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Corona Tagebuch (4)


Heute habe ich zum ersten Mal richtig Angst bekommen. Um die psychische Gesundheit meiner Kinder und von Freunden und Bekannten, deren gesamtes Leben gerade weg bricht. Und ich fragte mich, ob es auch jemanden gibt, der sich darüber Gedanken macht. Was es für Kinder bedeutet, wenn sie nicht mehr raus dürfen, wenn sie keine Sonne bekommen, keine frische Luft, keine Bewegung. Auch was dies für Erwachsene bedeutet. Quarantäne in einem Haus auf dem Land mit Garten ist eine Sache. Aber Quarantäne in einer Stadtwohnung, das ist etwas völlig anderes. Noch dürfen wir ja hinaus. Heute war ich vollkommen unvernünftig. Ich bin mit meiner Tochter zum Friseur gegangen. Es ist ein sehr großer Raum und wir waren die einzigen Kunden. Da es ein japanischer Friseur ist, bekamen wir ein heißes Handtuch in den Nacken gelegt und eine Kopfmassage bei der Haarwäsche. Es war der einzige Moment des Tages, an dem ich wirklich entspannt war. Mein Haar ist fluffig und frisch und danach haben wir in einem vollkommen leeren japanischen Restaurant Ramen gegessen und sind den ganzen Weg von Mitte zu Fuß nachhause gegangen. Es waren verhältnismäßig wenige Menschen unterwegs. Ich habe diese Unvorsichtigkeit keine Sekunde bereut, auch wenn ich mir zwischendurch sehr schuldig vorkam.
Der Hauptgrund für diese Aktion war mein Gedanke, dass ich möchte, dass wir einen guten Tag haben. Und was soll ich sagen? Wir hatten einen sehr tollen Tag. Solange es noch geht, solange wir noch nicht wirklich drinnen fest sitzen. Wir hatten lediglich Kontakt mit den Friseusen und der Kellnerin. Wir haben mit niemandem sonst gesprochen. Doch. Wir haben einem einsam vor sich hinspielenden, wirklich sehr guten Straßenmusiker auf der Brücke an der Museumsinsel Geld in den Gitarrenkoffer gelegt und ihm aus sicherer Entfernung eine Weile zugehört. Er heißt Dave Adam oder Adamshvili und ist aus Georgien.

Wir haben meiner Tochter heute auch noch ein gebrauchtes Fahrrad besorgt, bei einem kleinen Fahrradladen im Kiez,  damit sie sich ein wenig bewegen kann, ohne unnötige Kontakte zu haben. Und ich denke ernsthaft darüber nach, noch ganz schnell einen Hund zu besorgen, damit wir auch weiterhin einen Grund haben, raus zu gehen. Auf Instagram sah ich Posts von Leuten aus Spanien, die mit ihren Hunden raus gehen, was eine der wenigen Entschuldigungen dafür ist, bei Ausgangssperre, das Haus zu verlassen.
Israel will seine Bevölkerung jetzt total überwachen, per Handydaten, um Leute daran zu hindern, die Quarantäne zu brechen. Was gerade geschieht, macht eine Menge Sinn, aber nicht nur. Es ist auch erschreckend, wie schnell durch die Angst vor einem Virus die ganze Welt eingesperrt werden kann. Das ist es vielleicht, was mir Angst macht. Vielleicht habe ich vor dieser Erkenntnis gerade mehr Angst als vor dem Virus und vielleicht ist das dumm.
Morgen werde ich nicht arbeiten. Ich werde die Wohnung nicht verlassen, außer vielleicht für eine kleine Radtour oder einen Spaziergang im Wald.
Den ganzen Tag musste ich an einen Text denken, den ich gleich nach meinem Sizilienurlaub geschrieben habe. In diesem Urlaub war ich oft beinahe traurig. Immer wieder überfiel mich der Gedanke, wie vergänglich alles ist. Im Nachhinein kommt es mir beinahe so vor, als hätte ich damals schon eine Ahnung gehabt von dem, was auf uns zukam. Wir stehen jetzt an einem Anfang, aber auch einem Ende,  und wir alle wissen nicht, wohin es führt. 

