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Corona-Tagebuch (6)

Gestern schrieb ich: dies ist keine Zeit für Rechthaberei.
Heute würde ich hinzufügen: und auch keine für Verleugnung.
Die Bewältigungsstrategie vieler Menschen, auch in meinem Umfeld, ist aber genau das: sie  verleugnen die Drastik der Situation.
Ej, das ist eine normale Grippe. Diese Panik ist soooo übertrieben. Und lustig sitzt man in Gruppen  im Straßencafé und feiert die freie Zeit, als wäre ein kollektiver Superurlaub angebrochen.

Es gab, vielleicht vor 3 oder 4 Wochen, den Punkt, wo ich selbst noch in diese Richtung hätte neigen können. Aber das hat sich sehr geändert und ich merke, wie diese Haltung seliger Ahnungslosigkeit mich seit heute etwas aggressiv macht. Weil sie letztendlich dazu führen wird, dass sich mehr Menschen schneller infizieren. Wenn man davon ausgeht, dass ein erheblicher Prozentsatz dieser Leute schwere Verläufe hat, auch junge, dann ist das ein beunruhigendes Szenario.
In Italien müssen sich die Ärzte unter 8 Patienten denjenigen für einen Beatmungsplatz aussuchen, von dem sie ausgehen, dass er die größten Chancen hat, das Krankenhaus durch diese Beatmung auch lebend zu verlassen. Wer Interesse hat, sich zu informieren, hier nochmal der Podcast von Prof. Drosten im NDR. Ich denke immer noch, dass er eine Stimme der Vernunft ist, ohne rechthaberisch zu sein. Ich mag, wie er seine Meinung verändert, sobald es neue Erkenntnisse gibt.

Gestern Abend erfuhr ich, dass sich der Vater der Freundin meiner jüngeren Tochter angesteckt hat. Meine Tochter war noch gestern eng mit dieser Freundin zusammen. Es hat mich geärgert, dass er nicht vorab kommuniziert hat, dass er einen Test für nötig hält und seine Tochter weiter ohne Ansage Freunde treffen lässt. Aber das nur am Rande.
Es war mein absoluter und endgültiger Wakeup Call, dass ich die Ernsthaftigkeit der Situation annehme. Also das fällt mir unglaublich schwer. Ich habe wirklich auch Angst. Und für mich persönlich steht es jetzt an, mich dieser Angst, krank zu werden, in der Quarantäne mit unserer nicht wirklich funktionalen Familie die Nerven zu verlieren (wird mit Sicherheit geschehen! Wenn Ihr jemanden brüllen hört, so Richtung Kreuzberg, Chances are: its me!), zu stellen. Aber ich wurde heute morgen wach und nach einer kleinen Runde Yoga fühlte ich eine Kraft in mir und den absoluten Wunsch, mich nicht wegzuducken.
Nicht vor der Wahrheit dieser Situation, so wie sie mir vorkommt und nicht vor meiner Angst.

Ein solches Ausmaß an Angst hatte ich das letzte Mal, als ich zu meiner sterbenden Mutter fuhr. Ich weiß noch, wie ich im Zug saß und am liebsten wieder umgekehrt wäre. Ich wollte der Situation ausweichen. Ich habe auch damals jeden Tag meditiert und Yoga gemacht. Ich habe soviel geheult beim Yoga machen, um meine ganzen Gefühle zu prozessieren, die durch das Yoga bewegt wurden, meine Matte schwamm regelmäßig in einer Art Pfütze. Und es war kein Schweiß ;-)
Aber am Ende waren es der Widerstand gegen und die Angst vor der Situation, die am allerschlimmsten waren. In dem Moment, wo ich die Tatsache des Sterbens und was es bedeutete, ohne Widerstand annahm, wurde alles sehr viel einfacher. Im Nachhinein war es eine wahnsinnig intensive Zeit. Und sie war auch schön. Ich hatte überhaupt keine Angst mehr und meine Mutter auch nicht.
Jedenfalls, was will ich sagen: Die Situation ist todernst. Das ist mir mittlerweile klar. Es werden viele von uns krank werden. Es werden unter Umständen Menschen sterben, die wir kennen. Ich habe keine Lust mehr, mir diesbezüglich etwas vorzumachen. Ab heute gehe ich nur noch einmal pro Woche zur Arbeit und ansonsten, solange wir noch dürfen, lange Spaziergänge machen, mit meinem Bruder telefonieren, mit meinen ganzen Freunden, von denen fast niemand in Berlin lebt aber viele in anderen Ländern, whatsappen und wir halten uns gegenseitig bei der Stange und ziehen uns durch diese Krise. #staythefuckathome

Je unvernünftiger wir alle sind, desto länger und heftiger wird es. Das ist mir klar geworden. Und dementsprechend werde ich mich ab jetzt verhalten.

Was mich beglückt hat heute: ein Spaziergang im Park und dort waren nur einzelne Menschen oder Familien unterwegs und alle hielten Abstand zueinander.
Die Entdeckung, wieviele Kanäle es jetzt gibt, um die Zeit der Isolation zu überbrücken.
Ich gestehe, ich habe das kostenlose Amazon Prime Abo, also das Testabo, abgeschlossen, damit ich gaaaanz viele Filme umsonst sehen kann. Aber ich werde es wieder kündigen. Mein Bruder wies mich darauf hin, dass auch Netflix ein Probeabo hat. Das behalte ich mir allerdings für die nächste Eskalationsstufe dieser Situation vor.
Ich gehe davon aus, dass dies alles viel länger dauern wird, als ich noch letzte Woche dachte. Seitdem ich das irgendwie für mich akzeptiert habe, geht es mir besser. Ich finde wieder Lösungen und vergeude meine Energie und Kraft nicht mehr damit, Widerstand gegen das zu leisten, was unvermeidlich ist.

Das Literaturhaus Salzburg  macht auf Facebook öffentliche Lesungen, ab dem 22. März, immer um 20 Uhr. Solche Aktionen machen mich unendlich glücklich. Danke an alle, die somit helfen, dass wir den Verstand nicht verlieren. Den Beginn macht Anna Herzig, deren Herr Rudi ich mir soeben bei meinen Buchhändlerinnen ebertundweber bestellt habe. Sie werden es mir heute Abend an die Haustür liefern! Ich meine: Hallo!!! Ist das toll oder ist das toll? Bestellt mal bei ihnen, wenn ihr im Kreuzberger Umkreis lebt. Unterstützt sie!!!

Sehnsuchtsort, Herekeke, New Mexico, social distancing als natural state, weil keiner da ist, aus der Reihe
Orte, die mich absolut glücklich machen
Und dann noch das, hat mich gestern sehr glücklich gemacht und ich habe es circa 5 x angehört. Nudeln und Klopapier Die Antilopengang ist übrigens generell gar keine schlechte Band!
Man hat ja jetzt so viel Zeit, Musik zu hören.
Die Nachbarn auch.
Naja.

Bleibt gesund, Ragazzi und companeras, see you tomorrow 🙋

(c) Susanne Becker



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