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Corona Tagebuch (11)

Gerade beginnt man sich so ein bisschen in diesem Alltag einzurichten, oder? Zumindest geht es mir so. Ich bin nur noch selten an meiner Arbeitsstelle, arbeite viel von zuhause aus und mache tausend Dinge, zu denen ich sonst nicht komme. Ich habe meinen Chef schon vorgewarnt, dass ich nach dieser Coronakrise vermutlich für immer für einen Job im Büro verdorben bin. Ich habe das Gefühl, das geht gerade vielen so.
Fast jeden Tag zum Beispiel unternehme ich einen langen Spaziergang mit der jüngsten Tochter, die ihre Kamera dabei hat und für ein Schulprojekt Berlin fotografiert.
Heute waren wir in Friedrichshain.
Wir sind über das RAW Gelände geschlendert, das fast ganz leer war.

auf dem RAW Gelände


Wieder sah man, wie gestern, hauptsächlich Mütter mit Kindern, Einzelspaziergänger oder Zweiergruppen.
In der Buchhandlung lesen & lesen lassen, die heute zum letzten Mal ihre Türen geöffnet hatte, haben wir vier Bücher gekauft.
Mir sind Sophie Calle Das Adressbuch und Nadja Spiegelman Was nie geschehen ist in die Tasche gesprungen.
Als wir auf der Kopernikusstraße unterwegs waren, hörten wir plötzlich jemanden sehr laut schreien. Es war ein Mann, der ein schwarzes Tutu trug und ein offenes schwarzes Hemd. Er schrie wutentbrannt die Luft an, kam aus einer Einfahrt ganz in unserer Nähe und attackierte plötzlich ein Taxi. Dieses fuhr mit Vollgas davon. Der Mann verfolgte es in einem irren Tempo, sein Tutu flog, er schrie Beleidigungen. Meine Tochter und ich bogen schnell ab, um ihm nicht in die Quere zu kommen.
An der nächsten Kreuzung fuhren plötzlich aus verschiedenen Richtungen fünf Polizeiwagen mit Blaulicht vor ein Haus. Die Polizisten liefen hinein. Wir fragten uns, ob der Mann mit dem Tutu dort war. Berlin ist eine verrückte Stadt und wenn die Straßen leer werden, bleiben die, die sonst im Strom der Massen untergehen, beinahe allein zurück. Sie schreien und laufen hinter Autos her.

Was ist, wenn Menschen alles verlieren?
In unserer Welt verlieren eigentlich ständig Menschen alles. Bislang haben wir das nur nicht so direkt bemerkt. Dieses Verlieren rückt uns näher. Fast kriecht es uns jetzt schon unter die Haut.
Man kann sehen, wie Menschen reagieren, wenn die Gefahr besteht, dass sie alles verlieren.
Sie kaufen Klopapier oder Waffen. In den USA waren die Schlangen vor den Waffengeschäften so lang wie vor den Lebensmittelläden. Auch in Ungarn ist der Waffenverkauf enorm gestiegen. Das ist verrückt. Macht aber auch Sinn, wenn man genau darüber nachdenkt.
Mit dem Klopapier will man irgendwie sicher stellen, dass man auch noch, wenn nichts anderes mehr geht, beim Po abwischen nicht seine Würde verliert. Da wir alle keine Bidets haben, da wäre das Problem nicht vorhanden, wollen wir auf diese Weise sicher stellen, dass man einigermaßen würdevoll diese Verdauungsgeschichte abhaken kann. Egal was sonst geschieht.
Zum anderen will man sich stark fühlen. Im Grunde dem Virus gegenüber. Aber das ist ja albern. Das geht ja nicht. Man kann die Angst vor dem Virus, vor der Situation, nicht mit einer Waffe besiegen. Auch eine Ansteckung wird man nicht mit einer Pumpgun verhindern können. Also projiziert man sie nach draußen, auf die vermeintlich bösen Menschen, die diese Situation dazu nutzen werden, uns auszurauben.
Heute mit meiner Freundin in Chicago telefoniert. Dort sind teilweise selbst die geschlossenen Läden fast leer geräumt, um niemanden anzulocken durch Wertgegenstände im Schaufenster, aus Angst vor Plünderungen.
Die Angst, alles zu verlieren.
Diese Angst kann man nicht bekämpfen. Ich denke, man kann sie nur fühlen und sehen, wohin sie einen führt, was sie einen lehrt. Die Angst ist ein großer Lehrer, wenn man lernen möchte, mutig zu sein.

"When I think of art, I think of beauty. Beauty is the mystery of life. It is not just in the eye. It is in the mind, it is our positive response to life." Dieses Zitat ist von einer meiner absolut liebsten Künstlerinnen, Agnes Martin und mit diesem Zitat höre ich heute hier auf.

Bleibt stark. Fühlt Eure Angst. #tuttoandràbene

(c) Susanne Becker

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