"... und vielleicht besitze ich die Bienen gar nicht, sondern sie besitzen mich ; vielleicht sind wir alle, auch die Bienen, Teil eines geheimnisvollen und erbarmungslosen unsterblichen Mechanismus. "
Manchmal geht es mir so, dass ich in der Stadt unterwegs bin, einen Buchladen sehe, ihn betrete, mir dabei noch sage: "Ich kaufe nichts. Ich schau nur mal, was die so ausliegen haben."
Und zehn Minuten später komme ich mit ein paar Büchern in der Tasche wieder heraus. Vor Weihnachten ist das nicht ganz so schlimm, da kann man sich selbst einreden, man würde alle diese Bücher verschenken.
Winterbienen von Norbert Scheuer zum Beispiel ist das perfekte Geschenk für meinen Bruder, der nicht liest. Aber er lebt in der Eifel. In dem Wald hinter seinem Haus ist ein Teil der Westwallverteidigung bis heute, moosbewachsen, zu sehen: Drachenzähne, also riesige Betondreiecke, tief ins Erdreich gepflanzt, um den Vormarsch der alliierten Panzer aufzuhalten, ragen genauso tief aus dem Erdreich hinaus. Monumente des Grauens. Aber gleichzeitig sind sie wunderschön und gehören zu diesem Wald wie die Bäume. Sie machen ihn aus. Jedes Mal, wenn ich dort spazieren gehe, verbringe ich eine Weile bei diesen Betonklötzen, lege meine Hände auf das Moos und denke an die Menschen, die sie bauen mussten.
In dem Buch Winterbienen geht es um einen Mann, Egidius Arimond, der in einem Eifeldorf lebt, dort Bienen züchtet, aber früher Lehrer an einem Gymnasium war. Es ist das Jahr 1944. Weil er Epileptiker ist, darf er nicht mehr unterrichten, ist er im Grunde nicht mehr lebenswert. Er wurde bereits sterilisiert. Die Medikamente in der Apotheke muss er sehr teuer bezahlen und sich immer wieder sagen lassen, dass an jemanden wie ihn eigentlich keine Medikamente mehr ausgegeben werden. Er rechnet täglich damit, dass der Apotheker, der ein überzeugter Nazi ist, ihn verrät.
Gott sei Dank ist Egidius' Bruder ein hoch dekorierter Kampfpilot, der ihm Medikamente schicken kann und an dem es auch liegt, vermutet Egidius, dass er noch nicht dem Euthanasieprogramm zum Opfer gefallen ist. Zumindest konnte er ihm Medikamente senden. Als das Buch beginnt, kommen sie nicht mehr, Egidius wartet verzweifelt darauf, um nicht dem Apotheker ausgeliefert zu sein, und der Krieg beginnt sich zuzuspitzen, auch in der Eifel. Die Alliierten rücken immer näher. Kampfflugzeuge bevölkern den Himmel.
Der Protagonist, dessen Geschichte wir durch seine eigenen Notizen erfahren, ist Teil eines Netzwerkes und schmuggelt Flüchtlinge, jüdische Flüchtlinge, über die Grenze nach Belgien. Er versteckt sie in einem dafür präparierten Bienenkorb. Das ist so spannend, dass ich beim Lesen manchmal die Luft anhielt. Aber der Autor schreibt nicht auf diese Wirkung hin. Er beschreibt das Ganze nicht pektakulär, sondern immer mit der Stimme des Egidius, die etwas ruhiges, unaufgeregtes hat. Nur zum Schluss nicht mehr, als die Krankheit ihn überwältigt, als die Medikamente knapp werden.
Tagsüber sitzt Egidius oft in der Bibliothek und übersetzt lateinische Texte eines katholischen Mönches, der ein Vorfahre von ihm war. Die von ihm transkribierten Texte sind Teil des Buches. Immer wieder wird eingeschoben, wie das Herz des Nikolaus von Cusanus im 15. Jahrhundert in die Eifel, nach Cues, zurück kehrte, und welche Rolle die Bienen dabei spielten.
In der Bibliothek bekommt Egidius auch die Aufträge für seine Rettungsmissionen. In Büchern steht mit Bleistift geschrieben, wo er wann die nächsten Menschen treffen soll sowie den Zeitpunkt für den Transport zur Grenze. In seinem Dorf, das ein Bergarbeiterdorf ist, gibt es ein Labyrinth unterirdischer Gänge und Höhlen, wo er die Flüchtlinge verstecken kann, bis er Bescheid bekommt, dass es so weit ist.
In der Bibliothek lernt er auch Charlotte kennen, die die Frau eines hochrangigen Nazis und neu in der Bibliothek ist. Er verliebt sich in sie, obwohl er bereits Affären mit zwei Frauen im Dorf hat.