Ich habe den Text ursprünglich auf Englisch geschrieben und er ist auch auf meinem Blog, sowie auf der Seite Lifein10minutes. Ich habe ihn jetzt noch einmal für Euch übersetzt.

Hier ist er und heißt, Die Anziehungskraft von Leerstellen

Zeichne eine Landkarte deiner geheimen Wünsche und verirre dich.
Was ich in Sizilien lernte, war unerwartet. Eine Lektion in Vergänglichkeit, zärtlich doch klar. Es gibt keine Ewigkeit.
Alles wird enden. Das war die einfache Lektion. Alles wird enden. ALLES.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und niemals bekamst.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und bekamst, nur um sie später zu bereuen.
Sogar deine Liebe. Sogar deine Liebe wird enden.
Wie wichtig ist es, sich zu erinnern?
In Sizilien sah ich keinen einzigen Stern.
Aber ich sah den Mond. Rund und voller Versprechen.
Wenn ich am Strand entlang lief, überraschte es mich beinahe, keinem einzigen Boot mit Flüchtlingen aus Afrika zu begegnen. Es ist nicht mehr möglich, am Mittelmeer entlang zu spazieren, ohne an die Menschen zu denken, die versuchen, es zu überqueren. Ohne an all die Menschen zu denken, die ertrinken.

Alles wird enden.
Sie werden enden. Ihre Hoffnungen werden enden. Ihre Hoffnungen werden enden, auf die eine oder die andere Art. Meine Hoffnungen auch.

In Rom stieg Jennifer in den Zug. Ich nahm sie wahr, weil sie die einzige Schwarze war, und sie war wunderschön und ihr Haar war blau.
Sie hatte einen sehr großen Koffer. Weil Italien für Flüchtlinge noch deprimierender ist als Deutschland, fragte ich mich, ob sie Rom überhaupt verlassen durfte? Wohin wollte sie? Wen besuchte sie?
In Bologna sah ich sie wieder. Sie stieg in unseren Zug nach München.
Sie saß sogar in unserem Wagen, aber am anderen Ende. Ich konnte sie von meinem Platz aus nicht sehen. Am Brenner kam die Italienische Polizei in den Zug und kontrollierte einige Pässe. Unsere nicht. Wir sind weiß und dürfen hingehen, wohin wir wollen.
Aber Jennifers Papiere wurden kontrolliert und die von dem Mann neben ihr. Er war ebenfalls schwarz. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen. Ich weiß nicht, wann er in den Zug gestiegen ist.
Die Polizei kontrollierte seine Papiere und sagte ihm, dass er mit ihnen aussteigen müsse.
Jennifer konnte bleiben. Meine Tochter ging zu ihr und fragte sie, ob es ihr gut gehe. Sie sagte, dass sie ebenfalls keine Papiere habe. Aber sie war schwanger und ihr Freund war in Stuttgart. Sie wollte zu ihm. Was absolut Sinn machte. In einer Welt ohne die Wichtigkeit von Papieren wäre ihr Wunsch kein Problem.
Die Wichtigkeit wird enden. Aber wann?

Wir hofften, die Polizei würde großzügig handeln und menschlich und sie würden sie weiter fahren lassen Richtung Stuttgart. Als der Zug wieder losfuhr, und sie war noch da, dachten wir: vielleicht tun sie es. Aber dann öffnete sich die Tür und die österreichische Polizei kam herein, mit einer weiblichen Polizistin. Sie gingen zu ihr und teilten ihr mit, dass sie den Zug mit ihnen in Innsbruck verlassen müsse.
Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Wo ist sie jetzt? Wer wird ihr helfen?

Ich kann nicht aufhören, an die Juden in Zügen zu denken, die in Richtung Auschwitz fahren. Wie jeder wegschaute, weil jeder beschäftigt mit seinem eigenen Leben war.

