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Corona Tagebuch (60)

 There is transformative magic in accepting things as they are.   Lama Surya Das 

Wenn es so weiter geht, schaffe ich irgendwann vielleicht noch Corona Tagebuch Teil 2000 oder so. 

Ich werde also wieder zuhause bleiben und mich durch meinen Winterschlaf lesen und wenn ich ehrlich bin, habe ich mir einen solchen völlig aktivitätslosen Winter schon immer gewünscht. Einmal sich ganz legitim auf sein Sofa verziehen, mit dem Stapel Bücher neben sich und man darf nirgendwo hin. 

Ich arbeite an einer Bildungseinrichtung und wir haben es tatsächlich geschafft, ohne jeden Ausbruch von August bis jetzt, unter Einhaltung aller möglichen und unmöglichen, strikten Regeln, Unterricht vor Ort anzubieten. 

Es war sehr anstrengend und sehr lohnenswert. Abstand halten, Masken tragen, manche Angebote über Zoom, Gruppen teilen, Desinfektionsmittel in allen Räumen, Anwesenheitslisten lückenlos führen, das ganze Programm. Aber es war die Sache wert. Die Menschen bei uns waren heute alle so dankbar und erfüllt. Begegnung ist so unendlich wichtig. Sie geht auch mit Maske und Abstand. Da ist immer noch sehr viel Nähe möglich. Ich kann es nicht fassen, dass ich nicht ein einziges Mal in Quarantäne musste. Auch das empfinde ich als Glück!

Wir stehen vor dem nächsten harten Lockdown. Deshalb dachte ich heute, ich glaube, ich mache mit dem Corona Tagebuch jetzt nochmal weiter. Mindestens der nächste Monat wird wieder einer des Alleinseins, der Isolation, des Lesens, des Zuhauseseins sein, und also hoffe ich, auch wieder Zeit zu finden, um darüber zu schreiben. Mal sehen, wie lange ich durchhalte. 

Die Monate seit den Sommerferien waren unglaublich anstrengend, weil man ja täglich mit dem Anruf rechnete, entweder auf der Arbeit oder an der Schule der Tochter, dass es einen Ausbruch gibt und alles sofort, auf der Stelle, mit quietschenden Bremsen, angehalten werden muss. Als der erste Fall bei uns auftauchte, waren wir zunächst wie erstarrt. Ich weiß noch, wie mir das Blut zunächst aus dem Kopf heraus schoss und dann wieder hinein strömte und ich absolut nicht wusste, was ich als erstes tun sollte? Alles desinfizieren? Alle in Quarantäne schicken? Wen informieren? Wo anrufen?

Es lief dann sehr glimpflich ab. Wegen unserer strikten Regeln gab es praktisch keine Kontaktpersonen 1. Grades und es gab keinen weiteren Fall in dieser Gruppe. 

Man erlernt auch darin eine Routine, mit Coronafällen umzugehen. Oder damit, dass das Kind samt ganzer Klasse in Quarantäne muss und zwei Wochen Onlineunterricht hat. 

Es ist schwer, eine Routine darin zu erlangen, dass man immer, jede Sekunde, damit rechnen muss, dass alles sofort anhält. Es geht leichter, wenn man sich daran erinnert, dass das eigentlich im Leben immer so ist und immer schon so gewesen ist. Aber ich glaube, es zehrt den Menschen am meisten an den Nerven, dass diese Ungewissheit nun so prall vor unseren Leben stand, zunächst, und sich dann in ihnen breit gemacht hat, ohne jede Möglichkeit, sie zu verleugnen. Na gut, man kann Corona verleugnen, oder die Gefahr, die davon ausgeht. Man kann Frau Merkel für alles verantwortlich machen,  oder die Wissenschaft oder Prof. Drosten. So, genau so erkläre ich mir auch, dass dies so häufig geschieht. Viele suchen weiter nach einer Möglichkeit, die Unsicherheit zu verleugnen. 

Aber wenn man genau hinschaut, ist das unsere Situation gerade. Alles ist vollkommen unsicher. Es kann sie eigentlich niemand erleichtern. Das können wir nur selbst, indem wir versuchen, zu akzeptieren, dass es so ist. Wir hatten einen guten Sommer, verglichen mit zum Beispiel meinen Freunden in USA, die keine Unterbrechung hatten, die seit März teilweise in selbst auferlegter Quarantäne leben, weil man sich dort auf nichts verlassen kann. Wir konnten reisen. Wir konnten uns frei bewegen. Wir konnten ein relativ normales Leben führen. Jetzt ist damit erstmal wieder Schluss und das kommt ja nicht aus heiterem Himmel.

Wir hatten einen wunderbaren Sommer verglichen mit den Flüchtlingen auf Moria oder all den Menschen, die in USA als Folge dieser Pandemie ihre Jobs und ihre Wohnungen verloren haben.

Wir hatten ein ganz großartiges Jahr verglichen mit all den Menschen, die vorher schon nichts hatten und jetzt noch weniger haben.

Wir hatten auch ein großartiges Jahr verglichen mit all jenen, die an Corona gestorben sind oder die geliebte Menschen an diese Krankheit verloren haben.

Es gibt so viele Gründe, dankbar zu sein.

Ich möchte sie nicht vergessen.

Aber ich möchte auch nicht die Menschen vergessen, die aufgrund dieser Coronakrise einsam sind, verzweifelt, depressiv, suizidgefährdet. Ich weiß nicht, ob wir als Gesellschaft auf diese Menschen gerade wirklich genug achten. Lieber einmal zu viel seine Hilfe anbieten!

