"Der erste Schuss traf den Jungen, der außen lag, in den Kopf. Dann zielte er auf ihren Hinterkopf. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar schimmerte im Regen. Die Kugel drang durch den Schädel ins Hirn. Er schoss noch einmal, diesmal in die Stirn."
Ich sah die norwegische Journalistin und Kriegsreporterin Åsne Seierstad auf der Leipziger Buchmesse 2018 und es war für mich eine große Entdeckung. Damals erhielt sie für ihr Buch Einer von uns den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung und ich schlenderte über die Messe und da saß sie plötzlich auf dem Blauen Sofa und wurde interviewt. Ich hatte vorher noch nie etwas von ihr gehört. Aber was sie sagte und wie sie es sagte, brachte mich sofort dazu, stehen zu bleiben und dem Gespräch zuzuhören. Nach meiner Heimkehr kaufte ich mir das Buch über den Massenmord an 69 Kindern und Jugendlichen, der im Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya von Anders Behring Breivik begangen wurde.
Aber ich las es nicht. Ich brachte es einfach nicht über mich, mich mit dieser Welt eines Rechtsradikalen, eines Massenmörders, so intensiv auseinander zu setzen. Seierstad hatte an irgendeiner Stelle gesagt, dass es für sie nur diese Möglichkeit gibt, sich einem Menschen ganz und gar zu nähern und ihn zu verstehen: indem sie über ihn schreibt und/oder liest. Deshalb hatte ich Angst vor der Lektüre. Es bereitete mir körperliches Unwohlsein, so etwas so nahe an mich heran zu lassen. Wie aus einem Instinkt heraus wende ich mich ab, wenn ich eine fremde Welt als mir diametral entgegenstehend erlebe und es verursacht mir körperliches Unwohlsein, zu nah an derartige Positionen heran zu gehen. Vielleicht, weil ich Angst habe vor der Zerstörung meiner Werte und meiner Welt. Der Schmerz, den dies auslöst, ist sehr stark.
Ich höre ähnliches von Bekannten und Freunden aus den USA, in deren näherem Umfeld (Familie z.B.), sich fanatische Trumpianer befinden. Man geht darüber hinweg, vermeidet die Person oder die Auseinandersetzung mit ihr. Man verleugnet die unangenehmen Gefühle, die diese Menschen in einem auslösen. Kürzlich postete eine Freundin von mir einen interessanten Artikel aus der Washington Post über die Trauer, die Demokraten verspüren angesichts der Zerstörung der Demokratie und all der Lügen Trumps und der ihm treu ergebenen Republikaner. In Deutschland sind wir davon noch ein Stückweit entfernt. Aber die Richtung ist ähnlich und wenn ich nach Thüringen schaue und an die nächste Bundestagswahl denke, wird mir unwohl. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass man sich diesen unangenehmen Gefühlen stellen muss. Nur so kann sich etwas bewegen.
Heute, fast zwei Jahre später, bin ich daher bereit, das Buch zu lesen, das einen auf jeder Seite unangenehm berührt. Es bringt einem diesen Menschen, Anders Behring Breivik, sehr nah, so nah, als würde man ihn persönlich kennen. Und es ist ja auch so, dass man ihn kennt. Denn er ist einer von uns und wir alle kennen Menschen oder haben in uns Züge, die auch dieser Mensch in sich trägt, dieser Mensch, der zum Massenmörder wurde und mit seiner Tat weitere Massenmorde bis heute "inspiriert".
Auf der anderen Seite schildert sie den Weg einiger der Opfer bis zu ihrer Ermordung auf der Insel
Utøya im Sommer 2011. Wir lernen auch sie kennen und es fällt schwer, über sie und ihre Familien so vieles zu erfahren und während der Lektüre ihr Schicksal, unabwendbar, bereits zu kennen.
