"Manchmal können wir etwas nur dadurch klären, dass wir uns dem stellen, was wir nicht wissen."
Pina Bausch
Erster Tag des zweiten Lockdowns. Ich war circa eine Stunde draußen, um in meinem Bioladen einzukaufen. Es war so voll da draußen auf den Straßen und im Görlitzer Park, als hätte jemand gerufen: Lockdown, alles raus! Es sind tausend Leute an einem Tag gestorben an Corona, geht raus, bevor sie uns ganz einsperren! Alle waren natürlich tierisch beschäftigt, mit Bällen, Frisbeescheiben, Rollerblades, Hunden, Einkaufstaschen....Riesiger Unterschied zum ersten Lockdown im März, als die Straßen wirklich wie leer gefegt waren.
Meine Corona App macht mich langsam wahnsinnig, denn in den letzten Tagen kommen immer mehr Kontakte hinzu, die zwar bislang ungefährlich also grün sind, aber es macht mir deutlich, wie viele Menschen diese App offensichtlich nutzen und wie viele Kontakte ich habe, obwohl ich quasi (gefühlt) nichts mache.
Gut, bis gestern bin ich arbeiten gegangen. Dort gab es auch noch einen weiteren Coronafall, aber ich hatte zu dieser Person null Kontakt. Ich gehe einkaufen, aber ich bummele jetzt nicht. Ich habe zackzack meine Weihnachtseinkäufe erledigt und war im Grunde gestern damit fertig. Ich war mal bei Aldi, mal bei Edeka, einmal bei Kauf dich glücklich, mehrmals bei meinem Biobäcker, wo ich je alleine im Laden war. Ich bin 2 x S-Bahn gefahren, jeweils 2 Stationen. Ansonsten Fahrrad, durch den Wald stapfen, allein durch die Gegend latschen, (gut, letzte Woche habe ich tatsächlich insgesamt drei Freunde getroffen, zum ersten Mal seit einem Monat Verabredungen, aber keiner davon hat ein positives Testergebnis, das wüsste ich ja mittlerweile) telefonieren, whatsappen, mailen, facetimen, thats my life, baby.... als heute innerhalb von 24 Stunden meine grünen Kontakte von 2 auf 6 hochschnellten, war ich schon geschockt. Weil es mir noch einmal bewusst gemacht hat, wie vielen Leuten ich begegne, obwohl ich denke, ich mache nix.
Eine gute Seite des Winters, die Sonnenuntergänge |
Ich lese jetzt Outline von Rachel Cusk und bin darin noch ganz am Anfang, aber ich liebe es bereits. Eine Schriftstellerin ist in Athen, um dort einen Schreibkurs zu geben und erzählt uns die Geschichten der Menschen, denen sie begegnet und die ihr diese Geschichten erzählen. Sie saugt sie auf, als wäre sie ein Schwamm. Offensichtlich ist sie eine begnadete Zuhörerin und virtuose Fragenstellerin. Beim Lesen wird mir bewusst, wie sehr ich selbst rede anstatt zuzuhören und Fragen zu stellen und dass ich diesbezüglich schonmal mein erstes Ziel für 2021 habe: zuhören und Fragen stellen, nix erzählen. Die Geschichten, die Cusk erzählt, handeln von Liebe und Verlust. Dem Sinn des Lebens? Möglicherweise.
Ich mache gerade ein Meditationsprogramm. Es ist wie ein Kurs, aber online, und er dauert insgesamt zwölf Wochen, ich bin schon bei Woche zehn. Ich hatte ihn zu Beginn des Herbstes im Oktober, begonnen, als mir klar wurde, dass es jetzt wettermäßig bergab geht und immer dunkler werden wird. Diese Zeit fällt mir regelmäßig schwer, auch ohne Corona. Ich mag Kälte nicht. Ich mag Dunkelheit nicht. Im Grunde, wenn ich ehrlich bin, mag ich Kerzenlicht auch nicht besonders. Ich trinke keinen Tee und finde es absolut anstrengend, mich vor jedem Rausgehen eine Viertelstunde anziehen zu müssen. Ich finde den späten Herbst und den Winter grundsätzlich anstrengend und obwohl ich sogar Geburtstag in dieser Zeit habe, ist es nicht meine Jahreszeit.
Also habe ich schon öfter irgendwelche Kurse in dieser Phase gemacht, um sie zu nutzen und auch, um sie schneller vorüber gehen zu lassen. Fast unbemerkt. Och, der Kurs ist ja vorbei und es ist auch schon März! Wie ging das denn so schnell? Es ist schon so, dass diese Zeit natürlich eine Art umgekehrter Frühling ist in dem Sinne, dass die Innenwelten in diesen Monaten erblühen. Man hat viel mehr Zeit, still zu sein und in sich hinein zu horchen. So waren die Kurse, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, eigentlich immer Meditationskurse. Ich wollte diese Kunst besser durchdringen, mehr darüber lernen und auch einfach besser darin werden.
