"All die Leiden, sagte sich Fima, alle Schalheit und Absurdität erwachsen nur daraus, daß man den dritten Zustand verfehlt. Oder aus der vagen, nagenden Herzensahnung, die uns von Zeit zu Zeit von ferne daran erinnert, daß es dort - draußen und drinnen, fast in greifbarer Nähe - etwas Grundwichtiges gibt, zu dem du gewissermaßen dauernd unterwegs bist, nur daß du ebenso dauernd vom Weg abirrst:..."
Ich glaube, selten hat mich der Protagonist eines Buches so kirre gemacht wie dieser Fima aus "Der dritte Zustand". Das Buch ist 1991 erschienen und ich las bereits vorab in irgendeiner Rezension, daß die Lektüre einen schier in den Wahnsinn treibt.
Was soll ich sagen: Es stimmt.
Denn dieses Buch ist wie die Lesbarmachung dessen, was im Zitat bereits angedeutet wird: Fima, der Protagonist, lässt sich unentwegt ablenken. Jeder Tag seines Lebens ist eine Reihe von Ablenkungen. Eben steht er noch auf und will sich einen Kaffee machen und setzt Wasser auf, da fällt sein Blick auf den Papierkorb, in welchem er eine alte Zeitung vom Vortag sieht, er nimmt sie heraus, trägt sie an seinen Schreibtisch, liest, beginnt an einem Artikel zu schreiben und schreckt irgendwann wegen des Geruchs auf. Das Wasser im Wasserkocher ist verdampft, der Wasserkocher zerstört und er hat noch immer keinen Kaffee. Im nächsten Moment ruft er einen seiner Freunde an und erklärt ihm die Problematik des israelischen Verhaltens den Arabern gegenüber und hat auf jede offene Frage in der politischen Situation Israels eine Lösung parat.
In seiner Phantasie ist er Ministerpräsident und hat eine Regierung, die er regelmäßig zusammenruft und die aus seinen Freunden und anderen Menschen besteht, denen er eine Lösung der israelischen Situation zutraut. Darunter auch ein Taxifahrer, der ihm auf einer gemeinsamen Fahrt kurz seine Sicht auf Araber und Israelis darlegt und damit seine Kompetenz genügend unter Beweis gestellt hat.
Man könnte also meinen, Fima ist ein Irrer. Aber dafür sind die Aussagen, die er ständig tätigt, zu klug. Er ist ein Intellektueller, auch ein Poet, der nicht die Disziplin oder den Ehrgeiz aufbrachte, seine Begabung in eine Karriere zu verwandeln. Er ist verwöhnt, ein Weichei, lebt immer noch in einer vom Vater gekauften Wohnung, und lässt diesen die Handwerker organisieren, wenn es ein Problem gibt. Auch steckt sein Vater ihm noch regelmäßig Geld zu. Fima ist fünfzig Jahre alt und trägt ergraute, alte Unterwäsche. Er hat trotzdem Sex mit diversen Frauen, die ihn offensichtlich begehren.
Er ist geschieden, von Jael, die Wissenschaftlerin und mittlerweile mit einem Amerikaner verheiratet ist. Sie hat einen Sohn, auf den Fima manchmal aufpasst und dem er sich sehr verbunden fühlt.
Fima hat einen Freundeskreis, eine gelegentliche Affäre mit einer der verheirateten Frauen aus dem Kreis. Er arbeitet als Sprechstundenhilfe in einer gynäkologischen Praxis, in der sowohl Abtreibungen als auch Fruchtbarkeitsbehandlungen durchgeführt werden.
Das Buch handelt in einer einzigen Woche im Februar 1989 und nimmt ständig Bezug auf die realen politischen Geschehnisse.
Es ist also primär ein politisches Buch. Ein Buch, das aufruft zur Verständigung, zum Gespräch, zu Erbarmen miteinander. Ein Buch gegen das Schweigen.
1992 erhielt Amos Oz den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Der dritte Zustand war damals sein aktuelles Buch in Deutschland. Damals sollte es noch zwölf Jahre dauern, bis er das Meisterwerk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis schrieb. Es ist für mich eines der besten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe.
Der dritte Zustand ist vollkommen anders. Und doch fand ich Elemente, die mich erinnerten. Beispielsweise die Bindung Fimas an seine früh verstorbene Mutter. Wie er an einer Stelle schildert, als sie in sein Zimmer kam, nachts, wo er vor Angst geweint hatte.
Ich habe Der dritte Zustand übrigens auch als Buch gelesen, das eine tiefe spirituelle Botschaft vermittelt, die über die individuelle Situation Israels und der Juden in diesem Moment hinaus weist.
Der Dritte Zustand ist etwas, das jeden Menschen betrifft, den wir vielleicht alle erstreben und zum großen Teil immer wieder verpassen, weil wir uns ablenken lassen.
