Direkt zum Hauptbereich

Corona Tagebuch (32)

Über meinem Schreibtisch hängt unter vielen anderen Fotos eines von dem großen israelischen Schriftsteller Amos Oz, dessen Buch Eine Geschichte von Liebe und Finsternis zu den besten Büchern gehört, die ich in meinem ganzen Leben gelesen habe.
Über dem Bild, das ich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten habe, steht ein Zitat von ihm aus seinem Werk "Der dritte Zustand":

"Wir sollten endlich lernen, in Übergangszuständen, die sogar viele Jahre dauern können, zu leben und zu handeln, anstatt beleidigt mit der Wirklichkeit zu spielen. Unsere mangelnde Bereitschaft, in einem offenen Zustand zu leben, unsere Sucht, sofort zur Schlusszeile überzugehen augenblicklich festzulegen, was am Ende heraus kommen soll - das sind doch die wahren Gründe für unsere politische Impotenz."
Also, wenn ich jemals ein Zitat gefunden habe, das PERFEKT auf die momentane Situation passt, dann dieses. Ein Hoch auf alle, die sich nicht hetzen lassen, sondern sich qualifiziert informieren und DANN ERST ENTSCHEIDEN. Selbst wenn es dauert. Selbst wenn es so lange dauert, dass andere schon wieder Lösungen vorschlagen, die zwar keinen Sachverstand verraten, aber immerhin ein Geschick darin, sich der öffentlichen Meinung anzubiedern oder diese zu provozieren.

Ich muss an eine Geschichte über einen Zen Lehrer denken, die ich kürzlich hörte.
Ein Schüler kam zu ihm und klagte, dass er sich absolut unsicher fühle, gefährdet, dass es in diesem Leben nichts gäbe, an dass er sich festhalten könne. Er jammerte und klagte sicherlich eine halbe Stunde lang. Der Lehrer hörte sich die Klagen des Schülers geduldig an. Als der Schüler fertig war, sah der Lehrer ihn sehr lange an, blickte ihm in die Augen und dann sagte er: "Ja, du hast absolut recht. Dieses Leben ist nirgendwo sicher. Es gibt nichts, woran wir uns festhalten können. Wir schweben ständig in allergrößter Gefahr. Du hast es verstanden."

Das Zitat von Amos Oz und diese kleine Geschichte drücken für mich das Gleiche aus. Nicht die Unsicherheit ist das Problem, sondern dass wir sie nicht akzeptieren und mit allen Mitteln versuchen, sie zu bekämpfen. Was nie zu einem endgültigen Ergebnis führen wird, sondern vielmehr das Chaos vergrößert. Denn die Unsicherheit ist ein Fakt. Auf lange Sicht wird es darum gehen, die Menschen daran zu gewöhnen, dass sie diese aushalten, lange. Dass sie nicht ungeduldig nach einer Lösung rufen, sondern Geduld entwickeln, so dass man auf die Lösung warten kann, die sich aus den Umständen und Unsicherheiten immer wie von selbst entwickelt. 

Die schlechte Nachricht ist, ich habe es jetzt doch geschafft, einen kostenlosen Probemonat bei Netflix einzurichten. OH MEIN GOTT! Das ist im Grunde mein Untergang. Ich werde nie wieder meine Couch verlassen.  Denn schon auf den ersten Blick habe ich dort so viele Serien und Dokumentationen gesehen, dass ich nicht wirklich weiß, wie ich jetzt noch Homeoffice machen soll, Spaziergänge, oder das Corona Tagebuch weiter führen kann.
Beginnen werde ich mit Unorthodox. Ich habe das gleichnamige Buch von Deborah Feldman bereits vor drei Jahren gelesen und wirklich geliebt. Sie ist eine so tolle Person und Schriftstellerin. Hier ist meine Besprechung zu dem Buch.
Ich hätte vermutlich, um mein Leben nicht zu zerstören, besser doch das Amazon Prime Abo genommen. Denn da kommt effektiv gar nichts, was mich vom Leben abhält.

