Instructions for living a life.
Pay attention.
Be astonished.
Tell about it.
Mary Oliver
Ich habe heute insgesamt drei Menschen mit einem Mundschutz gesehen. Sowie einen Menschen mit einem Eimer auf dem Kopf. Kein Witz. Es war ein grasgrüner Eimer und auf Augenhöhe war ein viereckiges Loch herausgeschnitten, in das eine verspiegelte Scheibe eingesetzt war. Also eine Art Spiegelsonnenbrille, so dass man seine Augen nicht sehen konnte. Der Mensch trug auch grasgrüne Gummihandschuhe. Da ich sein Gesicht ja nicht sehen konnte, kann ich jetzt nicht sagen: War er ein Aktionskünstler? Fand er die Sache selbst witzig oder meinte er sie ernst? Macht er sich lustig? Oder ist er jemand, der vollkommen auf Nummer Sicher gehen wollte, also im Grunde vielleicht etwas paranoid ist? Ein normaler Berliner, verrückt, wie sie hier nunmal sind? Er/Sie stand am Humana am Frankfurter Tor (dort hat Esty sich in Unorthodox ihre erste Jeans gekauft) an einer Fußgängerampel und wartete auf Grün. Mehr weiß ich nicht.
Was wirklich gut ist an dieser sogenannten Corona Krise: Ich entdecke Viertel und Straßen von Berlin, da war ich in den ganzen fünfundzwanzig Jahren, die ich jetzt hier wohne, noch nie vorher. Und man hat diese Orte praktisch für sich. Denn es gibt ja keine Touristen momentan in der Stadt. Das ist verrückt, weil man sonst die besonderen, die bekannten, die sehr schönen Orte als Berliner, wie auch als Bewohnerin anderer bekannter Städte, niemals für sich hat. Kein Pariser hat je den Montmartre für sich, kein Lissaboner die Alfama, kein Berliner das Brandenburger Tor oder Kreuzberg.
Mehrmals in der Woche laufe oder radele ich einfach los. Ich lasse mich treiben und sehe, wo ich lande. Manchmal habe ich ein Ziel oder die jüngere Tochter im Schlepptau, manchmal bin ich alleine und habe kein Ziel.
Es ist jedes Mal, als wäre ich in einer vollkommen fremden Stadt unterwegs. Denn selbst die Viertel und Straßen, die ich von früher kenne, teilweise gut kenne, sehen anders aus ohne die vielen Menschen. Die Touristen zum Beispiel, die normalerweise Mitte bevölkern, schienen so selbstverständlich ins Stadtbild zu gehören. Plötzlich ist dort alles leer. Manchmal wirkt es beinahe gespenstisch.
Nachdem ich gestern Abend die Netflix Serie Unorthodox beendet habe, die ja in Berlin gedreht wurde, unter anderem auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee, der der größte noch erhaltene jüdische Friedhof Europas ist, bin ich heute dorthin geradelt.
Natürlich hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass heute Samstag, und also Schabbat ist und der Friedhof geschlossen sein würde.
Aber er ist gar nicht so weit weg, wie ich immer dachte. Das heißt, ich werde morgen noch einmal hinfahren und hoffe, Euch dann ein paar Photos zeigen zu können.
Am Tor hing ein Aushang der Berliner Polizei, die um Mithilfe bat bei der Suche nach denjenigen, die über einen längeren Zeitraum hinweg in 2019 Gräber dort geschändet haben.
Heute sind 47 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus den Lagern in Griechenland in Hannover gelandet.
In Berlin gab es wieder eine Demo gegen die Freiheitsbeschränkungen wegen Corona. Circa 100 Demonstranten.
In der Zeit las ich heute ein Gespräch mit der Künstlerin Katharina Grosse, die gerade an einer Ausstellung für den Hamburger Bahnhof arbeitet. Eigentlich soll sie Ende April eröffnet werden.
In dem Gespräch sagte sie: "Das ist das Interessante an dem momentanen Zusammenbruch der Strukturen im Kunstbetrieb, er generiert das Moment eines weißen Blatts Papier."
