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Corona Tagebuch (37)

"Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte..." Heinrich Heine

Heute wurde in virtuellem oder in kleinem Kreis stattfindenden Gedenkzeremonien der Befreiung der KZs, unter anderem Ravensbrück, Sachsenhausen und Bergen-Belsen vor 75 Jahren gedacht.
Als wir noch regelmäßig in die Uckermark fuhren, nach Lychen, war das KZ Ravensbrück, ein Frauen KZ, sehr nah und ich bin mehrfach hingefahren. Es war ein so absurd friedlicher Ort und gleichzeitig hatte man das Gefühl, von tausend Seelen und Geistern umschwirrt zu werden.
Die sehr hübschen Häuser der Aufseherinnen und ihrer Familien waren direkt vis à vis, also ihre Gärten waren so nah am Tor des KZs, dass sie nach Feierabend mit ihren Kindern zu ihrem Arbeitsplatz herüber schauen und das Schreien oder Stöhnen der Gefangenen hören konnten. Es gab eine Ausstellung über diese Aufseherinnen, die ich mehrfach besuchte. Denn die Frage ließ mich nie los, wie man als Mutter so grausam sein konnte. Wie erklärte man seinen Kindern diese Grausamkeit? Oder wie verdrehte man die Realität, damit diese Grausamkeit wie Normalität wirkt?
Wenn ich mir vieles anschaue, was heute geschieht, kann ich diese Frage langsam besser beantworten. Seitdem es Fake News und Alternative Fakten gibt, kann ich mir immer besser vorstellen, wie schnell man in einem Paralleluniversum lebt, in dem Tote oder Gequälte nichts sind, was einen groß beunruhigt im eigenen Vorgarten.

Eingangsbereich des Jüdischen Friedhofs Weißensee , Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus
1992 wurde vor dem Grabstein eine Urne mit der Asche ermordeter Juden aus Auschwitz beigesetzt

Heute war ich also auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Es ist einer der schönsten Orte hier in Berlin, die ich kenne. Auch dort ein unglaublicher Friede, gleichzeitig nicht, denn auch dort ist man umgeben von Tausenden von Geistern und Seelen, die zu einem sprechen.
Ich stand am Grab des Schriftstellers Stefan Heym. Ich stand am Grab von Laura Perls, das Ludwig Mies van der Rohe gestaltet hat. Ich stand am Grab von unzähligen Menschen, von denen ich noch nie zuvor gehört habe. Namen wie Löwenstein, Freudenthal, Levy, Schapiro, Blumenstein las ich. Aber auch Becker. Wie wichtig ist es, sich zu erinnern? Auf dem Friedhof gibt es viele Gräber aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Aber es gibt auch neue Gräber. Auf ihnen arbeiteten Menschen. Sie harkten und pflanzten und gossen. Die Männer trugen Kippas oder Mützen oder Kappen. Männer müssen auf dem jüdischen Friedhof ihren Kopf bedecken. Das steht auf einer großen Tafel am Tor. Am Eingang liegt ein kleiner Korb mit Kippas für jeden, der keine Bedeckung dabei hat.
Natürlich liefen Männer herum, die scheinbar das große Schild am Eingang einfach nicht gelesen hatten, oder denen es egal war. Die ihren Kopf also nicht bedeckt hatten. Irgendwie lösten sie in mir ähnliche Gefühle aus wie die Touristinnen in der Türkei, die im Bikini im Supermarkt herum liefen. Es nervt mich so unglaublich, wenn Menschen vollkommen respektlos ihrer Umgebung gegenüber, den Gefühlen der Menschen dort, durch die Gegend trampeln. Kann man das vergleichen?


Im Eingangsbereich sind Gedenksteine für 20  KZs, 


Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte

Der Friedhof wurde 1880 angelegt. Für die überwältigende Mehrzahl der Gräber, die vor 1945 entstanden, gibt es keine Nachfahren. Sie wurden alle im Holocaust ausgelöscht oder haben Deutschland verlassen. Deshalb ist dieser Friedhof eine riesige Landschaft des Erinnerns. Wir wissen, dass die vom Efeu überwucherten Gräber anders aussähen, wenn die Familien nicht getötet oder vertrieben worden wären. Die Jüdische Gemeinde pflegt den Friedhof, so gut es geht. Aber gerade diese Aura von Verfall ist es auch, die einen niemals vergessen lässt und die diesen Friedhof zu einem Ort der Ewigkeit macht.