Michael Müller hat angekündigt, dass Lockerungen in Berlin nicht vor dem 27. April zu erwarten sind.
In den USA sind Ivanka Trump und Jared Kushner Teil der Kommission, die dort über Lockerungen entscheiden wird. Falls sich hier nochmal jemand über Merkel oder Spahn oder Drosten aufregen mag.
Aber ich habe in den sozialen Netzwerken schon festgestellt, dass diejenigen, die das tun, Trump auch einen tollen Präsidenten finden und glauben, er hat die ganze Krise viel besser gemanagt als zum Beispiel unsere Regierung. Das klingt dann auch immer gleich so, als wäre die Krise schon vorüber. Als würden wir einfach Schulen und Geschäfte wieder öffnen, und der Corona Virus trollt sich, oder durchseucht halt endlich die Bevölkerung und wir haben Herdenimmunität. Zack. Problem gelöst. Ist doch wirklich nicht so schwierig.
Nie hätte ich gedacht, dass ich mal positiv über eine CDU-geführte Regierung denke. Aber es ist das zweite Mal. Das erste Mal war während der Flüchtlingskrise, wo ich mich rückblickend immer noch fremdschäme für all die anderen Politiker im In- und Ausland, die aus Machtgier und eiskalter Kalkulation Angela Merkel in den Rücken gefallen sind.
Ist schon klar: auch zu dieser Geschichte gibt es viele Versionen. Aber das ist meine.

Immer schön an Glasman Roshi denken: Everything is an opinion. Everything.

Eine Frau, die das Social distancing wirklich zum Lebensstil kultiviert hat, ist die amerikanische Malerin Georgia O'Keeffe. Sie ist eine meiner Lieblingskünstlerin und ihre Heimat, New Mexico, ist einer meiner Seelenorte. Ich musste heute ständig daran denken. Gerne würde irgendwann mehr Zeit dort verbringen und ich erinnerte mich gerade heute an die Zeit, die ich vor sechs Jahren dort mit meiner Tochter sein durfte, im Künstlerzentrum Herekeke. Hier ein Photo von der Umgebung. Eine so leere, so wunderschöne Landschaft, da wird Abstand halten zur selbstverständlichsten Sache der Welt.
Sehnsucht nach New Mexico, Georgia O'Keeffe Land

Die gute Nachricht für heute: In meinem Supermarkt in Treptow gab es zum ersten Mal seit ungefähr fünf Wochen Toilettenpapier, als ich dort war. Ich habe natürlich SOFORT ein Zehnerpack gekauft, obwohl ich noch fünf Rollen zuhause habe. Normalerweise warte ich damit, bis ich auf zwei Rollen runter bin. Aber ehrlich gesagt ist mir das im Moment zu heikel. Eine Nachricht im Sinne von: die Infiziertenzahlen steigen, die Ausgangssperre muss strenger gehandhabt werden und schwupps, gibt es wieder wochenlang kein Papier.

Dann bekam ich noch eine Nachricht von einer Freundin. Sie ist kurz vor der Ausgangssperre, als die Grenzen noch offen waren, nach Frankreich gefahren. Dort ist sie immer noch. In dem Haus einer Freundin, irgendwo in der totalen Einsamkeit und pflanzt Bäume auf deren Grundstück.
Das war eigentlich das Schönste, was ich heute gehört habe. Meine Freundin ist in Frankreich und pflanzt Bäume und lässt sich null stressen. Sie hat sowieso kaum Internet. Es geht ihr wunderbar und sie tut in diesem ganzen Wahnsinn sehr viel für unser Klima. Das hat mich glücklich gemacht.

Schlaft gut, bleibt gesund, haltet Abstand, ragazzi und companeras. 💚💚💚🌳🌳🌳
May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bü...

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer ...

Gedanken zu dem Film Corsage von Marie Kreutzer mit Vicky Krieps

  When she was home, she was a swan When she was out, she was a tiger. aus dem Song: She was von Camille   (s.u.) Ich kenne so viele Frauen, die sich ein Leben lang nicht finden, die gar nicht dazu kommen, nach sich zu suchen, die sich verlieren in den Rollen, die die Welt ihnen abverlangt.  Es gibt so viele Orte, an denen Frauen nicht den Schimmer einer Wahl haben, zu entscheiden, wie sie leben, wer sie sein möchten. Diese Orte werden mehr. Orte, an denen Frauen einmal ein wenig freier waren, gehen uns wieder verloren. Die meisten Frauen leben gefährlich. Gefährlicher als Soldaten in Kriegen.  Aber dennoch hatte ich kein Mitleid mit der Kaiserin, den ganzen Film über nicht ein einziges Mal, weil sie eigentlich nicht als sympathische Person gezeigt wurde. Was ich gut fand. Denn welche Frau kann sich etwas davon kaufen, dass sie bemitleidet wird? Elisabeth ist in diesem Film selbstzentriert, rücksichtslos, narzisstisch. Besessen von ihrem Körper, seinem Gew...