Diese Aussage hat mich sehr berührt, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass ich die ganze Zeit noch um das weiße Blatt herum tänzele und tief innerlich immer noch denke, es hört jetzt bald auf und wird dann wieder wie vorher. Diese Radikalität, wirklich zu sehen: es ist etwas vorbei und das Alte loszulassen, die habe ich mir in den vergangenen sieben Wochen (SIEBEN WOCHEN sind das jetzt schon, und sie sind geflogen, sie kommen mir vor wie höchstens zwei Wochen, gehts Euch auch so?) nicht gestattet. Interessant ist die Frage: Warum? Warum habe ich es mir nicht gestattet und ich denke, ich werde darüber noch eine Weile nachdenken müssen.
Dies ist jetzt ein weißes Blatt, nicht nur für den Kunstbetrieb, sondern für jeden einzelnen Betrieb, jeden einzelnen Menschen. Das kann ein großer Verlust sein, oder eine immense Chance. Eine Bewertung kann ja nur abhängen von der je individuellen Situation.
Eine meiner Kolleginnen wird aufhören, bei uns zu arbeiten und nach Frankreich aufs Land ziehen.
Meine Freunde in Amerika haben Angst, bald in einem faschistischen Staat zu leben, Angst, dass sie ihr gesamtes Leben dort, alles, was sie sich aufgebaut haben, verlieren werden.
47 Kinder aus griechischen Lagern beginnen heute ein neues Leben hier. Möge es gut werden. Mögen wir sie gut behandeln. Mögen wir bald 4700 weitere nachholen. Wir sind immer noch ein reiches Land und offensichtlich eines, das bedrohliche Dinge gut im Griff hat. Dennoch laufen bei uns Typen rum, die es toll finden, jüdische Gräber zu schänden.
Dies ist ein weißes Blatt. Für uns alle. Was machst du damit? Katharina Grosse sagte auch noch: "Die jetzige Erfahrung ist eine, die keine Referenz hat." Auch das klang sofort in mir nach. Denn so konkret hatte ich es mir noch nie vor Augen geführt, auch wenn ich es theoretisch weiß: Es gibt in meinem ganzen Leben keine Situation, die dieser hier auch nur entfernt ähnelt. Im Grunde ist alles vollkommen neu. Ich kann mich auf nichts beziehen, sondern muss mich in die Leere dieses Neuen stellen, diese Leerstelle gestatten, damit sie sich füllen kann mit etwas, das wahr und richtig ist für diese Situation. Das kann gar nicht von Heute auf Morgen gehen, weil ich mich nicht an etwas schon Vertrautem, an einer Routine, orientieren kann. Ich muss die Leere wirklich durchdringen und aufrechterhalten. Sie mit übermäßigem Aktionismus gleich wieder zu füllen, wäre falsch.
In den letzten Tagen merke ich, wie die Menschen um mich herum müder werden, lustloser, erschöpfter. Die Ungewissheit zehrt an allen. Die Ansteckungsgefahr in Deutschland ist derzeit so gering und dennoch müssen wir den Großteil der Maßnahmen beibehalten. Vor sieben Wochen war ich davon ausgegangen, dass diese "Unfreiheit" enden würde, sobald die Ansteckungsgefahr praktisch gebannt ist. Langsam geht mir auf, dass diese Unfreiheit noch lange dauern wird, dass sie mein Leben prägt, ab jetzt, denn die Ansteckungsgefahr kann nicht gebannt sein. Es gibt dafür keinen schnellen Weg. Dagegen kann man natürlich demonstrieren. Aber es nützt nichts. Ein Virus lässt sich davon nicht beeindrucken.
Zum Abschluss noch eine weitere Stelle aus einem Mary Oliver Gedicht. Sie ist und bleibt eine meiner liebsten Dichterinnen.
"Someone I loved once gave me
a box full of darkness.
It took me years to understand
that this, too, was a gift."
Ja, auch das Traurige, das Schwere, das Dunkle sind Geschenke.
In diesem Sinne: Schlaft gut, bleibt gesund und May the force be with you 💪
(c) Susanne Becker
Pay attention.