Das Buch ist scheinbar simpel geschrieben, aber die Thematik ist überaus komplex. Noch Tage nach der Lektüre denke ich über viele Szenen und den Geschichtsverlauf nach. Es fesselte mich vom ersten Satz an. Die Sprache, die Geschichte, die Charaktere, der Ort. Ich erwähnte es schon einmal, dass mein Vater aus der Eifel stammt, mein Bruder jetzt dort lebt.
Vor circa zehn Jahren, als mein Vater schon lange tot war, erwähnte meine Mutter in einem Telefonat, dass es immer Gerüchte gegeben habe, jemand aus der Familie meines Vaters habe heimlich Juden gerettet, wahrscheinlich die Großmutter meines Vaters, die in Trier lebte. Mehr habe ich darüber nie erfahren können. Niemand wusste etwas. Juden zu retten war in meiner Familie nicht etwas, womit man sich gebrüstet hätte. Es war eher peinlich und auffällig. Deshalb auch, vermute ich, wurde es mir erst eher nebenbei von meiner Mutter erzählt, zu einem Zeitpunkt, als alle, die ich noch danach hätte fragen können, längst nicht mehr lebten.
Auch dies ist für mich ein Grund, dieses Buch faszinierend zu finden. Diese verschrobenen Eifelcharaktere, die mir so vertraut sind, die Teil von mir sind, sie verstecken Juden in Bienenkörben und Schränken und versuchen, ihnen das Leben zu retten, aber als Helden fühlten sie sich nicht.
Für mich ist dieses Buch ein kleines Meisterwerk, eines meiner Lesehighlights 2019. Denn im Ende zeigt es die Verbindung, die alles mit allem hat. Die Bienen mit uns, die Vergangenheit mit der Gegenwart, die Befehlshörigkeit mit der Vernichtung und dem Krieg. Es vermittelt eine Ehrfurcht vor dem Leben, das seine Metapher in den Bienen findet und in der Rettung von Menschen, die in Not sind, aber unaufgeregt, nicht aufgesetzt heroisch, es ergibt sich einfach, weil der Retter sich selbst retten muss und Geld für seine Medikamente benötigt.
Ganz große Leseempfehlung!
Winterbienen war übrigens auch auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Sehr verdient, wie ich finde.
Hier noch ein kurzes Video des WDR zu Autor und Buch.
(c) Susanne Becker
Manchmal geht es mir so, dass ich in der Stadt unterwegs bin, einen Buchladen sehe, ihn betrete, mir dabei noch sage: "Ich kaufe nichts. Ich schau nur mal, was die so ausliegen haben."
Und zehn Minuten später komme ich mit ein paar Büchern in der Tasche wieder heraus. Vor Weihnachten ist das nicht ganz so schlimm, da kann man sich selbst einreden, man würde alle diese Bücher verschenken.
Winterbienen von Norbert Scheuer zum Beispiel ist das perfekte Geschenk für meinen Bruder, der nicht liest. Aber er lebt in der Eifel. In dem Wald hinter seinem Haus ist ein Teil der Westwallverteidigung bis heute, moosbewachsen, zu sehen: Drachenzähne, also riesige Betondreiecke, tief ins Erdreich gepflanzt, um den Vormarsch der alliierten Panzer aufzuhalten, ragen genauso tief aus dem Erdreich hinaus. Monumente des Grauens. Aber gleichzeitig sind sie wunderschön und gehören zu diesem Wald wie die Bäume. Sie machen ihn aus. Jedes Mal, wenn ich dort spazieren gehe, verbringe ich eine Weile bei diesen Betonklötzen, lege meine Hände auf das Moos und denke an die Menschen, die sie bauen mussten.
In dem Buch Winterbienen geht es um einen Mann, Egidius Arimond, der in einem Eifeldorf lebt, dort Bienen züchtet, aber früher Lehrer an einem Gymnasium war. Es ist das Jahr 1944. Weil er Epileptiker ist, darf er nicht mehr unterrichten, ist er im Grunde nicht mehr lebenswert. Er wurde bereits sterilisiert. Die Medikamente in der Apotheke muss er sehr teuer bezahlen und sich immer wieder sagen lassen, dass an jemanden wie ihn eigentlich keine Medikamente mehr ausgegeben werden. Er rechnet täglich damit, dass der Apotheker, der ein überzeugter Nazi ist, ihn verrät.
