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Corona Tagebuch (16)




Dieser Tag fing irgendwie schon sonderbar an. Ehrlich! Wer braucht während der Coronakrise auch noch Zeitumstellung?
Dann das Wetter. Eigentlich wollte ich mit der jüngeren Tochter heute zum Teufelsberg, um zu fotografieren, jetzt ist draußen praktisch Winter, mit Schneeregen und Sturm. Wir sind dann mit dem Auto quer durch die Stadt gefahren: Olympiastadion, Gedächtniskirche, Goldelse, Alexanderplatz. Die Stadt war unglaublich leer. Wir haben Musik gehört und meine Tochter hat aus dem Auto heraus fotografiert. Irgendwie war es ein ziemlich cooler Ausflug.

Diesen Link zu einem Prince Konzert hat mir mein Bruder heute geschickt und ich finde, Ihr solltet es Euch alle anschauen. Eine weitere Stunde Ausgangssperre rum! 🙏 Wobei wir in Berlin keine wirkliche Ausgangssperre haben. Wir haben, verglichen mit vielen anderen Orten, extrem milde Auflagen, die uns verantwortliches Handeln abverlangen und zutrauen. Diese Tatsache einfach mal schätzen!

Ich fühle mich ein wenig erkältet. Aber das ist schon Normalzustand, dass ich eigentlich bei jedem Jucken in der Nase seit Wochen denke: Oha, nun hats mich erwischt. Man wird schon paranoid, oder?
Wobei das bei mir sehr stark tagesformabhängig ist. Es gibt Tage, da sehe ich mich schon auf der Intensivstation und am nächsten denke ich, ich sei sowieso immun, weil ich es nämlich schon auf Sizilien hatte. Ich war dort tatsächlich krank: starker Husten und wahrscheinlich auch Temperatur. Konnte ich damals nicht überprüfen. Das war ca. zehn Tage, bevor die große Coronawelle in Italien ausbrach und wir haben Italien zweimal mit dem Zug von oben bis unten durchquert. Durch all die Orte, von denen man jetzt entsetzt liest, sind wir gefahren. Vielleicht hatten wir es längst und sind immun. Wäre schon schön, so etwas zu wissen. Aber irgendwie finde ich auch immer noch die ganze Offenheit der Situation spannend. Ich weiß nichts. Ich lebe von Moment zu Moment und folge meiner Intuition, so gut ich kann.

Ein weiterer Link. Diesmal von einem Film, den ich schon vor einiger Zeit gesehen habe und der mir damals sehr gut gefiel: Zen for nothing. Ein Jahr in einem japanischen Zen Kloster. Er läuft noch bis zum 22.6.20 bei Arte. Generell lohnt es sich, dort vorbeizuschauen. Ihr Programm bietet sehr viele interessante Filme und Dokumentationen. Dieser Film hat etwas ungemein Beruhigendes.

Den ganzen Tag schon muss ich an einen Satz von Glassman Roshi denken. Kurz vor seinem Tod wurde er gefragt, was er seinen Schülern noch mit auf den Weg geben wolle und er sagte: Ich habe heraus gefunden, dass alles nur eine Meinung ist. Alles.

Mit anderen Worten, es gibt kein richtig oder falsch. Es gibt nichts, was keine Meinung wäre. Selbst der, der glaubt, absolut im Recht zu sein, die absolute Wahrheit gefunden zu haben, er vertritt nur eine Meinung. Niemand hat Recht und niemand hat Unrecht. Daran muss ich in den letzten Tagen sehr oft denken, wenn ich Menschen begegne, die mir ihre Meinung zur Coronakrise, zum Virus, zur Politik unserer Regierung, zur Zensur, zum Polizeistaat, zur Ausgangssperre sagen wollen. Immer mit der Haltung, dass sie alles ganz anders machen würden. Also besser. Ich möchte diese Meinungen eigentlich alle nicht hören. Sie stressen mich. Und zwar nicht, weil ich etwas gegen diese Meinungen per se hätte, sondern weil die, die sie mir mitteilen, in der Regel sehr davon überzeugt sind, recht zu haben. Das bringt dann immer einen gewissen Druck, den sie ausüben, damit ich einsehe, wie recht sie haben, mit sich. Sie möchten mich dazu bringen, dass ich sage: Ja, du hast absolut recht. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht will ich auch um keine Preis meine Position von Offenheit aufgeben und vielleicht ist das genauso rechthaberisch.

Ich habe keine Meinung, weil ich mir keine bilden kann. Ich weiß viel zu wenig. Und ich bin mir sicher, dass wir längst nicht alles erfahren. Wir könnten das auch gar nicht verarbeiten. Also ich könnte es nicht. Ich habe nicht Medizin studiert. Ich bin keine Virologin, ich bin auch keine Politikerin. Gott sei Dank muss ich gerade nicht das Gesundheitsministerium leiten. Gott sei Dank auch nicht dieses Land. Ich bin keine Krankenschwester, kein Arzt. Kein gar nichts. In dieser Krise bin ich absolut unwichtig. Es gibt nicht den geringsten Grund, mir eine Bonuszahlung zu verpassen, denn ich leiste nichts systemrelevantes. Oder vielleicht bin ich doch wichtig. Aber wenn, dann nur in dem einen Punkt, in dem wir alle wichtig sind: dass ich mich bemühe, das Virus nicht herum zu verteilen, als gäbe es kein Morgen. Dass ich aus Respekt vor den Ärzten und Krankenschwestern mich so verhalte, dass sie nicht von Kranken überrollt werden. Das ist meine einzige Aufgabe gerade, mein Ego zurück zu nehmen und mich dem Sozialen zu unterwerfen, ohne dass ich mir dazu sofort eine kritische Meinung bilde, die ich dann verteile in der Hoffnung, ein paar andere auch dazu zu bringen, sich doch mit mir im Park zu treffen oder so.
Sobald die Geschichte überstanden ist, gehe ich wieder zu meinem Ego und wir zwei werden dann ganz genau analysieren, wer was falsch gemacht hat und was hier schief gelaufen ist. Aber wir erkennen jetzt erstmal an, dass die, die die Situation managen, ihr Bestes geben. Wir sind nicht in Amerika. Da würde ich die Sache mit Sicherheit ganz anders sehen.

Ansonsten versuche ich, gute Laune zu behalten und diese auch weiter zu geben. Das fällt mir in den letzten Tagen nicht so leicht, weil die meisten Leute, die ich treffe, nicht gut gelaunt sind. 24/7 kurz davor stehen, ein kleines bisschen durchzudrehen. Deshalb habe ich heute beschlossen, mich ein paar Tage in meine eigene Wohnung zurück zu ziehen, um meine Batterien wieder aufzuladen.
Außerdem stehen mir morgen zwei anstrengende Tage in meinem Büro bevor. Wir haben, trotz Corona, eine existentiell wichtige Prüfung vor Ort, die ich leiten werde.
Drückt mir also die Daumen und bleibt positiv, ragazzi.


Song des Tages: Me & and the Devil von Soap & Skin einer österreichischen Musikerin. Einfach, weil ich gerade auch ein wenig Sehnsucht nach Österreich habe und mich frage, wann die Grenzen wieder offen sind und die Tochter und ich losfahren können.

Seid umarmt!! 💜

P.S. Und heute kam ein Eichelhäher auf meinen Balkon. Er hat an den Nüssen geknabbert, die dort schon den halben Winter hängen. Das war im Grunde das wichtigste Ereignis des Tages.

(c) Susanne Becker




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