jetzt das Richtige. Die Konturen lösen sich ab von der inneren Sicherheit, mit der man im Leben wurzelte und alles löst sich auf.
Juan Gómez Bárcena kriecht in das Innere dieses Menschen und beschreibt dessen Sicht auf die Welt, der fast ein Blick fort von ihr ist. Ein aktives Abwenden. Ein Blick, der die Welt und die Menschen nicht mehr ertragen kann. Die Sicht eines Zerbrochenen. Er macht dies so wunderbar poetisch, so klar, so feinfühlig. Beinahe zärtlich beschreibt er die Wirkung von Unmenschlichkeit auf einen Menschen. Er führt die Leserin durch eine Psyche und es ist eine Reise in den Abgrund.
Gleichzeitig zeichnet er ein Bild davon, was in den Jahren nach dem Holocaust in Ungarn, z.B. in Ungarn, geschah.
Es ist ein Buch, das einem den Atem stocken lässt, dass einen mit kalter Hand durch etwas hindurch führt, das gerade heute wieder so nah heran kommt. Zu nah. Alles verschwimmt einem vor den Augen, während man dem Mann in sein Büro folgt und man erkennt, wie zerbrechlich unsere Welt und unsere Existenz in ihr sind.
Ich kann mich noch erinnern, als ich solche Bücher las, um die Vergangenheit zu verstehen. Ich kann mich noch erinnern, wie mich dabei beinahe ein Gefühl der Sensationslust durchzitterte. Auch ein bisschen Überlegenheit, Stolz. Die Unvorstellbarkeit dessen, wozu Menschen fähig sind. Der Glaube, der mir heute fast naiv anmutet, dass so etwas hier niemals wieder geschehen könnte. Ich fühlte mich fast mein ganzes Leben lang so unglaublich sicher. Habe ich mich dafür jemals bedankt? Nein, ich glaube nicht. Erst jetzt, wo die Sicherheit wankt, wird sie mir überhaupt bewusst.
Heute lese ich solche Bücher, um die Gegenwart zu verstehen. In der Hoffnung, lesend noch etwas aufhalten zu können von dem was geschieht. Lesend sich stemmen, jeden Tag, gegen die Unmenschlichkeit. Lesend den eigenen Raum in sich öffnen, reinigen, Großzügigkeit ermöglichen.
Das Buch wurde ursprünglich 2017 in Spanien veröffentlicht. Spanische Buchhändler wählten es zu einem der drei wichtigsten Bücher des Jahres 2017.
Hier erschien es 2018 im Secession Verlag, der immer wieder, das wurde mir beim Lesen noch einmal so klar bewusst, mich als Leserin mit Futter versorgt, unermüdlich, um das oben Beschriebene zu versuchen: sich lesend gegen die Unmenschlichkeit zu stemmen und eine grenzenlose Großzügigkeit zu ermöglichen. Steven Uhly hat das Buch kongenial übersetzt.
Wie dankbar bin ich immer wieder für den Beruf des Übersetzers, der Übersetzerin, ohne welche ich so viele Bücher niemals lesen könnte.
Ganz große Leseempfehlung.
(c) Susanne Becker
DANKE!!!
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