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Corona Tagebuch (64)

Arena, Treptow

Everything needs to be unmasked, right now.... aus: Summer von Ali Smith

Verrückt, heute wollte ich meine Mutter anrufen. Nach dem Bruchteil einer Sekunde eigentlich nur, aber dieser Bruchteil war unglaublich real und der Gedanke an meine Mutter war vollkommen ungetrübt, fiel mir ein, dass sie seit fast sieben Jahren tot ist. Es traf mich wie ein überraschender Schlag. Ich hatte diese simple Tatsache für den Bruchteil einer Sekunde vollkommen vergessen und es war kurz, als wäre ich eine andere, als würde durch diese Möglichkeit, eine so simple und doch lebenswichtige Tatsache vollkommen vergessen zu können, die Tür zu einer Unzahl weiterer Möglichkeiten geöffnet, die sich alle in meinem Bewusstsein befinden und die alle ich sind.

Eine Kollegin sagte mir heute, dass man Corona nicht bekommt, wenn man nicht so hysterisch daran denkt. Ich sagte: "Nun, das glaube ich ehrlich gesagt nicht."

Sie darauf: "Oh doch."

Ich darauf zu mir selbst: "Wow! Irre! Wir sollten diese Neuigkeit,  diese Tatsache ganz schnell verbreiten, weil dann können wir das Virus ja sofort eindämmen." Haha. Dass der Drosten das nicht weiß und all die anderen. Kopfschüttel!


Ich habe den Weihnachtsbaum rein geholt. Er stand jetzt seit zwei Wochen auf dem Balkon aber heute regnet es sehr stark und ich wollte nicht, dass er vollkommen einsaut. Jetzt steht er, grün und klein und unglaublich schief, auf einem Höckerchen, auf dem meine Großmutter in ihrem Wohnzimmer eine Zimmerpflanze stehen hatte. Er steht in meinem Zimmer, das Wohnzimmer ist und Arbeitszimmer und Schlafzimmer, wenn meine Tochter bei mir ist, Studio, wenn wir beide malen oder schreiben oder kleben, Büro, wenn ich im Homeoffice bin, Schulstube, wenn sie im Zoom/Onlineunterricht ist, Yogaraum, Meditationsraum undsoweiter. Dieser Raum ist einer der besten Räume, in denen ich je gelebt habe. Keine Ahnung warum, aber die Energie ist einfach toll darin. Ich glaube, ich hatte noch keine miese Minute in diesem Raum. Selbst wenn ich traurig bin, fühlt es sich in diesem Raum gut an. Und ich habe in vielen Räumen gelebt. Kennt ihr das, dass ihr die Wohnungen und Häuser Eures Lebens Revue passieren lasst?

All die Schreibtische, an denen man saß, all die Fenster, aus denen heraus man von seiner Arbeit sich davon träumte, all die Betten, in denen man geschlafen hat, all die Küchen, in denen man Essen zubereitet hat, die Duschkabinen und Badewannen. Am wichtigsten sind mir aber immer die Schreibtische gewesen. Als ich in Amerika lebte, hatte ich keinen Schreibtisch und meine Mitbewohnerin Greta baute mir einen. Er war sehr schmal und passte genau in die Lücke zwischen Fenster und Bett. Ich saß daran täglich und schrieb an einem Manuskript, das ich Blaue Wunder nannte. Dort schnitt ich mir auch die Haare ganz kurz und färbte sie orange. Es sah nicht so gut aus. Aber es war eine verrückte Zeit.

Ich lese gerade das erste Buch, das man wohl als Coronavirusroman bezeichnen könnte. Es ist der vierte Band der Jahreszeitenbücher von Ali Smith, Summer, und es ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Winter Herbst und Frühling gibt es bereits bei Luchterhand, aber Sommer ist noch nicht einmal angekündigt. Über Frühling hatte ich auch einmal hier im Blog geschrieben. Die vier Bücher sind zwar unabhängige Romane, funktionieren aber wie eine Collage, eine miteinander verbundene vierteilige Schilderung unserer Situation. 

