Heute habe ich zum ersten Mal
richtig Angst bekommen. Um die psychische Gesundheit meiner Kinder und von
Freunden und Bekannten, deren gesamtes Leben gerade weg bricht. Und ich fragte
mich, ob es auch jemanden gibt, der sich darüber Gedanken macht. Was es für
Kinder bedeutet, wenn sie nicht mehr raus dürfen, wenn sie keine Sonne
bekommen, keine frische Luft, keine Bewegung. Auch was dies für Erwachsene
bedeutet. Quarantäne in einem Haus auf dem Land mit Garten ist eine Sache. Aber
Quarantäne in einer Stadtwohnung, das ist etwas völlig anderes. Noch dürfen wir
ja hinaus. Heute war ich vollkommen unvernünftig. Ich bin mit meiner Tochter
zum Friseur gegangen. Es ist ein sehr großer Raum und wir waren die einzigen
Kunden. Da es ein japanischer Friseur ist, bekamen wir ein heißes Handtuch in
den Nacken gelegt und eine Kopfmassage bei der Haarwäsche. Es war der einzige
Moment des Tages, an dem ich wirklich entspannt war. Mein Haar ist fluffig und
frisch und danach haben wir in einem vollkommen leeren japanischen Restaurant
Ramen gegessen und sind den ganzen Weg von Mitte zu Fuß nachhause gegangen. Es
waren verhältnismäßig wenige Menschen unterwegs. Ich habe diese
Unvorsichtigkeit keine Sekunde bereut, auch wenn ich mir zwischendurch sehr
schuldig vorkam.
Der Hauptgrund für diese Aktion war
mein Gedanke, dass ich möchte, dass wir einen guten Tag haben. Und was soll ich
sagen? Wir hatten einen sehr tollen Tag. Solange es noch geht, solange wir noch nicht wirklich drinnen fest
sitzen. Wir hatten lediglich Kontakt mit den Friseusen und der Kellnerin. Wir
haben mit niemandem sonst gesprochen. Doch. Wir haben einem einsam vor sich
hinspielenden, wirklich sehr guten Straßenmusiker auf der Brücke an der
Museumsinsel Geld in den Gitarrenkoffer gelegt und ihm aus sicherer Entfernung
eine Weile zugehört. Er heißt Dave Adam oder Adamshvili und ist aus Georgien.
Wir haben meiner Tochter heute auch noch ein gebrauchtes Fahrrad besorgt, bei einem kleinen Fahrradladen im Kiez, damit sie sich ein wenig bewegen kann, ohne unnötige Kontakte zu haben. Und ich denke ernsthaft
darüber nach, noch ganz schnell einen Hund zu besorgen, damit wir auch
weiterhin einen Grund haben, raus zu gehen. Auf Instagram sah ich Posts von
Leuten aus Spanien, die mit ihren Hunden raus gehen, was eine der wenigen
Entschuldigungen dafür ist, bei Ausgangssperre, das Haus zu verlassen.
Israel will seine Bevölkerung jetzt
total überwachen, per Handydaten, um Leute daran zu hindern, die Quarantäne zu
brechen. Was gerade geschieht, macht eine Menge Sinn, aber nicht nur. Es ist auch erschreckend, wie
schnell durch die Angst vor einem Virus die ganze Welt eingesperrt werden kann.
Das ist es vielleicht, was mir Angst macht. Vielleicht habe ich vor dieser
Erkenntnis gerade mehr Angst als vor dem Virus und vielleicht ist das dumm.
Morgen werde ich nicht arbeiten.
Ich werde die Wohnung nicht verlassen, außer vielleicht für eine kleine Radtour
oder einen Spaziergang im Wald.
Den ganzen Tag musste ich an einen
Text denken, den ich gleich nach meinem Sizilienurlaub geschrieben habe. In
diesem Urlaub war ich oft beinahe traurig. Immer wieder überfiel mich der
Gedanke, wie vergänglich alles ist. Im Nachhinein kommt es mir beinahe so vor,
als hätte ich damals schon eine Ahnung gehabt von dem, was auf uns zukam. Wir stehen jetzt an einem Anfang, aber auch einem Ende, und wir alle wissen nicht, wohin es führt.
