"Everything changes."
Suzuki Roshi
Heute im Wald. Eine Stunde an einem Baum gelehnt, in der Sonne, bis mein Gesicht glühte und endlich mit meiner Tante telefoniert.
Wenn man gegen 11 Uhr in den Wald geht, ist er noch nicht so voll.
So bevölkert wie in den letzten Wochen habe ich den Wald, glaube ich, noch nie erlebt. Ich gehe seit Jahren regelmäßig dort spazieren. Oft bin ich fast allein in manchen Ecken. Jetzt gibt es kaum eine Ecke, wo nicht irgendjemand sich häuslich eingerichtet hat. Dies wird vermutlich als Jahr in die Annalen gehen, in dem die Berliner mehr als je zuvor an der frischen Luft waren.
Ich traf eine Studentin unseres Seminars und ihren Bruder. Wir hielten gebührend Abstand voneinander und unterhielten uns kurz. Plötzlich kamen uns zwei Männer entgegen und der eine sagte: "Ich gehe jetzt auf keinen Fall zwischen Ihnen durch. Das ist mir viel zu gefährlich." Er brachte dies nicht sehr freundlich vor. Offensichtlich sah er uns als absolute Bedrohung. Der Bruder drückte sich immer tiefer ins Gebüsch, die Studentin und ich auf der anderen Seite des Weges ebenfalls. Aber ihm waren die geschätzt zwei Meter fünfzig zwischen uns zu wenig. Er schimpfte und drückte sich dann ganz eng durchs Gebüsch, hinter dem Bruder lang, Abstand geschätzt 10 Zentimeter, nicht ohne sich zu beschweren, wie unglaublich doof wir uns anstellten. Er trug natürlich keine Gesichtsmaske. Was ich Menschen, die derart paranoid sind, ungefragt hier mal kurz empfehlen würde. Vielleicht wäre auch ein Helm zusätzlich nicht verkehrt. Kennt Ihr die Kinderbücher über Rico, Oscar undsoweiter? Oscar trägt dort doch immer einen Helm, um sich sicherer zu fühlen. Das ist vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn man so große Angst hat.
Im übrigen: wer diese Bücher bislang nicht gelesen hat, vielleicht wäre jetzt der Moment dazu? Hinterher dann noch gleich die Filme angeschaut und schon haben wir wieder ein paar Tage Ausnahmezustand rum. Im Ernst: diese Bücher und Filme waren für mich während den Kindheiten meiner Töchter neben Astrid Lindgren das absolut wunderbarste. Ausdrücklich empfehlenswert!
Im Wald meinen ersten Schmetterling des Jahres gesehen. Ein Weißling. Noch gut erinnere ich mich an das letzte Jahr, als ich meinen ersten Schmetterling in der Ritterstraße sah, als ich dort mit einer Mitmutter unserer Klasse einen Kaffee auf dem Bürgersteig trank. Es war der erste milde Tag, alles war noch kahl, vor uns eine Reihe geparkter Autos, zwischen denen plötzlich etwas gelbes sich bewegte. Er kam dann sogar nochmal zurück, so als wollte er sagen: Doch, ich bins wirklich.
Kathrin und ich sprangen auf und fielen uns in die Arme und beide riefen wir: Das ist ein Zeichen. Dieses Jahr wird richtig toll werden!
Was auch stimmte. Für mich. 2019 war in vieler Hinsicht eines meiner besten Jahre.
Als ich heute den Weißling sah, packte mich die gleiche Euphorie. Fünf Minuten später kreuzte ein Zitronenfalter meinen Weg und weitere fünf Minuten später nochmal ein Weißling.
Es mag sich verrückt anhören, aber inmitten der Pandemie und all der damit verbundenen Unsicherheit und Angst spüre ich, wie gut es mir gut und ich habe keine Angst.
Ich habe noch ein weiteres Corona Tagebuch entdeckt, in dem ich jetzt manchmal lese. Es wird von Carolin Emcke in der Süddeutschen geführt. Es heißt: Corona Krise Journal in Zeiten der Pandemie und sie schreibt darin sehr viele kluge Dinge. Wie sie sich über Orbans Abschaffung des Rechtsstaats in Ungarn und Europas Nichtreaktion darauf aufregt, das ist groß. Danke!!