Der Kurs besteht aus Talks von Sharon Salzberg und Joseph Goldstein, aus geführten Meditationen, aus Aufgaben und kurzen Texten, jede Woche zu einem anderen Thema, aufeinander aufbauend im Schweregrad. Die Aufgaben sollen einen meistens dazu anregen, über seine Erfahrungen zu schreiben. Wen es interessiert, diesen Kurs gibt es auf der Seite Soundstrue. Er kostet allerdings Geld. Aber wenn man ihn gekauft hat, gehört er einem für immer. Ich mache ihn jetzt schon zum zweiten Mal. Man entdeckt immer wieder neue Lektionen in sich. Er ist nicht billiger, aber billiger, als nach USA zu einem Kurs der beiden zu fliegen :-)
Im Moment bin ich bei der Lektion Big Mind, wo es darum geht, eine Verbindung herzustellen zu seinem reinen, klaren Bewusstsein, das von keinen Gefühlen, Gedanken oder ähnlichem durcheinander gewirbelt wird, sondern diese einfach wahrnimmt als vorübergehende Phänomene. Heute morgen gab es eine geführte Meditation zu diesem Thema. Draußen hämmerten die Bauarbeiter und interessanterweise fiel es mir nicht schwer, diesen Lärm als leuchtende Sterne im riesigen, ungetrübten Universum meines Bewusstseins wahrzunehmen. Das ist für mich ziemlich bemerkenswert, denn ich war jahrelang Meisterin darin, mich durch Geräusche komplett aus der Fassung bringen zu lassen. Ein hämmernder Nachbar, und der Tag war für mich gelaufen.
Ich merkte, wie ich positive Gefühle oder Gedanken eigentlich nicht vorüberziehen lassen wollte, obwohl Goldstein sagte, dass man es solle, weil ich es begrüße, dass ich sie habe und ich möchte, dass sie mich ausmachen. Sobald Wut oder Angst hoch kamen, wollte ich sie sehr gerne als kleine unbedeutende Sterne sehen, die zwar in meinem Bewusstsein einen Platz haben, es aber nicht ausmachen und huschhusch vorüberziehen.
Zum Beispiel der Gedanke heute, dass ich unglaublich naiv war im März und lange darüber hinaus, zu glauben, Corona sei irgendwann vorüber und wir würden wieder leben wie zuvor. Heute dachte ich plötzlich, dass es vielleicht doch wahr ist, was viele schon damals unkten, dass dieser Virus unser Leben komplett verändern wird, und dass es nie wieder ein Zurück zu dem Davor geben wird. Der 16. März 2019 stellt eventuell eine Zäsur dar, so wie andere wichtige Daten in der Geschichte von uns Menschen. Diesen Gedanken finde ich extrem beunruhigend. Vor allen Dingen, weil ich Angst habe, dass die Folge dieses Datums peu à peu eine Zersetzung unserer demokratischen und sehr liberalen Gesellschaft mit sich bringen wird. Es war daher wunderbar, ihn loszulassen und als kleinen Stern, leuchtend aber unbedeutend, in meinem Bewusstsein, das groß und unendlich ist wie das ganze Universum, seine Bahnen ziehen zu lassen. Akzeptieren, dass er immer wieder kommen wird, so wie die Freude, und die Sehnsucht, wie die Wut und die Angst, die Unruhe, die schmerzenden Knie, der Bauarbeiter mit der Kreissäge oben auf dem ausgebauten Dachstuhl....Er kann meinem Bewusstsein, das ewig ist und wunderbar, nichts anhaben.
Spotify hat mir meine Playlist der meistgehörten 100 Songs 2020 zur Verfügung gestellt. Ich muss sagen: toller Service! Und darunter war auch dieses Lied von Coldplay. Ich wusste gar nicht, dass ich es so oft gehört habe, aber ich finde, zu diesem Universum und den leuchtenden Sternen passt es natürlich wie die Faust aufs Auge, vor allem, weil es eine Zeit vor dem 16. März zeigt. Ich liebe das Video! Keine Masken, Menschenaufläufe, die Oberarme von Chris Martin (sorry, just sayin') PARTY!!! Ich könnte es mir immer immer wieder anschauen und mir vorstellen, dass ich mittendrin bin und ekstatisch tanze und mitsinge. Karneval. Aber ohne Alaaf halt! Ich bin so ready dafür.
Der nächste Film, den ich mir anschaue, wird Pina sein, von Wim Wenders. Ein Film für Pina Bausch, der ich mich nicht nur verbunden fühle, weil ich in Wuppertal immer umsteigen musste, wenn ich von Berlin zu meiner Mutter nach Opladen fuhr. Sondern auch so. Weil sie eine geniale Frau war, eine Meisterin und das Lernen von ihr wird niemals enden.
Haltet durch. Alles wird irgendwann irgendwie wunderbar werden. Daran hege ich keinen Zweifel.
(c) Susanne Becker
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