Ich habe den Text ursprünglich auf Englisch
geschrieben und er ist auch auf meinem Blog, sowie auf der Seite Lifein10minutes. Ich habe ihn jetzt noch einmal für Euch übersetzt.
Hier ist er und heißt, Die Anziehungskraft von Leerstellen
Zeichne eine Landkarte deiner geheimen Wünsche
und verirre dich.
Was ich in Sizilien lernte, war unerwartet. Eine Lektion in
Vergänglichkeit, zärtlich doch klar. Es gibt keine Ewigkeit.
Alles wird enden. Das war die einfache Lektion. Alles wird
enden. ALLES.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und niemals
bekamst.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und bekamst, nur
um sie später zu bereuen.
Sogar deine Liebe. Sogar deine Liebe wird enden.
Wie wichtig ist es, sich zu erinnern?
In Sizilien sah ich keinen einzigen Stern.
Aber ich sah den Mond. Rund und voller Versprechen.
Wenn ich am Strand entlang lief, überraschte es mich
beinahe, keinem einzigen Boot mit Flüchtlingen aus Afrika zu begegnen. Es ist
nicht mehr möglich, am Mittelmeer entlang zu spazieren, ohne an die Menschen zu denken, die versuchen, es zu überqueren. Ohne an all die Menschen zu denken,
die ertrinken.
Alles wird enden.
Sie werden enden. Ihre Hoffnungen werden enden. Ihre
Hoffnungen werden enden, auf die eine oder die andere Art. Meine Hoffnungen
auch.
In Rom stieg Jennifer in den Zug. Ich nahm sie wahr, weil
sie die einzige Schwarze war, und sie war wunderschön und ihr Haar war blau.
Sie hatte einen sehr großen Koffer. Weil Italien für
Flüchtlinge noch deprimierender ist als Deutschland, fragte ich mich, ob sie
Rom überhaupt verlassen durfte? Wohin wollte sie? Wen besuchte sie?
In Bologna sah ich sie wieder. Sie stieg in unseren Zug nach
München.
Sie saß sogar in unserem Wagen, aber am anderen Ende. Ich
konnte sie von meinem Platz aus nicht sehen. Am Brenner kam die Italienische
Polizei in den Zug und kontrollierte einige Pässe. Unsere nicht. Wir sind weiß
und dürfen hingehen, wohin wir wollen.
Aber Jennifers Papiere wurden kontrolliert und die von dem
Mann neben ihr. Er war ebenfalls schwarz. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen.
Ich weiß nicht, wann er in den Zug gestiegen ist.
Die Polizei kontrollierte seine Papiere und sagte ihm, dass
er mit ihnen aussteigen müsse.
Jennifer konnte bleiben. Meine Tochter ging zu ihr und
fragte sie, ob es ihr gut gehe. Sie sagte, dass sie ebenfalls keine Papiere
habe. Aber sie war schwanger und ihr Freund war in Stuttgart. Sie wollte zu
ihm. Was absolut Sinn machte. In einer Welt ohne die Wichtigkeit von Papieren
wäre ihr Wunsch kein Problem.
Die Wichtigkeit wird enden. Aber wann?
Wir hofften, die Polizei würde großzügig handeln und
menschlich und sie würden sie weiter fahren lassen Richtung Stuttgart. Als der
Zug wieder losfuhr, und sie war noch da, dachten wir: vielleicht tun sie es.
Aber dann öffnete sich die Tür und die österreichische Polizei kam herein, mit
einer weiblichen Polizistin. Sie gingen zu ihr und teilten ihr mit, dass sie
den Zug mit ihnen in Innsbruck verlassen müsse.
Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Wo ist sie jetzt?
Wer wird ihr helfen?
Ich kann nicht aufhören, an die Juden in Zügen zu denken,
die in Richtung Auschwitz fahren. Wie jeder wegschaute, weil jeder beschäftigt
mit seinem eigenen Leben war.
Was am frustrierendsten an dieser Situation war, wie alle
anderen im Zug nicht hinschauten. Außer meiner Tochter sprach niemand mit ihr.