Sie zitiert auch Brecht. Und weil das Zitat so gut ist, will ich es Euch hier zeigen:
"Die guten Leute erkennt man daran,
dass sie besser werden,
wenn man sie erkennt. Die guten Leute
laden ein, sie zu verbessern, denn
wovon wird einer klüger? Indem er zuhört
und indem man ihm etwas sagt."
Bertolt Brecht, "Lied über die guten Leute"
Und was sie nach diesem Zitat schreibt, darüber habe ich den ganzen Spaziergang nachgedacht. Sie schreibt, dass das Versöhnliche an dieser Zeit die Tatsache ist, dass man die Guten so eindeutig erkennen kann daran, dass sie unter der Last nicht brechen, eng werden, selbstgerecht, sondern dass sie ihre Stärke zeigen und ihre Größe, ihre Verantwortung ohne großes Tamtam übernehmen, sei es als Kanzlerin oder als Kassierin im Edeka, als Krankenschwester oder Ärztin oder Nachbarin.
Sie hat recht: diese Guten zu sehen, so eindeutig zu erkennen, bei manchen wusste man es ja, bei anderen ahnte man es, aber es gibt auch die, die einen kolossal überraschen und sie sind vielleicht diejenigen, die bei mir das größte Glück auslösen.
Dieses Erkennen der Guten ist nicht nur versöhnlich an dieser Zeit. Für mich scheint es manchmal wie ihr ganz tiefer Sinn zu sein. Uns zu zeigen, wer die Idioten sind, und wer die Guten, auf die wir wirklich bauen können, politisch und persönlich. Ich habe es hier schon mehrfach erwähnt, wie sehr ich finde, dass diese Zeit eine Zeit der Wahrheit ist. Die Masken fallen und man kann sehr vieles glasklar sehen.
Gestern Abend trat ich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen und vom Ende des nächsten Häuserblocks drang unglaublich laute Musik zu mir herüber. Als wären dort auf verschiedenen Balkonen DJs und würden für die Straße auflegen. Genau so klang es. Man hörte sehr viele Leute applaudieren und jubeln.
Später sah ich in der Instagram Story meiner Tochter, dass die DJs nicht brav auf ihren Balkonen standen, sondern auf der Straße und ich gehe davon aus, dass die Menschenansammlung, die sich dadurch ergab, in keinster Weise den Vorschriften der Ausgangssperre entsprach. Meine Tochter jedenfalls beschloss, lieber wieder nachhause und doch nicht einkaufen zu gehen. Aber was soll ich sagen? Soll ich lügen und sagen, ich find das Scheiße, dass die das gemacht haben? Oder soll ich die Wahrheit sagen, die lautet: Ich habe mich gefreut, über diesen anarchischen Akt von einigen Verantwortungslosen, und diese kurze Party in meiner Straße.
Danach war ja auch wieder Ruhe und alle brav in ihren Wohnungen. Aber Kreuzberg, die Wahrheit ist, für so etwas liebe ich Dich.
(c) Susanne Becker
Suzuki Roshi
Wenn man gegen 11 Uhr in den Wald geht, ist er noch nicht so voll.
So bevölkert wie in den letzten Wochen habe ich den Wald, glaube ich, noch nie erlebt. Ich gehe seit Jahren regelmäßig dort spazieren. Oft bin ich fast allein in manchen Ecken. Jetzt gibt es kaum eine Ecke, wo nicht irgendjemand sich häuslich eingerichtet hat. Dies wird vermutlich als Jahr in die Annalen gehen, in dem die Berliner mehr als je zuvor an der frischen Luft waren.
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Im übrigen: wer diese Bücher bislang nicht gelesen hat, vielleicht wäre jetzt der Moment dazu? Hinterher dann noch gleich die Filme angeschaut und schon haben wir wieder ein paar Tage Ausnahmezustand rum. Im Ernst: diese Bücher und Filme waren für mich während den Kindheiten meiner Töchter neben Astrid Lindgren das absolut wunderbarste. Ausdrücklich empfehlenswert!
Im Wald meinen ersten Schmetterling des Jahres gesehen. Ein Weißling. Noch gut erinnere ich mich an das letzte Jahr, als ich meinen ersten Schmetterling in der Ritterstraße sah, als ich dort mit einer Mitmutter unserer Klasse einen Kaffee auf dem Bürgersteig trank. Es war der erste milde Tag, alles war noch kahl, vor uns eine Reihe geparkter Autos, zwischen denen plötzlich etwas gelbes sich bewegte. Er kam dann sogar nochmal zurück, so als wollte er sagen: Doch, ich bins wirklich.
