Direkt zum Hauptbereich

Corona Tagebuch (49)


Mein 1. Mai

Im Wald. Es ist leerer. Außer auf dem Waldspielplatz. Der war voller Kinder und Eltern.
Ja, die Spielplätze in Berlin sind wieder geöffnet. Im Wald also ewig allein auf einem Baumstamm gesessen und ins Grün geschaut. Keine Menschenseele, keine menschliche Stimme gehört, nur die Vögel und die Sonne und das Blau des Himmels im Maigrün der Blätter.

Ich war etwa zwei Wochen nicht mehr dort und überrascht, wie üppig und grün plötzlich alles ist. Der Regen der letzten Tage hat dem Wald sehr gut getan. Die Vögel singen so laut und wunderschön. Schon heute morgen liebte ich es, als ich lange im Bett saß, gelesen und Tagebuch geschrieben, Kaffee getrunken habe und durch die offene Balkontür drangen so viele Vogelstimmen, als wäre ich irgendwo auf dem Land. Der Baum vor meinem Fenster ist jetzt wieder vollkommen belaubt und er verdeckt meine ganze breite Fensterfront bis zum Balkon und ein bisschen ist es, als wohnte ich in einem Baum.
Dann natürlich der Hubschrauber. 1. Mai. Kreuzberg. Der Hubschrauber kreist seit heute morgen über unserer Nachbarschaft. Manchmal steht er eine Weile über einer bestimmten Straße.
Als ich herunter ging auf die Straße sah ich, dass unser gesamter Kiez von Polizeiwagen umzingelt ist, große Mannschaftswagen und kleine Einsatzwagen. Auch das Ordnungsamt ist sehr präsent.
Ich radelte in die entgegen gesetzte Richtung, zum Wald.

Aber dann, am späten Nachmittag, als der Hubschrauber immer lauter wurde, packte mich doch die Neugierde und ich wollte sehen, ob ich etwas entscheidendes verpasse. Die Straßen sehr voll im Vergleich zu den letzten Wochen. Vor jedem Kiosk lange Schlangen von Leuten, die Bier kauften. Jeder hatte Bierflaschen in der Hand, kaum jemand trug Gesichtsmasken, auch nicht in den vollen Kiosken. Alle marschierten durch die Straßen und tranken ihr Bier oder aßen Pommes oder Döner.  Vielleicht war jeder, so wie ich, auf der Suche nach den Leuten, die vom Hubschrauber beobachtet werden und letztlich waren wir es selbst? Vielleicht suchte auch jeder die Party, die normalerweise am Mariannenplatz und im Görlitzer Park am 1. Mai stattfindet?

In Richtung Oranienstraße sah ich viele blaue Lichter und als ich nachhause gehe, denke ich mir, dass dort, im traditionellen Kiez, wahrscheinlich die Autonomen eine Demo versuchen. Ich erinnerte mich daran, als ich ganz neu in Berlin war. Ich wohnte damals in Neukölln und fuhr mit einem Münchner Freund, der zu Besuch war, in die Oranienstraße am 1. Mai, weil wir sehen wollten, was dort geschah. Wir setzten uns in ein Café und den ganzen Abend liefen entweder Kamerateams, Polizistengruppen oder Demonstrantengruppen im Laufschritt an unserem Schaufenster vorüber. Wie so ein Katz und Mausspiel. Die Gruppen waren nie größer als 4-6 Leute. Mal rannten sie in die eine Richtung, dann wieder in die andere Richtung. Es war auf Dauer für uns langweilig. Wir kamen aus Köln und München und hatten irgendwie was dolleres erwartet. Aber ich glaube, ihnen hat es Spaß gemacht.

Ab Montag gehen in Berlin die Neuntklässler wieder in die Schule, aber in geteilten Klassenverbänden und nur für drei Stunden täglich.

Viele Menschen, die ich kenne, haben die Soforthilfe für Künstler oder Selbständige beantragt und erhalten.

