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Corona Tagebuch (52)

Ich war heute arbeiten und das sind immer die Tage, wo nicht so viel geschieht, denn ich bin total in den Zusammenhängen des Büros und mit den Arbeitsabläufen dort beschäftigt und dann ist es schon Abend.
Die Tochter hatte zwei Zoom Konferenzen, einmal mit ihrer Klasse zum Thema Widerstand im Nationalsozialismus. Die Lehrerinnen hatte sogar einen Gast organisiert, eine Frau der Gedenkstätte Deutscher Widerstand  sowie von der Koordinierungsstelle Stolpersteine. Als ich abends vom Büro kam, um wegen der zweiten Zoom Konferenz mit dem Fußballverein (Fitnessprogramm mit der Mannschaft und den Trainerinnen online!) zu schauen, saß die Tochter immer noch an ihren Hausaufgaben und schaute gerade einen Film zur deutschen Invasion in Norwegen aus Sicht norwegischer Kinder. Deutsche Soldaten kauften Fische von einem norwegischen Fischer und wollten ein Foto machen von sich und dem Fischer und seinem Sohn. Ich musste kurz an Willy Brandt denken und dann an Hannah Arendt. In einem ihrer Bücher las ich, ich glaube, es war bei Eichmann in Jerusalem, dass die Norweger so subtil resistant waren, dass selbst die Deutschen Besatzer dort in ihrer Nazihaltung abflachten und öfter ausgewechselt werden mussten.
Überhaupt arbeitet die Tochter mehr für die Schule als jemals zu Schulzeiten (also ich meine jene Schulzeiten, die noch darin bestanden, dass man zur Schule ging, in dieses Gebäude, in dem man sich mit seinen Klassenkameradinnen und Lehrerinnen traf, erinnert Ihr Euch?). Manchmal beklagt sie sich, aber meistens macht sie die Sachen, teilweise sogar begeistert. Sie ist zu einer vorbildlich organisierten, eigenständigen Bildungsarbeiterin geworden, die es schafft, alle verlangten Inhalte pünktlich in die Clowd zu laden oder ihren Eltern zum Einscannen in die Hand zu drücken: "Hier, schick das mal für mich an den Russischlehrer." so in der Art.
Diese Tochter war eigentlich diejenige, um die ich mir vorher die meisten Sorgen gemacht hatte. Deren ganzes Leben am extremsten weggebrochen ist. Aber nach eigener Aussage könnte die Sache wegen ihr noch bis Weihnachten weiter gehen. Ihr fehlt nix und niemand und sie genießt die persönliche Freiheit, die die Situation ihr gibt.
Die andere Tochter ist seit dem 16. März im Homeoffice und arbeitet dort, nach eigener Aussage, viel besser als im Großraumbüro ihrer Werbeagentur, wo man sich mit den Launen und Befindlichkeiten vieler Kolleginnen rumschlagen muss.
Auch sie kommt super klar mit der Situation.
Beide genießen auch ihre Freiheit und mittlerweile frage ich mich, ob sie es je schaffen werden, wieder in den Zustand vor Corona zurück zu kehren. Jeden Tag in die Schule? Jeden Tag ins Büro?

Ich hingegen fahre weiter ins Büro, schlage mich mit den Launen und Befindlichkeiten meiner Kollegen herum, da viel von meiner Arbeit an den Ort gebunden ist und finde das meistens auch sehr unterhaltsam. Mittlerweile fahre ich wieder drei- bis viermal nach Mitte. Heute zum zweiten Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weil es regnete. Dort trug quasi jeder bis auf ein zwei Ausnahmen Masken. Aber es war vergleichsweise voll. Ich merke, wie ich das belastend finde. So viele Leute. Wenig Abstand. Man kann von Fremden schließlich nicht an jeder Ecke Rücksicht verlangen und ist ja auch selbst oft genug nicht aufmerksam. Dann wieder denke ich, wie unrealistisch es sowieso ist, statistisch, dass ich mich jetzt in der Berliner S-Bahn mit Corona infiziere, aber das ist vermutlich auch irgendwie nicht der Punkt. Der Punkt ist für mich zu erleben, wie Menschen miteinander umgehen im öffentlichen Raum angesichts der Tatsache, dass wir das Glück hatten, nicht Madrid, Bergamo oder New York City zu sein. Bisher. Welche Schlüsse jeder einzelne für sich daraus zieht und wie sich das in der Art seines Auftretens im öffentlichen Raum niederschlägt.