Heute schenkte mir einer meiner allerliebsten Kollegen diesen Gedichtauszug von Wislawa Szymborska, handgeschrieben in den Farben des Regenbogens, ein Gruß zum Advent, zum Lockdown, zum Abschied:

"Ich bevorzuge es für alle Fälle Nadel und Faden griffbereit zu haben.

Ich ziehe es vor, nicht zu fragen, wie lange noch und wann.

Ich ziehe es vor, sogar die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Existenz ihren eigenen Daseinsgrund hat."

Denn in zwei Tagen fliegt er in seine alte Heimat, Südafrika. Und in diesen Zeiten ist es immer sonderbar, sich von Menschen zu verabschieden. Man weiß einfach nicht, was als nächstes geschehen wird. Wird er tatsächlich, wie geplant, am 27. Januar wieder ins Büro kommen?

Ich werde dann nur noch einen Monat dort arbeiten. Denn mitten in dieser Pandemie, in diesem vollkommen verwirrten Jahr, habe ich einen neuen Job gefunden, ohne zu suchen, und es ist für mich wie die Erfüllung eines Traums, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn träume.

Ich erzähle ein andermal mehr darüber. Aber nach siebzehn Jahren an meiner jetzigen Arbeitsstelle ist dies ein großer Schritt und einer, der mich sehr beglückt und gleichzeitig mit Trauer erfüllt. 

Ich ziehe es vor, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Existenz ihren eigenen Daseinsgrund hat. Ja! Absolut. Ich ziehe sogar die Möglichkeit in Betracht, dass wir Menschen bei der Erörterung dieses Grundes nicht die unglaublich große Rolle spielen, die wir uns manchmal anmaßen oder zumuten. 

Ich lese gerade das Buch Zuhause von Daniel Schreiber. Es hat den Untertitel "Die Suche nach dem Ort an dem wir leben wollen" und handelt davon, klar, der Titel verbirgt es nicht gerade, was unser Zuhause wohl ist. Ein Ort? Ein innerer Zustand? Die Geschichten aus der Vergangenheit? Der Ort der Kindheit?

In den Kapiteln wandert Schreiber durch all diese Themenkomplexe und erzählt sehr persönlich von seinem eigenen Leben, seiner Suche und Sehnsucht nach einem Zuhause. Gleichzeitig stellt er der Leserin viele andere Schreibende und Philosophen vor, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Er setzt sich persönlich und theoretisch mit dem Konzept "Zuhause" auseinander. Die Literaturliste am Ende des Buches ist eine weitere Quelle der Inspiration, so wie das ganze Buch. Ich denke seit Tagen darüber nach, was mein Zuhause ist. In den letzten Jahren hat sich in meinem Leben viel verändert und ich lebe nicht mehr in der Wohnung, in der ich zwanzig Jahre mit meiner Familie lebte. Ich werde meinen Job verlassen, der ebenfalls viele Jahre eine Art Zuhause für mich war. Obwohl das Jahr so langsam war, so fast ereignislos, im Außen, im Schock und Stillstand der Pandemie, ist für mich persönlich sehr viel geschehen und ich habe das Gefühl, kein Zuhause zu haben gerade. Aber das ist ein tolles Gefühl. Weil alles möglich zu sein scheint.  

Auch wurde mir noch einmal deutlich, wie sehr ich eine innere Haltung als Zuhause empfinde und nicht etwas im Außen. Immer schon konnte ich mir vorstellen, an den verschiedensten Orten sofort meine Zelte aufzuschlagen. Ich würde nicht davon ausgehen, dass ich den Rest meines Lebens in Berlin verbringe. Mein Zuhause war vielleicht immer schon auch eine gewisse Abenteuerlust. Neue Orte, die noch keine Geschichte mit mir haben, wo ich niemanden kenne, wo ich keine altbekannten Pfade gehen kann, sie üben auf mich eine große Faszination aus. Es gab davon immer solche, wo ich schon beim Aussteigen aus dem Zug oder Flugzeug wusste: Hier könnte ich sofort leben.

Mein Zuhause ist vielleicht am ehesten der kreative Raum, in welchem ich lese und schreibe und denke, Collagen mache, mich stundenlang herum treibe. Er ist ein sehr positiver Raum, voller Licht und Energie. Es gibt darin keine Grenzen und alles ist möglich. Es ist ein wilder Raum, voller Magie. Ich bin darin ganz ich selbst und fühle mich vollkommen geborgen. Ja, das ist mein Zuhause. Denke ich.

Was ist euer Zuhause? Wisst ihr es?

Treptow, Arena, Winterspaziergang



Hier noch ein kleines Stück Unterhaltung und/ oder Inspiration: Die Morgenroutinen von Künstlern wie Andy Warhol, Louise Bourgoise, Georgia O'Keeffe und vielen anderen. Wenn man jetzt so viel zu Hause ist, kann man ja eventuell auch eine entwickeln. Oder man hat schon eine. Dann würde ich supergerne darüber mehr erfahren. Schreibt mir!

Ich wünsche euch einen wunderbaren Abend. Zuhause. Mit vielleicht einem guten Film, einem Glas Wein, einem Buch. Haltet durch. Es wird wieder gut werden. Ich habe daran nicht den geringsten Zweifel. 💪💙


(c) Susanne Becker




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