Morgen beginnt für die jüngere Tochter die Schule nach den Osterferien. Das Thema ist der Nationalsozialismus. Sie werden sich morgen mit ihren Lehrerinnen per Zoom treffen und Informationen bekommen. Heute kamen schon zwanzig Blätter mit weiteren Informationen und Aufgaben, die sie selbständig im Laufe der Woche abarbeiten sollen. Am Freitag gibt es wieder Zoom, aber in Kleingruppen, wo man über die Arbeit sprechen kann miteinander. So wird das jetzt die gesamte Epoche über gehen. Ich finde die Lösung den Umständen entsprechend wirklich großartig und bin gespannt, wie meine Tochter damit klar kommen wird. Aber für ein solches Thema wäre es so immens wichtig, zusammen zu kommen, Orte hier in Berlin gemeinsam zu besuchen, miteinander sprechen zu können, diskutieren, betroffen sein, gemeinsam.

Was sonst heute so war: Telefonat mit meinem Freund im Burgenland. Er hat mir eine neue Serie auf Netflix empfohlen. Midnight Diner: Tokyo Stories. Ich habe rein geschaut und beschlossen, sie mir einzuverleiben. Werde heute Abend damit beginnen.

Die Schüler der Stufen 9 und 10 in Nordrhein Westfalen müssen ab, ich glaube, Donnerstag wieder in die Schule, aber sie protestieren dagegen. Ihr Argument ist: Wir können doch nicht die Versuchskarnickel sein und dann womöglich unsere Familien anstecken.
Ein ähnliches Gespräch hatte ich auch schon mit einer Berliner Mutter, deren Tochter ab dem 27. wieder zur Schule soll, da sie Zehntklässlerin ist.
Es muss sowieso unglaublich merkwürdig sein, nach so einer langen Pause in eine völlig andere, weil leere Schule zurück zu kehren. Nur die eigene Stufe ist dort und muss ja, aufgrund der Abstandsregeln, in Kleingruppen aufgeteilt unterrichtet werden. Ich bin wahrscheinlich naiv: Aber wenn es schon bei normalen Klassen Lehrermangel gab, wie sollen dann noch weniger Lehrer*innen noch mehr Gruppen gleichzeitig adäquat unterrichten? Denn alle Lehrer*innen, die zur Risikogruppe gehören oder Familienangehörige haben, die dazu gehören, dürfen ja nicht unterrichten, was klar ist.

Mein Bruder hat mir mal wieder einen Edelstein der Konzertfilme zugesandt: Die Rolling Stones in Havanna, 2016. Havana Moon. Eigentlich bin ich kein Stones Fan, aber dieses Konzert gibt Gänsehaut, von Anfang bis Ende.

Ich lese gerade etwas leichtes, weil ich merkte, dass ich es nicht schaffe, beim Lesen groß zu denken in den letzten Tagen. Meine Tage werden immer voller, habe ich das Gefühl. Ich stehe auf und schwupps, ist es 20 Uhr. Wenn ich dann im Bett liege und das Buch, das ich lese, ist kompliziert, schlafe ich nach zwei Seiten ein.
Wunderlich fährt nach Norden allerdings ist gar nicht kompliziert, sondern verzaubert einen so ein bisschen. Ein Buch über einen, der sich selbst für den unglücklichsten Menschen überhaupt hält und als ihn seine Freundin auch noch verlässt, wird es noch schlimmer. Aber dann beginnt sein Handy mit anonymen SMS, mit ihm zu kommunizieren und setzt ihn in Bewegung Richtung Norden, wo er unter anderem Finke und Toni trifft. Aber lest selbst. Marion Brasch stammt übrigens aus der berühmten Brasch Familie, über die es ja auch eine spannende Doku gibt: Familie Brasch Man kann ihn bei Amazon Prime für, ich glaube, schlappe 4,99 anschauen. Lohnt sich!

Ihr Lieben, ich wünsche Euch einen guten Wochenstart morgen, bleibt weiterhin gesund, haltet Abstand, werdet nicht übermütig, nur weil Ikea jetzt wieder aufmacht. Merkt Euch: WIR GEHEN NICHT INS BÄLLEBAD!!!!!
Man kann, ich besprach es am Telefon mit meiner Schwägerin, seine Kerzen und Gläser auch in kleinen Geschäften kaufen. Da freuen sich die durch die Krise geschüttelten Besitzer*innen und auch, wenn die Sachen sicher ein bisschen teurer sind als beim Schweden, sind sie origineller.
Denn jaaaaa, morgen machen die kleinen Läden wieder auf. Da können wir nachschauen gehen, welche es noch gibt und endlich wieder unser Geld ausgeben.🙏🙋💜

Ragazzi und Companeras, passt auf Euch auf!! May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker


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