Was am frustrierendsten an dieser Situation war, wie alle anderen im Zug nicht hinschauten. Außer meiner Tochter sprach niemand mit ihr. Wir verstanden, wie es geschieht, dass so viele Menschen im Mittelmeer ertrinken können: wir sind so beschäftigt mit unseren eigenen Urlauben, unseren Leben, unseren Plänen. Wir können nicht den Moment erübrigen um aufzuschauen, wenn eine junge Frau aus Nigeria, die es über das Mittelmeer geschafft hat, die nicht ertrunken ist, die keine Papiere hat, die nur ein anständiges Leben für sich und ihr Baby und ihren Freund möchte, wir können nicht den Moment erübrigen, sie anzuschauen, wenn wir aus unserem wunderbaren Urlaub in Italien zurückkehren, während sie den Zug in Innsbruck verlassen muss, begleitet von drei Polizisten.
Alles wird enden. Die Konzepte von fair oder unfair werden enden.

In Italien lernte ich, dass alles enden wird. Glas am Strand, in allen Farben, sogar rot. Ich habe noch nie an irgendeinem anderen Strand rotes Glas gefunden. Taormina Giardini. Natürlich, es ist wunderschön hier. Aber es verfällt auch. Also ist dieser Platz eine Lektion in Vergänglichkeit.
Alles wird enden.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest und niemals bekamst, sie werden enden.
Sogar die Dinge, die du am meisten wolltest, bis du sie bekamst. Sie werden enden.
Du wirst enden. Alles, was du jemals geliebt hast, gehasst hast, wird enden-

Der tote Fisch am Strand. Sein offenes großes Auge, schwarz und weiß, starrt mich an, in einer Weise, als ob es jedes Geheimnis des Universums kennt. Und warum sollte es auch nicht so sein? Die Vergänglichkeit starrt mich an.
Du wirst enden. Alles, was du jemals wolltest und niemals bekamst, wird enden.
Che imparo qui. Tutto finirà.

Was lerne ich hier?
Ich wandere am Strand entlang und ich sehe die Schönheit, aber was ich fühle, ist Vergänglichkeit. Der Rost. Der Schmutz. Das zerbrochene Glas. Der Plastikmüll überall. Die Körper. Von denen, die ertrinken und von denen, die nicht ertrinken.
Alles wird enden. Und wir unterstützen diesen Prozess, indem wir das Wunder nicht ehren, das Wunder, das diese Erde uns offenbart. Als ein Meer, als eine Jennifer. Wir schauen die ganze Zeit woanders hin.

Die Küsse, die Umarmungen, die Ewigkeit wird enden. Das Wegschauen, es wird enden. Irgendwann.
Die Stufen hinunter zum Strand sind mit Rost bedeckt.
Sie scheinen beinahe zu brechen.
Wir sind die einzigen Touristen. Keine Saison. Die meisten Restaurants sind geschlossen. Ich frage mich, ob die Massen an Touristen, die bald wieder hier ankommen werden, mit den rostigen Stufen auf den Strand stürzen, oder ob die Bewohner von Giardini Naxos sie reparieren werden, bevor die Saison beginnt?

Ein Mann, der lange in den USA gelebt und jetzt wieder in seinen Heimatort Giardini Naxos zurückgekehrt ist, lacht: Das ist Italien. Viel Glück!
Alles wird enden.
Vergänglichkeit.
Viel Glück.

Selbst die Leben, die ich bereute, weil ich sie bekam und herausfand, wie sie jenseits meiner Illusionen wirklich waren, werden enden.
Es gibt nur diesen Moment – klingt wie ein Klischee und wie die meisten Klischees ist es wahr.
Die Wahrheit ist, ich war nie erfolgreich darin, im Moment anzukommen. Ich fühlte mich nie wohl in ihm. Ich flüchtete, wann immer möglich. Der Moment fühlt sich so eng an, so klein. Langweilig. Meine Schwelle zur Langeweile ist sehr niedrig und trieb mich aus jedem Moment heraus.

Die Anziehungskraft von Leerstellen. Zeichne eine Landkarte und verirre dich in den Falten deiner tiefsten Sehnsüchte.
Viel Glück!

(c) Susanne Becker

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