Be astonished.
Tell about it.
Mary Oliver
Ich habe heute insgesamt drei Menschen mit einem Mundschutz gesehen. Sowie einen Menschen mit einem Eimer auf dem Kopf. Kein Witz. Es war ein grasgrüner Eimer und auf Augenhöhe war ein viereckiges Loch herausgeschnitten, in das eine verspiegelte Scheibe eingesetzt war. Also eine Art Spiegelsonnenbrille, so dass man seine Augen nicht sehen konnte. Der Mensch trug auch grasgrüne Gummihandschuhe. Da ich sein Gesicht ja nicht sehen konnte, kann ich jetzt nicht sagen: War er ein Aktionskünstler? Fand er die Sache selbst witzig oder meinte er sie ernst? Macht er sich lustig? Oder ist er jemand, der vollkommen auf Nummer Sicher gehen wollte, also im Grunde vielleicht etwas paranoid ist? Ein normaler Berliner, verrückt, wie sie hier nunmal sind? Er/Sie stand am Humana am Frankfurter Tor (dort hat Esty sich in Unorthodox ihre erste Jeans gekauft) an einer Fußgängerampel und wartete auf Grün. Mehr weiß ich nicht.
Was wirklich gut ist an dieser sogenannten Corona Krise: Ich entdecke Viertel und Straßen von Berlin, da war ich in den ganzen fünfundzwanzig Jahren, die ich jetzt hier wohne, noch nie vorher. Und man hat diese Orte praktisch für sich. Denn es gibt ja keine Touristen momentan in der Stadt. Das ist verrückt, weil man sonst die besonderen, die bekannten, die sehr schönen Orte als Berliner, wie auch als Bewohnerin anderer bekannter Städte, niemals für sich hat. Kein Pariser hat je den Montmartre für sich, kein Lissaboner die Alfama, kein Berliner das Brandenburger Tor oder Kreuzberg.
Mehrmals in der Woche laufe oder radele ich einfach los. Ich lasse mich treiben und sehe, wo ich lande. Manchmal habe ich ein Ziel oder die jüngere Tochter im Schlepptau, manchmal bin ich alleine und habe kein Ziel.
Es ist jedes Mal, als wäre ich in einer vollkommen fremden Stadt unterwegs. Denn selbst die Viertel und Straßen, die ich von früher kenne, teilweise gut kenne, sehen anders aus ohne die vielen Menschen. Die Touristen zum Beispiel, die normalerweise Mitte bevölkern, schienen so selbstverständlich ins Stadtbild zu gehören. Plötzlich ist dort alles leer. Manchmal wirkt es beinahe gespenstisch.
Foto vom Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße, aufgenommen im November 2017 |
Nachdem ich gestern Abend die Netflix Serie Unorthodox beendet habe, die ja in Berlin gedreht wurde, unter anderem auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee, der der größte noch erhaltene jüdische Friedhof Europas ist, bin ich heute dorthin geradelt.
Natürlich hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass heute Samstag, und also Schabbat ist und der Friedhof geschlossen sein würde.
Aber er ist gar nicht so weit weg, wie ich immer dachte. Das heißt, ich werde morgen noch einmal hinfahren und hoffe, Euch dann ein paar Photos zeigen zu können.
Am Tor hing ein Aushang der Berliner Polizei, die um Mithilfe bat bei der Suche nach denjenigen, die über einen längeren Zeitraum hinweg in 2019 Gräber dort geschändet haben.
Heute sind 47 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus den Lagern in Griechenland in Hannover gelandet.
In Berlin gab es wieder eine Demo gegen die Freiheitsbeschränkungen wegen Corona. Circa 100 Demonstranten.
In der Zeit las ich heute ein Gespräch mit der Künstlerin Katharina Grosse, die gerade an einer Ausstellung für den Hamburger Bahnhof arbeitet. Eigentlich soll sie Ende April eröffnet werden.
In dem Gespräch sagte sie: "Das ist das Interessante an dem momentanen Zusammenbruch der Strukturen im Kunstbetrieb, er generiert das Moment eines weißen Blatts Papier."