Das Buch Summer ist verstörend, denn es spielt so sehr im Hier und Jetzt, dass man es kaum glauben kann und es kommt einem dadurch unerträglich nah. Mir haben die anderen drei Bücher ausnehmend gut gefallen. Die Verortung unserer Gegenwart in ein Netz aus kulturellen und künstlerischen Landschaften, ein Deutlichmachen dessen, wo wir als Menschen gerade stehen, in einem seelischen Raum. Das ist in diesem Fall genauso gut wie in den anderen, aber extrem verstörend, weil so nah, dass man es im Grunde beim Lesen kaum aushält. Ich lese immer abends im Bett und normalerweise nehme ich mir vor, ganz lange zu lesen und schlafe nach 2 Seiten ein. Hier aber lese ich sehr lange, bis ich irgendwann beschliesse, jetzt dann doch mal das Licht auszumachen, weil es ein Uhr nachts ist und dann kann ich nicht einschlafen, weil mir die Charaktere aus dem Buch, das Schildern von Folterszenen (aus dem Mittelalter und aber auch jetzt, bei der CIA oder in Computerspielen, die 13jährige spielen, wisst Ihr, was Eure Kinder treiben, wenn sie stundenlang, tagelang, wochenlang, lebenslang an ihren PCs rumhängen?) nicht aus dem Kopf gehen. Also, ich sehe schon, dass auch dieser vierte Band phantastisch ist und ich freue mich auf heute Abend, wenn ich endlich weiter lesen kann. 

Dies ist eine Zeit, in der man an all jene denkt, denen es schlechter geht als einem selbst. Deshalb möchte ich Euch von einer Frau erzählen, die mich schon lange immer wieder berührt hat mit ihrem heroischen Mut. Sie ist eine Märtyerin der heutigen Zeit, würde ich voller Pathos und ohne Angst davor sagen, und sie lebt im Iran. Dort hat sie eine Familie, zwei Kinder etwa im Alter meiner Kinder, sie arbeitet als Anwältin und verteidigt die Rechte all jener, die vom iranischen Regime zu Unrecht verfolgt werden, vor allen Dingen sind dies immer wieder Frauen. Sie tut dies, indem sie sich buchstabengetreu ans Gesetz hält. Aber das hat ihr nichts genützt. Seit 2010 war sie immer wieder im Gefängnis. Aktuell ist sie zu einer Haftstrafe von 38 1/2 Jahren und zu 148 Peitschenhieben verurteilt. Ihre Familie wird schikaniert und sie selbst kämpft vom Gefängnis aus, z.B. mit Hungerstreiks, gegen das Unrecht, das im Iran geschieht.  Sie hatte vor kurzem einen Hafturlaub, weil sie krank ist und sich im berüchtigten Teheraner Evin Gefängnis mit Corona infiziert hatte. (Hier Infos zur Situation in Gefängnissen im Iran von Amnesty International). Nun musste sie aber Anfang Dezember zurück in dieses Gefängnis. 

Es gibt einen Film über sie, Nasrin, den man hoffentlich bald in den Kinos wird sehen können. Hier noch ein paar Infos über sie auf der Seite der IGFM. Und hier die Seite für Nasrin bei Amnesty International, wo es einen vorgeschriebenen Brief gibt, den man an die iranische Botschaft und deren Vertreter bei der UN schicken kann, um sich für ihre sofortige Freilassung einzusetzen. Weihnachten halt. Briefe statt Postkarten. 


Bleibt gesund! Passt auf Euch auf und haltet Abstand. 💪💚

Nach Auskunft meiner Corona App habe ich übrigens durch strikte Einsamkeit meine ungefährlichen Kontakte wieder von 6 auf 0 runter gedrückt, innerhalb einer Woche. Erfolg in Zeiten von Corona = Niemanden treffen, Kontakte reduzieren. Ist irgendwie vollkommen verrückt.


(c) Susanne Becker 

Kommentare

  1. Ein so guter Text!
    Ja, all die Schreibtische...(hat mich am meisten ergriffen- und das mit der Anwältin!)
    Gruß von Sonja

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    1. Oh was für ein schöner Kommentar!! Ich danke Dir sehr. Herzliche Grüße und frohe Weihnachten Susanne

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