Es sieht nicht so aus, als würde ich in naher Zukunft in Kurzarbeit gehen. Ich weiß ganz genau, wie privilegiert ich bin. Ich weiß, dass ich in keinster Weise zu den Opfern dieser Zeit gehöre. Im Gegenteil kann ich es mir leisten, sie zu beobachten, als stünde ich quasi ein wenig außerhalb. Als würde mich das alles nicht direkt betreffen. Das Schreckliche ist meinem Leben fern. Ich leide noch nicht einmal wirklich, abgesehen von dem ein oder anderen Schlechtelauneeinbruch, den ich aber, seien wir ehrlich, auch ohne Corona habe. Der mir durch die Abstandsregeln auferlegte Lebensstil unterscheidet sich nur graduell von meinem normalen Leben. Ich habe nichts in dieser Krise verloren, außer vielleicht mein Bild von ein paar Menschen, die sich ganz anders verhalten haben, die vollkommen anders denken auch, und wo ein Abstand zu mir deutlich wird, der auch nach dem Ende der Abstandsregeln nicht so leicht zu überbrücken sein wird. Aber warum sollte er auch? Warum nicht akzeptieren, dass jeder diese Situation anders sieht? Warum nicht akzeptieren, dass dies auch etwas für eine Beziehung bedeuten kann, ohne dass dies dramatisch ist. Dinge verändern sich. Wir verändern uns. Die anderen verändern sich auch. In dieser Zeit, in der so viel Wahrheit zutage tritt und die Menschen sich anders zeigen. Warum nicht hinschauen ohne zu werten?

Draußen knallt es immer mal wieder. Sylvester? 1. Mai? Ich habe das Gefühl für den Moment gerade verloren. Immer wieder gehen grölende Menschengruppen unter meinen Fenstern die Straße entlang. Besonders erfreulich, wenn sie riesige Boxen geschultert haben und meine Straße immer wieder für Momente in einen Club mit sehr unterschiedlichem Musikprogramm verwandeln. Nicht so extrem wie in den früheren Jahren, aber extrem für das, was eigentlich gerade als Regel gilt. Corona? War da was? Sich demonstrativ nicht daran halten als Protest. Oder als Revolution? Ich glaube, sie denken, sie sind Revolutionäre.

Meine Freundin Bettina Beranek hätte eigentlich heute Tag des offenen Ateliers gehabt. Aber wegen Corona muss dieser selbstverständlich ausfallen. Also hat sie einen virtuellen Tag des offenen Ateliers veranstaltet. Schauts Euch an. Ihr Atelier ist ein schöner Ort, an dem ich jedesmal die Inspiration fühle. Ich hoffe, ich kann es in diesem Jahr noch besuchen. Wenn die Grenze zwischen Deutschland und Österreich sich hoffentlich bald wieder öffnet.


Gute Nacht, meine Lieben, danke für Euer schönes Feedback und bleibt gesund. May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker



Kommentare

  1. Irgendwie machte much das traurig. Ihr öffnet in Berlin. Das Chaos hier in den USA ist kaum auszuhalten. Auch bei mir sind viele Vögel unterwegs. Es ist still. Ich gehe nirgendwo hin - schon seit einer Woche war ich nirgends als bei mir selbst.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich wünschte, wir könnten uns treffen. Much love, Reggie. Dont give up. you have all the mental tools to go through this. Hugs and kissen <3

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bü...

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer ...

Gedanken zu dem Film Corsage von Marie Kreutzer mit Vicky Krieps

  When she was home, she was a swan When she was out, she was a tiger. aus dem Song: She was von Camille   (s.u.) Ich kenne so viele Frauen, die sich ein Leben lang nicht finden, die gar nicht dazu kommen, nach sich zu suchen, die sich verlieren in den Rollen, die die Welt ihnen abverlangt.  Es gibt so viele Orte, an denen Frauen nicht den Schimmer einer Wahl haben, zu entscheiden, wie sie leben, wer sie sein möchten. Diese Orte werden mehr. Orte, an denen Frauen einmal ein wenig freier waren, gehen uns wieder verloren. Die meisten Frauen leben gefährlich. Gefährlicher als Soldaten in Kriegen.  Aber dennoch hatte ich kein Mitleid mit der Kaiserin, den ganzen Film über nicht ein einziges Mal, weil sie eigentlich nicht als sympathische Person gezeigt wurde. Was ich gut fand. Denn welche Frau kann sich etwas davon kaufen, dass sie bemitleidet wird? Elisabeth ist in diesem Film selbstzentriert, rücksichtslos, narzisstisch. Besessen von ihrem Körper, seinem Gew...