So gelesen ist Fima wie ein Stellvertreter der Ablenkung. Ein Platzhalter, eine Personifizierung der täglichen Ablenkungen, denen wir alle in jedem Moment erliegen und die uns davon abhalten, ein authentisches, erfülltes und konzentriertes Leben zu führen, in dem wir das tun und umsetzen, was wir als wesentlich für uns erkannt haben. In diesem Sinne erinnert mich das Buch immer wieder an meine Meditationspraxis, an meinen Versuch, einmal für fünf Atemzüge beim Atem zu bleiben, um dann, wenn der Gong nach dreißig Minuten läutet festzustellen, dass ich mal wieder eine Art Weltreise plus Lösung diverser Probleme von Fremden und Freunden durchlebt habe, und mein letzter bewusster Atemzug circa 29 Minuten zurück liegt. So leben wir. Eigentlich ständig.
"Es gibt auf der Welt nichts Tragischeres, als diesen dritten Zustand zu verpassen, ..."
Noch etwas drittes lese ich in diesem wunderbar nervigen Buch: Diese Person Fima, die einen so wahnsinnig macht, auf den man teilweise überheblich lächelnd herabschaut während der Lektüre, er versucht nicht weniger und nicht mehr, als ein guter Mensch zu sein und ist auf der verzweifelten Suche nach der Wahrheit. Er will sie aussprechen, leben und von allen verstanden und umgesetzt sehen. Er ist ein Kämpfer und wirkt natürlich in einer Welt, in der äußerer Erfolg, Kompromisse, Rückgratlosigkeit bestimmend sind, wie ein sonderbarer Looser. Kaum jemand nimmt ihn ernst. Niemand möchte seine ständigen Wortergüsse über sich ergehen lassen. Aber in seinen Worten stecken große Wahrheiten. Denen niemand zuhört, weil er gleichzeitig selbstgerecht und rechthaberisch ist. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass eigentlich niemand außer ihm Recht hat. Er erinnert mich an all die Gespräche, die ich in den letzten Wochen hatte, mit Freunden und Bekannten zum Thema Corona, wo auch jeder wieder denkt, er hat die Wahrheit und allen anderen die Situation erklärt.
Und ich frage mich schon lange, in der Wirklichkeit und auch beim Lesen dieses Buches: Wie wäre mein Leben, wenn ich keine Meinung hätte und also auch nicht versuchen würde, irgendwen zu überzeugen? Wenn ich einfach versuchen würde, das zu tun, was gerade ansteht?
"...Man hat dich gerufen und du hast vergessen zu kommen. Man hat gesprochen, und du hast nicht hingehört. Man hat dir geöffnet, und du hast gezaudert, bis das Tor wieder geschlossen war, weil du vorher lieber noch diesen oder jenen Wunsch befriedigen wolltest."
(c) Susanne Becker
Ich glaube, selten hat mich der Protagonist eines Buches so kirre gemacht wie dieser Fima aus "Der dritte Zustand". Das Buch ist 1991 erschienen und ich las bereits vorab in irgendeiner Rezension, daß die Lektüre einen schier in den Wahnsinn treibt.
Was soll ich sagen: Es stimmt.
Denn dieses Buch ist wie die Lesbarmachung dessen, was im Zitat bereits angedeutet wird: Fima, der Protagonist, lässt sich unentwegt ablenken. Jeder Tag seines Lebens ist eine Reihe von Ablenkungen. Eben steht er noch auf und will sich einen Kaffee machen und setzt Wasser auf, da fällt sein Blick auf den Papierkorb, in welchem er eine alte Zeitung vom Vortag sieht, er nimmt sie heraus, trägt sie an seinen Schreibtisch, liest, beginnt an einem Artikel zu schreiben und schreckt irgendwann wegen des Geruchs auf. Das Wasser im Wasserkocher ist verdampft, der Wasserkocher zerstört und er hat noch immer keinen Kaffee. Im nächsten Moment ruft er einen seiner Freunde an und erklärt ihm die Problematik des israelischen Verhaltens den Arabern gegenüber und hat auf jede offene Frage in der politischen Situation Israels eine Lösung parat.
In seiner Phantasie ist er Ministerpräsident und hat eine Regierung, die er regelmäßig zusammenruft und die aus seinen Freunden und anderen Menschen besteht, denen er eine Lösung der israelischen Situation zutraut. Darunter auch ein Taxifahrer, der ihm auf einer gemeinsamen Fahrt kurz seine Sicht auf Araber und Israelis darlegt und damit seine Kompetenz genügend unter Beweis gestellt hat.
Man könnte also meinen, Fima ist ein Irrer. Aber dafür sind die Aussagen, die er ständig tätigt, zu klug. Er ist ein Intellektueller, auch ein Poet, der nicht die Disziplin oder den Ehrgeiz aufbrachte, seine Begabung in eine Karriere zu verwandeln. Er ist verwöhnt, ein Weichei, lebt immer noch in einer vom Vater gekauften Wohnung, und lässt diesen die Handwerker organisieren, wenn es ein Problem gibt. Auch steckt sein Vater ihm noch regelmäßig Geld zu. Fima ist fünfzig Jahre alt und trägt ergraute, alte Unterwäsche. Er hat trotzdem Sex mit diversen Frauen, die ihn offensichtlich begehren.