2018 sagte Åsne Seierstad etwas, das mich seitdem eigentlich unterschwellig immer begleitet hat:
"Wenn wir heute auf Europa schauen, kann ein erschreckender Aspekt nicht geleugnet werden: die Zunahme des Rechtsextremismus. Er ist heute stärker als zur Zeit des Terrorakts von Breivik vor sieben Jahren. Um ihn zu bekämpfen, müssen wir ihn entblößen. Um ihm entgegenzutreten, müssen wir ihn verstehen."
Dies sagte sie in ihrer Dankesrede für den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung
Ich würde denken, dass heute, 22 Monate, nachdem Sie diese Rede gehalten hat, der Rechtspopulismus noch viel mehr an Land gewonnen hat, und dass er weiter, siehe das Wahlergebnis in Großbritannien, auf dem Vormarsch ist. Unsere Welt verändert sich radikal und wir sind Zeugen, wie Wahrheiten verbogen, Fakten zu Lügen degradiert und aufrechte Menschen als Verbrecher dargestellt werden, während gleichzeitig Verbrecher Demokratien wie selbstverständlich regieren und sukzessive zerstören. Alle Maßstäbe verschieben sich. Die Weltsicht, die Åsne Seierstad als diejenige Breiviks schildert, sie ist heute viel weniger ungewöhnlich, spektakulär oder außenseitermäßig, als sie es noch zum Zeitpunkt der Niederschrift war. Immer mehr potenzielle Breiviks kommen aus ihren Verstecken und zeigen sich im Licht. Überzeugt nennen sie Versuche, die Demokratie zu schützen, undemokratisch und schlagen die Trommel gegen Feminismus, gegen Einwanderung, gegen Juden, Homosexuelle, Muslime und jeden, der sie kritisiert. Es gibt längst weitere Todesopfer und sie, die Mörder, beziehen sich auch auf Breivik. Er ist ein Rolemodel geworden. Ein 32jähriger, der seiner Regierung den Krieg erklärt und Europa vor der Islamisierung und dem Feminismus retten will.
Für dieses akribisch recherchierte Buch, das den Massenmord und seine Geschichte mit kriminalistischer Genauigkeit detailliert beschreibt, sprach Seierstad mit Angehörigen und Überlebenden. Sie rekonstruiert, was geschehen ist und wie es geschehen konnte. Und wie bei Hannah Arendt, die das Böse als banal erkannte, ist auch bei Seierstad die im Grunde frustrierende Erkenntnis, dass Breivik kein Monster ist, sondern ein ganz normaler Junge. Einer von uns. In einem Interview erzählt Seierstad, dass die Motivation für dieses Buch im Grunde schon von Anfang an diese Erkenntnis war. Anders Breivik hatte nämlich in ihrer Straße gewohnt. Sie, die bis dahin aus Kriegsgebieten berichtet hatte, die sich ins friedliche Norwegen zurück zog, um sich zu erholen, erkannte schnell, dass sie vor dieser Geschichte nicht davon laufen konnte, weil es auch ihre Geschichte war, die sie ganz direkt betraf.
"Einer von uns" ist eine Mischung aus Literatur und Journalismus, vergleichbar den Büchern von Swetlana Alexeijewitsch, die 2015 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Auch wenn diese Geschichte in Norwegen geschehen ist, ist mir bewusst, wie nah wir ihr sind. Dass Menschen wie Anders Breivik überall leben. Ihr Grundnahrungsmittel, ihre tiefsitzende Motivation ist das Selbstmitleid und sie sehen immer nur sich selbst als Opfer. Viele von ihnen sind den demokratischen Regierungen in den letzten Jahren sehr viel näher gekommen, als ich es mir jemals vorstellen konnte. Sie haben sich heran gearbeitet, um diese zu zerstören, um alles zu zerstören, was mein Leben bis hierher ausgemacht hat: Toleranz, Gleichberechtigung, Weltoffenheit, offene Grenzen, Menschenfreundlichkeit, Vertrauen, Liebe, Wahrhaftigkeit.
Das Buch ist um vieles aktueller, als es bereits bei seinem Erscheinen war.
Hier ist noch ein Link zu einem Interview mit Åsne Seierstad.
Das Buch ist erschienen im Verlag Kein & Aber.
(c) Susanne Becker
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