In Carolin Emckes Journal las ich für die letzte Woche "Ich habe mich jetzt auf mindestens ein Jahr Ausnahmezustand eingestellt." Mir geht es genauso und mir geht es auch so, dass ich besser vom Ende her denken kann, als Tag für Tag. Das hilft mir beim Planen und dabei, eine unsägliche Ruhe in dieser Situation zu entwickeln. Ungeduld habe ich noch so gut wie nicht empfunden. Dabei helfen natürlich die entspannten Töchter, siehe oben. Wären sie in einer anderen Situation, äußerlich oder innerlich, dann ginge es auch mir anders.
Ich sprach vor ein paar Wochen mit einer Kollegin, die ständig ihren Urlaub umbucht, weil sie immer denkt, dass die Reisebeschränkungen für Spanien sicher bald gelockert werden müssen. Nachdem der Osterurlaub ausgefallen ist, hat sie nun bereits für den Sommer und für den Herbst Lanzarote gebucht. Das könnte ich nicht. Das würde mich sowas von stressen.
Ich möchte im Sommer zu meinem Bruder und meiner Schwägerin, das ist in Deutschland, ich denke, das ist realistisch, dass ich im Sommer meine Familie sehen kann. Aber womöglich muss dann gerade einer von uns in Quarantäne oder wohnt in einem neuen Epizentrum. Weiß mans? Dann wäre selbst das ein perfider Griff nach den Sternen und würde uns verwehrt. Also werde ich die Zugfahrt selbstverständlich erst kurz vorher buchen (hatte ich erwähnt, dass ich gerade in diesem Jahr entschlossen war, ganz Europa per Bahn zu erkunden, im Februar hatte ich ja bereits mit Sizilien begonnen und dass es das erste Jahr ist, in dem ich stolze Besitzerin einer Bahncard bin? nein, tja, jetzt wisst ihrs 😒)und wissen, dass es immer ein Restrisiko bleibt. Auch hinsichtlich der Rückreise: womöglich komme ich dort nicht mehr weg. Gut, er hat einen Garten mit Swimming Pool, twist my arm, wie meine Freundin in USA immer zu sagen pflegte. Die Bundesregierung wird mich nicht aus Nordrhein Westfalen ausfliegen. Werde ich mich also dann fügen und ein paar Monate am Pool rum liegen müssen. 🏊

Wegen meiner Lektüre noch der folgende Hinweis: Nachdem ich also begeistert in Wölfe abgetaucht war, ging es am nächsten Tag damit wieder nicht mehr weiter und jetzt lese ich doch Amos Oz, Der dritte Zustand, das von einem Kritiker sein nervigstes, anstrengendstes Buch genannt wurde. Keine Ahnung, ich kenne bisher nur Eine Geschichte von Liebe und Finsternis und dabei habe ich Rotz und Wasser geheult und so viel gelernt wie bei wenigen Büchern sonst, über Israel, über Palästine, die Entstehung Israels, über Menschen so im allgemeinen. Der dritte Zustand ist ganz ganz anders, der Hauptcharakter Fima ist in der Tat ein nerviger Mensch, den ich manchmal schlagen möchte. Aber er ist auch so herrlich phlegmatisch, gleichzeitig informiert, rechthaberisch, vergesslich, verpeilt, ich bin jetzt auf Seite 80 und er ist mir ans Herz gewachsen. Und wie heißt es so passend auf der Seite des Verlags: "jeder zweite Typ ist ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident, kurz: ein Irrenhaus."
Erinnert mich irgendwie an meinen heutigen Tag. Bezüglich der Coronasituation habe ich eigentlich auch ständig das Gefühl, mit Propheten und Ministerpräsidenten konfrontiert zu sein, von denen jeder einzelne so genau Bescheid über die Situation weiß, dass ich manchmal leise (oder auch laut) weinen möchte. Meistens beiße ich mir die Zunge ab, weil ich zu dem Wirrwarr an Überzeugungen zwar mehrere Kilogramm beitragen könnte, aber dank meiner buddhistischen Praxis weiß, dass es eitel ist, selbstverliebt, Ego ohne Ende, wenn man denkt, man wüsste die Wahrheit. Alles verändert sich. Ständig. Jeden Augenblick. Also husch husch zurück auf mein Kissen und weiter das Ego abbauen, bevor es mir wieder in die Quere kommt und ich doch noch eine Meinung ins Universum posaune.

Weil ich oft an all die Frauen und Kinder denken muss, die in dieser Situation der immer noch bestehenden Ausgangssperre gewalttätigen Partnern ausgeliefert sind und ich mich frage, wie wir das irgendwann aufarbeiten wollen, ohne vor Scham, sie derart ausgeliefert zu haben, im Boden versinken zu werden, möchte ich Euch hier noch ein neues Buch empfehlen, das gerade erst erschienen ist. Geschrieben hat es eine quasi Nachbarin von mir, Christina Clemm Akteneinsicht Ich weiß noch nicht, wann ich die Nerven haben werde, es zu lesen. Aber es ist vielleicht das wichtigste Buch, das in den letzten Wochen und Monaten erschienen ist. Es sterben sowieso in Deutschland ständig Frauen durch ihre Partner (im Schnitt vielleicht 3 pro Woche!). In der nationalen Presse wird ein solcher Fall normalerweise nur erwähnt, wenn der Täter nicht Deutscher ist und oft genug läuft es unter der Headline: Familiendrama. Die Zeit hat die 122 Frauenmorde durch ihre Partner des Jahres 2018 personalisiert, indem sie die Geschichten recherchiert, der Toten einen Ort und ihre Leidensgeschichte hinzugefügt hat. Nach der Lektüre konnte ich mehrere Nächte nicht schlafen. Vergesst die Frauen und Kinder nicht, die in solchen Zuhausen gerade ein Martyrium erleben! Und beschnüffelt ruhig Eure Nachbarn. Wenn ihr das Gefühl habt, ein solches Martyrium spielt sich gerade nebenan ab, schaut nicht weg.

Gute Nacht, schlaft gut und may the force be with you 💪

(c) Susanne Becker

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