Wir verstanden, wie es geschieht, dass so viele Menschen im Mittelmeer
ertrinken können: wir sind so beschäftigt mit unseren eigenen Urlauben, unseren
Leben, unseren Plänen. Wir können nicht den Moment erübrigen um aufzuschauen,
wenn eine junge Frau aus Nigeria, die es über das Mittelmeer geschafft hat, die
nicht ertrunken ist, die keine Papiere hat, die nur ein anständiges Leben für
sich und ihr Baby und ihren Freund möchte, wir können nicht den Moment
erübrigen, sie anzuschauen, wenn wir aus unserem wunderbaren Urlaub in Italien
zurückkehren, während sie den Zug in Innsbruck verlassen muss, begleitet von
drei Polizisten.
Alles wird enden. Die Konzepte von fair oder unfair werden
enden.
In Italien lernte ich, dass alles enden wird. Glas am
Strand, in allen Farben, sogar rot. Ich habe noch nie an irgendeinem anderen
Strand rotes Glas gefunden. Taormina Giardini. Natürlich, es ist wunderschön
hier. Aber es verfällt auch. Also ist dieser Platz eine Lektion in
Vergänglichkeit.
Alles wird enden.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und niemals
bekamst, sie werden enden.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest, bis du sie
bekamst. Sie werden enden.
Du wirst enden. Alles, was du jemals geliebt hast, gehasst
hast, wird enden-
Der tote Fisch am Strand. Sein offenes großes Auge, schwarz
und weiß, starrt mich an, in einer Weise, als ob es jedes Geheimnis des
Universums kennt. Und warum sollte es auch nicht so sein? Die Vergänglichkeit starrt
mich an.
Du wirst enden. Alles, was du jemals wolltest und niemals
bekamst, wird enden.
Che imparo qui. Tutto finirà.
Was lerne ich hier?
Ich wandere am Strand entlang und ich sehe die Schönheit,
aber was ich fühle, ist Vergänglichkeit. Der Rost. Der Schmutz. Das zerbrochene
Glas. Der Plastikmüll überall. Die Körper. Von denen, die ertrinken und von
denen, die nicht ertrinken.
Alles wird enden. Und wir unterstützen diesen Prozess, indem
wir das Wunder nicht ehren, das Wunder, das diese Erde uns offenbart. Als ein
Meer, als eine Jennifer. Wir schauen die ganze Zeit woanders hin.
Die Küsse, die Umarmungen, die Ewigkeit wird enden. Das
Wegschauen, es wird enden. Irgendwann.
Die Stufen hinunter zum Strand sind mit Rost bedeckt.
Sie scheinen beinahe zu brechen.
Wir sind die einzigen Touristen. Keine Saison. Die meisten Restaurants
sind geschlossen. Ich frage mich, ob die Massen an Touristen, die bald wieder
hier ankommen werden, mit den rostigen Stufen auf den Strand stürzen, oder ob
die Bewohner von Giardini Naxos sie reparieren werden, bevor die Saison
beginnt?
Ein Mann, der lange in den USA gelebt und jetzt wieder in
seinen Heimatort Giardini Naxos zurückgekehrt ist, lacht: Das ist Italien. Viel
Glück!
Alles wird enden.
Vergänglichkeit.
Viel Glück.
Selbst die Leben, die ich bereute, weil ich sie bekam und herausfand,
wie sie jenseits meiner Illusionen wirklich waren, werden enden.
Es gibt nur diesen Moment – klingt wie ein Klischee und wie
die meisten Klischees ist es wahr.
Die Wahrheit ist, ich war nie erfolgreich darin, im Moment anzukommen.
Ich fühlte mich nie wohl in ihm. Ich flüchtete, wann immer möglich. Der Moment
fühlt sich so eng an, so klein. Langweilig. Meine Schwelle zur Langeweile ist
sehr niedrig und trieb mich aus jedem Moment heraus.
Die Anziehungskraft von Leerstellen. Zeichne eine Landkarte
und verirre dich in den Falten deiner tiefsten Sehnsüchte.
Viel Glück!
(c) Susanne Becker
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