Diese Aussage hat mich sehr berührt, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass ich die ganze Zeit noch um das weiße Blatt herum tänzele und tief innerlich immer noch denke, es hört jetzt bald auf und wird dann wieder wie vorher. Diese Radikalität, wirklich zu sehen: es ist etwas vorbei und das Alte loszulassen, die habe ich mir in den vergangenen sieben Wochen (SIEBEN WOCHEN sind das jetzt schon, und sie sind geflogen, sie kommen mir vor wie höchstens zwei Wochen, gehts Euch auch so?) nicht gestattet. Interessant ist die Frage: Warum? Warum habe ich es mir nicht gestattet und ich denke, ich werde darüber noch eine Weile nachdenken müssen.
Dies ist jetzt ein weißes Blatt, nicht nur für den Kunstbetrieb, sondern für jeden einzelnen Betrieb, jeden einzelnen Menschen. Das kann ein großer Verlust sein, oder eine immense Chance. Eine Bewertung kann ja nur abhängen von der je individuellen Situation.
Eine meiner Kolleginnen wird aufhören, bei uns zu arbeiten und nach Frankreich aufs Land ziehen.
Meine Freunde in Amerika haben Angst, bald in einem faschistischen Staat zu leben, Angst, dass sie ihr gesamtes Leben dort, alles, was sie sich aufgebaut haben, verlieren werden.
47 Kinder aus griechischen Lagern beginnen heute ein neues Leben hier. Möge es gut werden. Mögen wir sie gut behandeln. Mögen wir bald 4700 weitere nachholen. Wir sind immer noch ein reiches Land und offensichtlich eines, das bedrohliche Dinge gut im Griff hat. Dennoch laufen bei uns Typen rum, die es toll finden, jüdische Gräber zu schänden.
Dies ist ein weißes Blatt. Für uns alle. Was machst du damit? Katharina Grosse sagte auch noch: "Die jetzige Erfahrung ist eine, die keine Referenz hat." Auch das klang sofort in mir nach. Denn so konkret hatte ich es mir noch nie vor Augen geführt, auch wenn ich es theoretisch weiß: Es gibt in meinem ganzen Leben keine Situation, die dieser hier auch nur entfernt ähnelt. Im Grunde ist alles vollkommen neu. Ich kann mich auf nichts beziehen, sondern muss mich in die Leere dieses Neuen stellen, diese Leerstelle gestatten, damit sie sich füllen kann mit etwas, das wahr und richtig ist für diese Situation. Das kann gar nicht von Heute auf Morgen gehen, weil ich mich nicht an etwas schon Vertrautem, an einer Routine, orientieren kann. Ich muss die Leere wirklich durchdringen und aufrechterhalten. Sie mit übermäßigem Aktionismus gleich wieder zu füllen, wäre falsch.
In den letzten Tagen merke ich, wie die Menschen um mich herum müder werden, lustloser, erschöpfter. Die Ungewissheit zehrt an allen. Die Ansteckungsgefahr in Deutschland ist derzeit so gering und dennoch müssen wir den Großteil der Maßnahmen beibehalten. Vor sieben Wochen war ich davon ausgegangen, dass diese "Unfreiheit" enden würde, sobald die Ansteckungsgefahr praktisch gebannt ist. Langsam geht mir auf, dass diese Unfreiheit noch lange dauern wird, dass sie mein Leben prägt, ab jetzt, denn die Ansteckungsgefahr kann nicht gebannt sein. Es gibt dafür keinen schnellen Weg. Dagegen kann man natürlich demonstrieren. Aber es nützt nichts. Ein Virus lässt sich davon nicht beeindrucken.
Zum Abschluss noch eine weitere Stelle aus einem Mary Oliver Gedicht. Sie ist und bleibt eine meiner liebsten Dichterinnen.
"Someone I loved once gave me
a box full of darkness.
It took me years to understand
that this, too, was a gift."
Ja, auch das Traurige, das Schwere, das Dunkle sind Geschenke.
In diesem Sinne: Schlaft gut, bleibt gesund und May the force be with you 💪
(c) Susanne Becker
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