Kathrin und ich sprangen auf und fielen uns in die Arme und beide riefen wir: Das ist ein Zeichen. Dieses Jahr wird richtig toll werden!
Was auch stimmte. Für mich. 2019 war in vieler Hinsicht eines meiner besten Jahre.
Als ich heute den Weißling sah, packte mich die gleiche Euphorie. Fünf Minuten später kreuzte ein Zitronenfalter meinen Weg und weitere fünf Minuten später nochmal ein Weißling.
Es mag sich verrückt anhören, aber inmitten der Pandemie und all der damit verbundenen Unsicherheit und Angst spüre ich, wie gut es mir gut und ich habe keine Angst.
Ich habe noch ein weiteres Corona Tagebuch entdeckt, in dem ich jetzt manchmal lese. Es wird von Carolin Emcke in der Süddeutschen geführt. Es heißt: Corona Krise Journal in Zeiten der Pandemie und sie schreibt darin sehr viele kluge Dinge. Wie sie sich über Orbans Abschaffung des Rechtsstaats in Ungarn und Europas Nichtreaktion darauf aufregt, das ist groß. Danke!!
Sie zitiert auch Brecht. Und weil das Zitat so gut ist, will ich es Euch hier zeigen:
"Die guten Leute erkennt man daran,
dass sie besser werden,
wenn man sie erkennt. Die guten Leute
laden ein, sie zu verbessern, denn
wovon wird einer klüger? Indem er zuhört
und indem man ihm etwas sagt."
Bertolt Brecht, "Lied über die guten Leute"
Und was sie nach diesem Zitat schreibt, darüber habe ich den ganzen Spaziergang nachgedacht. Sie schreibt, dass das Versöhnliche an dieser Zeit die Tatsache ist, dass man die Guten so eindeutig erkennen kann daran, dass sie unter der Last nicht brechen, eng werden, selbstgerecht, sondern dass sie ihre Stärke zeigen und ihre Größe, ihre Verantwortung ohne großes Tamtam übernehmen, sei es als Kanzlerin oder als Kassierin im Edeka, als Krankenschwester oder Ärztin oder Nachbarin.
Sie hat recht: diese Guten zu sehen, so eindeutig zu erkennen, bei manchen wusste man es ja, bei anderen ahnte man es, aber es gibt auch die, die einen kolossal überraschen und sie sind vielleicht diejenigen, die bei mir das größte Glück auslösen.
Dieses Erkennen der Guten ist nicht nur versöhnlich an dieser Zeit. Für mich scheint es manchmal wie ihr ganz tiefer Sinn zu sein. Uns zu zeigen, wer die Idioten sind, und wer die Guten, auf die wir wirklich bauen können, politisch und persönlich. Ich habe es hier schon mehrfach erwähnt, wie sehr ich finde, dass diese Zeit eine Zeit der Wahrheit ist. Die Masken fallen und man kann sehr vieles glasklar sehen.
Gestern Abend trat ich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen und vom Ende des nächsten Häuserblocks drang unglaublich laute Musik zu mir herüber. Als wären dort auf verschiedenen Balkonen DJs und würden für die Straße auflegen. Genau so klang es. Man hörte sehr viele Leute applaudieren und jubeln.
Später sah ich in der Instagram Story meiner Tochter, dass die DJs nicht brav auf ihren Balkonen standen, sondern auf der Straße und ich gehe davon aus, dass die Menschenansammlung, die sich dadurch ergab, in keinster Weise den Vorschriften der Ausgangssperre entsprach. Meine Tochter jedenfalls beschloss, lieber wieder nachhause und doch nicht einkaufen zu gehen. Aber was soll ich sagen? Soll ich lügen und sagen, ich find das Scheiße, dass die das gemacht haben? Oder soll ich die Wahrheit sagen, die lautet: Ich habe mich gefreut, über diesen anarchischen Akt von einigen Verantwortungslosen, und diese kurze Party in meiner Straße.
Danach war ja auch wieder Ruhe und alle brav in ihren Wohnungen. Aber Kreuzberg, die Wahrheit ist, für so etwas liebe ich Dich.
(c) Susanne Becker
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