Er ist geschieden, von Jael, die Wissenschaftlerin und mittlerweile mit einem Amerikaner verheiratet ist. Sie hat einen Sohn, auf den Fima manchmal aufpasst und dem er sich sehr verbunden fühlt.
Fima hat einen Freundeskreis, eine gelegentliche Affäre mit einer der verheirateten Frauen aus dem Kreis. Er arbeitet als Sprechstundenhilfe in einer gynäkologischen Praxis, in der sowohl Abtreibungen als auch Fruchtbarkeitsbehandlungen durchgeführt werden.
Das Buch handelt in einer einzigen Woche im Februar 1989 und nimmt ständig Bezug auf die realen politischen Geschehnisse.
Es ist also primär ein politisches Buch. Ein Buch, das aufruft zur Verständigung, zum Gespräch, zu Erbarmen miteinander. Ein Buch gegen das Schweigen.
1992 erhielt Amos Oz den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Der dritte Zustand war damals sein aktuelles Buch in Deutschland. Damals sollte es noch zwölf Jahre dauern, bis er das Meisterwerk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis schrieb. Es ist für mich eines der besten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe.
Der dritte Zustand ist vollkommen anders. Und doch fand ich Elemente, die mich erinnerten. Beispielsweise die Bindung Fimas an seine früh verstorbene Mutter. Wie er an einer Stelle schildert, als sie in sein Zimmer kam, nachts, wo er vor Angst geweint hatte.
Ich habe Der dritte Zustand übrigens auch als Buch gelesen, das eine tiefe spirituelle Botschaft vermittelt, die über die individuelle Situation Israels und der Juden in diesem Moment hinaus weist.
Der Dritte Zustand ist etwas, das jeden Menschen betrifft, den wir vielleicht alle erstreben und zum großen Teil immer wieder verpassen, weil wir uns ablenken lassen.
So gelesen ist Fima wie ein Stellvertreter der Ablenkung. Ein Platzhalter, eine Personifizierung der täglichen Ablenkungen, denen wir alle in jedem Moment erliegen und die uns davon abhalten, ein authentisches, erfülltes und konzentriertes Leben zu führen, in dem wir das tun und umsetzen, was wir als wesentlich für uns erkannt haben. In diesem Sinne erinnert mich das Buch immer wieder an meine Meditationspraxis, an meinen Versuch, einmal für fünf Atemzüge beim Atem zu bleiben, um dann, wenn der Gong nach dreißig Minuten läutet festzustellen, dass ich mal wieder eine Art Weltreise plus Lösung diverser Probleme von Fremden und Freunden durchlebt habe, und mein letzter bewusster Atemzug circa 29 Minuten zurück liegt. So leben wir. Eigentlich ständig.
"Es gibt auf der Welt nichts Tragischeres, als diesen dritten Zustand zu verpassen, ..."
Noch etwas drittes lese ich in diesem wunderbar nervigen Buch: Diese Person Fima, die einen so wahnsinnig macht, auf den man teilweise überheblich lächelnd herabschaut während der Lektüre, er versucht nicht weniger und nicht mehr, als ein guter Mensch zu sein und ist auf der verzweifelten Suche nach der Wahrheit. Er will sie aussprechen, leben und von allen verstanden und umgesetzt sehen. Er ist ein Kämpfer und wirkt natürlich in einer Welt, in der äußerer Erfolg, Kompromisse, Rückgratlosigkeit bestimmend sind, wie ein sonderbarer Looser. Kaum jemand nimmt ihn ernst. Niemand möchte seine ständigen Wortergüsse über sich ergehen lassen. Aber in seinen Worten stecken große Wahrheiten. Denen niemand zuhört, weil er gleichzeitig selbstgerecht und rechthaberisch ist. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass eigentlich niemand außer ihm Recht hat. Er erinnert mich an all die Gespräche, die ich in den letzten Wochen hatte, mit Freunden und Bekannten zum Thema Corona, wo auch jeder wieder denkt, er hat die Wahrheit und allen anderen die Situation erklärt.
Und ich frage mich schon lange, in der Wirklichkeit und auch beim Lesen dieses Buches: Wie wäre mein Leben, wenn ich keine Meinung hätte und also auch nicht versuchen würde, irgendwen zu überzeugen? Wenn ich einfach versuchen würde, das zu tun, was gerade ansteht?
"...Man hat dich gerufen und du hast vergessen zu kommen. Man hat gesprochen, und du hast nicht hingehört. Man hat dir geöffnet, und du hast gezaudert, bis das Tor wieder geschlossen war, weil du vorher lieber noch diesen oder jenen Wunsch befriedigen wolltest."
(c) Susanne Becker
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