Direkt zum Hauptbereich

Corona Tagebuch (33)

"Im Grunde weiß jeder, dass vor allem das, was nicht passiert ist, unser Leben prägt; diese Tatsache sollte man weder beschönigen noch bestreiten, denn ohne Enttäuschungen gäbe es wohl keinen Anlass zum Tagträumen mehr."

Dies ist ein Zitat aus dem Buch Teich von Claire-Louise Bennett. Ich habe es auf diesem Blog einmal besprochen. Es ist eine ideale Lektüre für jetzt. Denn in diesem Buch lebt eine Frau zurück gezogen in einem Cottage in Irland und schreibt ihre Gedanken auf. Falls Ihr ein Buch sucht, dies wäre ein Tipp von mir.

Heute ist der vierzigste Todestag von Jean Paul Sartre.
Es gibt so viele Zitate von ihm, die derzeit passend sind: "Die Hölle, das sind die anderen."
"Mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus." Undsoweiter.

Für mich war Sartre ein regelrechtes Erweckungserlebnis, als ich ihm zum ersten Mal im Philosophieunterricht in der 11. Klasse begegnete.
Durch ihn verstand ich, dass ich absolut frei bin und jede meiner Entscheidungen selbst treffen darf und muss.
Das klingt so simpel. Aber im Grunde ist es eine sehr komplizierte Sache, die ich bis heute nicht wirklich beherrsche. Immer noch mache ich gerne andere für mein Leben verantwortlich. Immer noch drücke ich mich vor Entscheidungen.

Michael Stipe ist Klimaaktivist. Ich wusste es nicht. Ich war immer R.E.M. Fan. Habe die Band sogar einmal in Köln live gesehen. Ich war immer verknallt in Michael Stipe, obwohl mir irgendwann jemand erzählte, er sei schwul. Das war mir egal. Ich war trotzdem in ihn verknallt. In dem kurzen Clip sagt er für mich das, was die Zeit gerade auch sagt: Der Kapitalismus ist am Ende. Vor allem jener männliche Kapitalismus, dem es nur darum geht, Geld zu verdienen, Macht zu bekommen und dem es vollkommen egal ist, ob er diesen Planeten dabei zerstört.
Ja, der Kapitalismus ist am Ende, aber ich glaube, er weiß es nicht. Dass er es nicht weiß, macht mir Angst. Ich denke, wir befinden uns an einer Scheidelinie. Es wird sich vieles entscheiden in den nächsten Wochen und Jahren. Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich diesbezüglich sehr optimistisch wäre.

Ab dem 20. April sollen also Geschäfte langsam wieder öffnen. Ich muss sagen, es freut mich für all die kleinen Geschäfte. Heute war ich mit der jüngeren Tochter in Schöneberg. Dort gibt es, vor allem in der Goltzstraße, so viele Geschäfte, die wunderschöne Dinge verkaufen und bei denen wir uns fragten, ob sie jemals wieder öffnen werden.
Ich habe einen Cortado im Café ? auf der Goltzstraße getrunken. Also, Versprecher! Natürlich habe ich den Cortado an der Tür gekauft und auf dem Bürgersteig getrunken. So wie mindestens sechs andere Kunden. Alle mit gebührendem Abstand. Einer sagte: Das hier ist der beste Kaffee in Berlin. Ich war jetzt eine Woche nicht hier und hatte regelrechte Entzugserscheinungen.
Überall, vor allen Cafés und offenen kleinen Imbissen, waren Schlangen. Auf allen Bürgersteigen Schlangen von Leuten, immer 1,5 bis 2 Meter Abstand. Beim dm auf der Hauptstraße standen mindestens zehn Leute draußen.
Bei Vanille & Marille (ja, genau, die gibt es auch in Schöneberg) standen auch zehn Leute. Wir haben uns trotzdem angestellt. Bestes Eis!
Ich mag Schöneberg. Es ist ein wunderschöner Stadtteil und doch reibe ich mich auch regelmäßig daran.
Schöneberg war der Stadtteil, in dem ich nach meinem Umzug aus Köln zuallererst in Berlin gewohnt habe, über ein Jahr, im Bayerischen Viertel. Ich empfand die Gegend damals als relativ engstirnig. Obwohl sie sich sehr locker gibt. Das mag daran liegen, dass unsere Nachbarn im Haus irgendwann zu dem Schluss kamen, meine Mitbewohnerin und ich seien Prostituierte. Sie machten das an drei Tatbeständen fest: 1. wir hatten Herrenbesuche, teilweise auch nachts, teilweise hatten diese Männer Schlüssel, 2. in unserer Wohnung brannte die ganze Nacht über rotes Licht. 3. ich ging zu ungewöhnlichen Zeiten zur Arbeit, also nachts oder auch sehr früh morgens.
Sie teilten mir diese Beobachtungen eines Tages im Hof mit, als sie mich zu dritt umzingelten und mit der Bemerkung schlossen: "Hätten wir das gewusst, so jemand wie Sie hätte hier niemals eine Wohnung bekommen in unserem anständigen Haus. Und Ihr Fahrrad stellen Sie auch immer falsch ab."