Gott sei Dank ist Egidius' Bruder ein hoch dekorierter Kampfpilot, der ihm Medikamente schicken kann und an dem es auch liegt, vermutet Egidius, dass er noch nicht dem Euthanasieprogramm zum Opfer gefallen ist. Zumindest konnte er ihm Medikamente senden. Als das Buch beginnt, kommen sie nicht mehr, Egidius wartet verzweifelt darauf, um nicht dem Apotheker ausgeliefert zu sein, und der Krieg beginnt sich zuzuspitzen, auch in der Eifel. Die Alliierten rücken immer näher. Kampfflugzeuge bevölkern den Himmel.
Der Protagonist, dessen Geschichte wir durch seine eigenen Notizen erfahren, ist Teil eines Netzwerkes und schmuggelt Flüchtlinge, jüdische Flüchtlinge, über die Grenze nach Belgien. Er versteckt sie in einem dafür präparierten Bienenkorb. Das ist so spannend, dass ich beim Lesen manchmal die Luft anhielt. Aber der Autor schreibt nicht auf diese Wirkung hin. Er beschreibt das Ganze nicht pektakulär, sondern immer mit der Stimme des Egidius, die etwas ruhiges, unaufgeregtes hat. Nur zum Schluss nicht mehr, als die Krankheit ihn überwältigt, als die Medikamente knapp werden.
Tagsüber sitzt Egidius oft in der Bibliothek und übersetzt lateinische Texte eines katholischen Mönches, der ein Vorfahre von ihm war. Die von ihm transkribierten Texte sind Teil des Buches. Immer wieder wird eingeschoben, wie das Herz des Nikolaus von Cusanus im 15. Jahrhundert in die Eifel, nach Cues, zurück kehrte, und welche Rolle die Bienen dabei spielten.
In der Bibliothek bekommt Egidius auch die Aufträge für seine Rettungsmissionen. In Büchern steht mit Bleistift geschrieben, wo er wann die nächsten Menschen treffen soll sowie den Zeitpunkt für den Transport zur Grenze. In seinem Dorf, das ein Bergarbeiterdorf ist, gibt es ein Labyrinth unterirdischer Gänge und Höhlen, wo er die Flüchtlinge verstecken kann, bis er Bescheid bekommt, dass es so weit ist.
In der Bibliothek lernt er auch Charlotte kennen, die die Frau eines hochrangigen Nazis und neu in der Bibliothek ist. Er verliebt sich in sie, obwohl er bereits Affären mit zwei Frauen im Dorf hat.
Das Buch ist scheinbar simpel geschrieben, aber die Thematik ist überaus komplex. Noch Tage nach der Lektüre denke ich über viele Szenen und den Geschichtsverlauf nach. Es fesselte mich vom ersten Satz an. Die Sprache, die Geschichte, die Charaktere, der Ort. Ich erwähnte es schon einmal, dass mein Vater aus der Eifel stammt, mein Bruder jetzt dort lebt.
Vor circa zehn Jahren, als mein Vater schon lange tot war, erwähnte meine Mutter in einem Telefonat, dass es immer Gerüchte gegeben habe, jemand aus der Familie meines Vaters habe heimlich Juden gerettet, wahrscheinlich die Großmutter meines Vaters, die in Trier lebte. Mehr habe ich darüber nie erfahren können. Niemand wusste etwas. Juden zu retten war in meiner Familie nicht etwas, womit man sich gebrüstet hätte. Es war eher peinlich und auffällig. Deshalb auch, vermute ich, wurde es mir erst eher nebenbei von meiner Mutter erzählt, zu einem Zeitpunkt, als alle, die ich noch danach hätte fragen können, längst nicht mehr lebten.
Auch dies ist für mich ein Grund, dieses Buch faszinierend zu finden. Diese verschrobenen Eifelcharaktere, die mir so vertraut sind, die Teil von mir sind, sie verstecken Juden in Bienenkörben und Schränken und versuchen, ihnen das Leben zu retten, aber als Helden fühlten sie sich nicht.
Für mich ist dieses Buch ein kleines Meisterwerk, eines meiner Lesehighlights 2019. Denn im Ende zeigt es die Verbindung, die alles mit allem hat. Die Bienen mit uns, die Vergangenheit mit der Gegenwart, die Befehlshörigkeit mit der Vernichtung und dem Krieg. Es vermittelt eine Ehrfurcht vor dem Leben, das seine Metapher in den Bienen findet und in der Rettung von Menschen, die in Not sind, aber unaufgeregt, nicht aufgesetzt heroisch, es ergibt sich einfach, weil der Retter sich selbst retten muss und Geld für seine Medikamente benötigt.
Ganz große Leseempfehlung!
Winterbienen war übrigens auch auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Sehr verdient, wie ich finde.
Hier noch ein kurzes Video des WDR zu Autor und Buch.
(c) Susanne Becker
Kommentare
Kommentar veröffentlichen