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Corona Tagebuch (54)

Heute möchte ich euch einen Ausschnitt aus dem Gedicht "Kindness" von Naomi Shihab Nye schenken.
Vorerst wird dies mein letzter Tagebucheintrag, denn die Situation in den letzten Tagen hat sich doch rasant geändert und obwohl ich denke, dass wir noch lange mit Corona zu tun haben werden, sitzen wir wohl zukünftig nicht mehr soviel zuhause. Wir führen nicht mehr Tagebuch. Wir müssen auch kein Tagebuch mehr lesen. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber auch mein Arbeitspensum hat in den letzten Tagen rasant zugelegt.

Die Tochter soll sogar bald zurück in die Schule. Nur in kleinen Gruppen und nur einmal die Woche. Aber das reicht ihr auch. Ist ihr eigentlich fast zuviel.

Before you learn the tender gravity of kindness
you must travel where the white Indian in a white poncho
lies dead by the side of the road.
You must see how this could be you, how he too was someone
who journeyed through the night with plans
and the simple breath that kept him alive.

Before you know kindness as the deepest thing inside,
you must know sorrow as the other deepest thing.
You must wake up with sorrow.
You must speak to it till your voice
catches the thread of all sorrows
and you see the size of the cloth.
Then it is only kindness that ties your shoes
and sends you out into the day to gaze at bread,
only kindness that raises its head
from the crowd of the world to say
It is I you have been looking for,
and then goes with you everywhere
like a shadow or a friend.

Kindness bedeutet ja viel mehr als Freundlichkeit. Es ist eine tiefe Güte, Empathie, eine Liebe für die Menschen.

Bevor du die zärtliche Schwere von Güte kennenlernst,
musst du dorthin reisen, wo der Indianer in seinem weißen Poncho
tot am Straßenrand liegt.
Du musst verstehen, wie sehr er du sein könnte, wie sehr auch er jemand war
der durch die Nacht reiste mit seinen Plänen
und dem simplen Atem der ihn lebendig hielt.

Bevor du Güte als das tiefste in dir erkennst,
musst du Sorge als das andere tiefste in dir erkennen.
Du musst mit Sorge aufwachen.
Du musst zu ihr sprechen bis deine Stimme
die Fäden aller Sorgen einfängt
und du die Größe des Materials erkennst.
Dann ist es nur noch Güte, die deine Schuhe bindet
und dich in den Tag sendet, wo du das Brot anschaust,
nur Güte, die ihren Kopf hebt
von der Menschenmenge dieser Welt und sie sagt,
Es war immer ich, die du gesucht hast,
und dann geht sie überallhin mit dir,
wie ein Schatten oder ein Freund.

Als die Schulschließung begann, das war für mich der Startschuss in eine neue Zeit. Innerlich.
Irgendwie dachte ich damals, diese Zeit könnte kathartisch sein. Aber das Ende dieser Phase, das kein wirkliches Ende ist, und ich bin mir nicht sicher, inwieweit es durch Vernunft und gute Gründe herbei geführt wurde oder vielmehr durch den Druck jener, die eine Lobby haben und durch die Ungeduld, vielleicht auch durch die Angst vor denen, die irrlichternd durch die Straßen ziehen und ihre Freiheit zurück verlangen.
Das Ende ist nicht herbei geführt worden wegen der Kinder, die zuhause unter gewalttätigen Eltern leiden oder wegen der Frauen, die von ihren Männern noch unbeobachteter verprügelt werden können, auch nicht aus Mitgefühl für die Hinterbliebenen der Toten oder die Kranken. Zumindest fühlt es sich für mich nicht so an.

Heute postete ein Bekannter von mir, der Musiker ist und in Holland lebt, dass er zur Zeit in einem Pflegeheim arbeitet, auf der Station für Coronafälle. Fast die Hälfte der alten Menschen sind gestorben. Mehr als die Hälfte seiner Kollegen sind infiziert. Einige von ihnen waren sehr krank.
Gestern traf ich eine Bekannte, die mir erzählte, dass zwei ihrer Großeltern an Corona verstorben sind.

Ich frage mich, was mit der Angst ist.

Ich freue mich über die Lockerungen. Vor allem freue ich mich für all jene, für die die Einschränkungen schrecklich waren, die darunter gelitten haben. Keine Frage. Aber ich hätte mir gewünscht, dass in dem Stillstand mehr Solidarität und weniger Spaltung entstanden wäre. Heute nehme ich mehr Trennung und weniger Zusammenhalt wahr als noch Mitte März. Es fing mit dem Klopapier an. Es hörte aber damit nicht auf. Die Egos hoben die Köpfe, nicht die Güte.

Heute hörte ich plötzlich ein Flugzeug. Ich war vollkommen überrascht. Ein Flugzeug.

Ich habe die Serie über Bill Gates beendet und muss gestehen, ich mag ihn nicht besonders. Kindness kommt mir wieder in den Kopf und ich habe sie bei ihm vermisst, obwohl er bestimmt ein netter Typ ist, ein Mensch, der wirklich Gutes will. Aber er ist so technokratisch, er sieht die Dinge nicht, die unter dem Material sich verbergen. Die Gefühle, die Liebe, die Angst. Er möchte technische Lösungen für jedes Problem um jeden Preis. Die Serie ist wahnsinnig interessant, weil sie einem diese Erkenntnis ermöglicht, ohne ihn als Monster darzustellen. Sie würde einem auch eine andere Sicht auf ihn ermöglichen. Sie ist ihm zugewandt, aber nicht von ihm geblendet. Wirklich sehr empfehlenswert.

Ich verlasse diese Phase neugierig. Weiterhin. Ich bin gespannt, wie sich alles entwickeln wird. Ich hoffe sehr, dass alle gesund und gut aus dieser Zeit heraus kommen.

Meine Oma im Fenster, wünschend, die Vernunft würde einmal in diesem Irrenhaus die Oberhand gewinnen
Foto (c) Anne-Marie Lillyman


Ich danke Euch sehr für Euer Interesse, für Euer Lesen, für Eure freundlichen Worte, Eure Liebe, Eure Feedbacks, Eure Informationen, für alles.

Bleibt gesund, may the force be with you 💪 forever 💗

(c) Susanne Becker



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