Wir zogen dann auch sehr schnell dort aus, weil ich nicht nach Berlin gekommen war, um spießiger zu leben, als ich es jemals in meiner rheinischen Heimat getan hatte.

Heute beobachtete ich ein Pärchen in der Nähe des Winterfeldtmarktes, welches die Polizei darauf aufmerksam machte, dass sich ein paar Meter weiter vor einem Laden nicht an die Abstandsregeln gehalten würde. Dieses Pärchen sah total normal aus. Nett sogar irgendwie. Sie hatten einen lustigen Hund. Wahrscheinlich eine sehr geschmackvoll eingerichtete Altbauwohnung. Aber sie benahmen sich wie Blockwarte.  Es war wie ein Dejà Vu. Ich fühlte mich plötzlich wieder fünfundzwanzig Jahre zurück versetzt. Vorher hatte ein ebenfalls vollkommen normal aussehender Mann meine Tochter angebrüllt, als sie niesen musste: Na bravo, ganz toll. Bravo!
Er war so sichtlich entrüstet. Fünfzig Meter entfernt von uns, weit und breit kein anderer Mensch, aber er hätte meiner Tochter sehr gerne verboten zu niesen.

Vor uns ging ein Pärchen auf dem Bürgersteig. Der Mann sagte zu der Frau: Irgendwie erinnert mich das alles an die Zeit, als alle so hysterisch wegen Aids waren, erinnerst Du Dich noch?
Sie war zu jung. Sie erinnerte sich nicht.
Aber ich erinnerte mich sofort.
Risikogruppen wegsperren, alles nur noch mit Handschuhen anfassen, jeden anderen als potenziellen Krankheitsüberträger = Todbringer fürchten.
Ich habe am Anfang meiner Berliner Zeit eine Weile bei der Aidshilfe am Beratungstelefon gearbeitet. Die Leute dachten wirklich, sie könnten sich an einer Türklinke mit HIV infizieren.

Heute bekam ich eine tolle Postkarte. Darauf stand: Nach der Pest ein Fest.
Es war eine Einladung zu einem Fest in München bei einem sehr guten, alten Freund. Ende Mai. "Sagt zu. Absagen könnt ihr immer noch." Stand auch noch darauf.
Ich habe erstmal zugesagt. Er hat ja recht. Absagen kann ich immer noch.

Als wir das letzte Mal in München waren, Juli 2019, so viele Menschen
Und die Vorstellung, Ende Mai für 2 Tage zu einem Fest nach München zu fahren, sie macht mich gerade irre glücklich. 🍷🍸🍹
Ich reise einfach zu gerne 🚊

Ihr Lieben, bleibt gesund, umarmt keine Fremden, niest nicht in Schöneberg (oder sonstwo) und bleibt optimistisch. May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker






Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso